Deutschland ist zu dick. Knapp die Hälfte der Frauen, zwei Drittel der Männer und jedes sechste Kind sind übergewichtig. Jeder vierte Erwachsene und jeder zehnte Jugendliche sogar krankhaft. Deswegen bekommen zum Beispiel den Krankenkassen zufolge immer mehr Menschen Diabetes Typ 2 (im Folgenden nicht ganz korrekt Diabetes genannt), auch Kinder: Seit 1998 gibt es laut der Deutschen Diabetes Hilfe 24 Prozent mehr Diabetiker. Aktuell sind es 6 Millionen. Deshalb sind sich alle einig: Wir müssen uns gesünder ernähren.
Ja, das ist schon lange nichts Neues mehr. Und genau das ist ein Skandal. Denn warum sind krankhaftes Übergewicht und Diabetes eigentlich immer noch so stark verbreitet? Wir haben uns doch schon jahrelang vorgenommen, endlich gesünder zu essen.
Sich auf dieses Ziel festzulegen, ist ziemlich leicht – auch für die Lebensmittelindustrie. Essen verkauft sich besser, wenn es den Anschein erweckt, gesund zu sein. Ob es allerdings auch wirklich gesund ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Und hoffentlich demnächst auf ganz vielen Verpackungen.
Julia Klöckner, die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, verkündete Ende September 2019, dass nach den Ergebnissen einer Bürger:innen-Befragung der sogenannte Nutri-Score im Jahr 2020 eingeführt werden soll. Der Nutri-Score ist eine Nährwertkennzeichnung, die mit den Ampelfarben von grün (gesund) bis rot (ungesund) arbeitet. Das Besondere: Gesunde und ungesunde Inhaltsstoffe werden gegeneinander verrechnet, sodass der Nutri-Score nicht nur informiert, sondern auch die Zusammensetzung des Produkts bewertet. Praktisch würde das zum Beispiel bedeuten, dass Vollkornfischstäbchen ein grünes A tragen, weil sie weniger Zucker, Fette und Salz enthalten als Backfischstäbchen, die ein gelbes C bekommen.
Quelle: Verbraucherzentrale Hamburg
Klöckner freut sich über das Ergebnis: „Das ist ein Meilenstein in der Ernährungspolitik“, sagte sie auf der Pressekonferenz zur Einführung des Nutri-Scores. Fairerweise muss man sagen: Stimmt, das ist ein Fortschritt. Aber trotzdem hat die Lobby der Lebensmittelindustrie damit wieder ihr wichtigstes Ziel erreicht: Transparenz bleibt freiwillig. Ob ihre Produkte Dickmacher enthalten und in welcher Konzentration – und wie das jeweils zu bewerten ist – können die Unternehmen zwar angeben, müssen sie aber nicht. Das heißt, ob die Lebensmittel wirklich so gesund sind wie behauptet, können wir Verbraucher:innen immer noch nicht sicher überprüfen. Einzige Vorgabe: Hersteller müssen alle ihre Produkte mit dem Nutri-Score kennzeichnen – oder keins. Das heißt, Rosinenpickerei wird ausgeschlossen.
Julia Klöckner bekommt viel Lob dafür, dass sie den Nutri-Score einführt, zum Beispiel von Ärzt:innen. Aber auch von Foodwatch, einem Verein, der die Interessen der Lebensmittelkonsument:innen vertritt. Beide Gruppen haben sich schon lange für den Nutri-Score stark gemacht. Aber es gibt auch eine Menge Kritik, interessanterweise von denselben Gruppen. Sie kritisieren, dass Klöckner die Lebensmittelindustrie nicht zur Kennzeichnung verpflichtet.
Klöckner schiebt das auf fehlendes EU-Recht und hat damit sogar einen Punkt. Die Health-Claims- und Lebensmittel-Verordnungen der EU sollen Verbraucher:innen schützen, indem sie zum Beispiel vorgeben, mit welchen Versprechungen Lebensmittel beworben werden dürfen. Gleichzeitig verhindern sie aber, dass Mitgliedsstaaten eine erweiterte Nährwertkennzeichnung (in diese Kategorie fällt der Nutri-Score) gesetzlich vorschreiben können.
Trotzdem könnte Klöckner mehr tun. Zum Beispiel sich für genau solche einheitlichen EU-Regeln stark machen. Sie hat auch angekündigt, das tun zu wollen, wenn Deutschland 2020 den EU-Ratsvorsitz für sechs Monate übernimmt.
Hält sie ihr Versprechen ein, wäre das ein Riesenschritt hin zu einem verbindlichen Nutri-Score. Die Freiwillige Selbstverpflichtung ist nämlich wenig erfolgreich, wie das Beispiel Kindermarketing zeigt. Viele Unternehmen hatten sich 2007 selbst dazu verpflichtet, nur noch Lebensmittel mit bestimmten Nährwertkonzentrationen an Kinder unter 12 Jahren zu vermarkten. Doch 90 Prozent der Produkte, die an Kinder vermarktet wurden, waren gemäß den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO nicht für Kindermarketing geeignet, wie Foodwatch 2015 in einer Studie feststellte. Und eine Untersuchung der Krankenkasse AOK (PDF) fand 2017 heraus, dass Kinder zwischen sechs und 13 Jahren circa 7.800 Kindermarketingmaßnahmen der Lebensmittelindustrie pro Jahr allein im Internet ausgesetzt sind.
Klöckner setzt im Moment also auf eine Politik, die nicht dabei hilft, Übergewicht einzudämmen, und sie nutzt nicht den Spielraum, den sie hat, um eine wirkungsvollere Politik durchzusetzen. Dabei ist Klöckner eben nicht nur Ministerin für Ernährung und Landwirtschaft, sondern auch für Verbraucherschutz – zumindest was Ernährung betrifft. Die deutsche Bevölkerung vor unnötigen Gefahren zu schützen, ist eine ihrer Hauptaufgaben. Steht auch so auf der Website des Ministeriums. Warum macht sie das also nicht?
Steht die Gesundheit der Bevölkerung im Mittelpunkt ihrer Politik? Oder die Gesundheit der Lebensmittelindustrie? Denn diese verdient daran, dass wir zu viel Zucker, Fette und Salz essen. Diese ungesunden Nährstoffe sorgen für besseren Geschmack. Aber wenn wir zu viel davon essen, werden wir immer dicker. Die Lebensmittelindustrie trägt für die Übergewichts-Pandemie deshalb auch eine große Verantwortung, stellten Wissenschaftler fest.
Die Industrie versucht Gesetze zu verhindern, die die Bevölkerung tatsächlich gesünder machen würden. Denn dann würden ihre Produkte nicht mehr so gut schmecken. Wie schafft sie das?
Bei meiner Recherche sind mir drei Strategien der Industrie begegnet, um effektivere Gesetze zu verhindern.
Was Deutschland gegen Übergewicht tun müsste
Ein wichtiger Faktor, der der Industrie hilft: Deutschland hat keinen Plan, wie es das Problem Übergewicht effektiv bekämpfen will.
Die Bundesregierung hat sich zwar im Koalitionsvertrag (Zeile 4.142–4.160) verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten reduziert werden – EU-Vorgaben machen’s möglich. Außerdem wollte sie eine leicht verständliche Nährwertkennzeichnungen auf der Vorderseite von Verpackungen einführen, was ihr jetzt auch scheinbar gelungen ist. Beides sind tatsächlich wichtige Bausteine, um Übergewicht zu bekämpfen.
Aber es bleiben Einzelmaßnahmen, deren Einhaltung noch dazu nicht überwacht wird. Bereits jetzt zeigt sich, dass die freiwillige Reduzierung von Zucker, Fetten und Salz nicht klappt. Die Verbraucherzentrale Hamburg hat Stichproben gemacht und herausgefunden, dass die Angaben zur Reduzierung auf den Verpackungen häufig gar nicht stimmen. Entweder wurde nur einer der Nährwerte reduziert und die anderen erhöht oder es wurde insgesamt mehr versprochen, als tatsächlich eingehalten wurde.
Klöckner könnte noch heute ein Sofortprogramm vorlegen, das laut Experten wirklich dabei helfen würde, Übergewicht und damit auch Diabetes und die anderen Folgekrankheiten einzudämmen. Das steht sogar groß auf der Website zu einer Initiative, auf die sie immer wieder stolz verweist: In Form. Noch dazu hat Deutschland dieses Ziel bei der Europäischen Ministerkonferenz der Weltgesundheitsorganisation zur Bekämpfung von Übergewicht bereits 2006 vollmundig unterstützt. Passiert ist bisher nicht viel.
Drei Maßnahmen wären laut Weltgesundheitsorganisation entscheidend:
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Werbung, die gezielt Kinder ansprechen soll, einschränken
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Zucker besteuern
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Nährwertkennzeichnung
Zusätzlich halten es unabhängige Expert:innen für entscheidend, dass die Lebensmittelindustrie verbindliche Zielvorgaben für die Konzentration von Zucker, Fetten und Salz in ihren Lebensmitteln bekommt und engmaschig kontrolliert wird, ob sie sich daran wirklich hält. So eine konzertierte Aktion täte der Lebensmittelindustrie sehr viel mehr weh als freiwillige Selbstverpflichtungen, die im Zweifel nie umgesetzt werden.
Was die Lebensmittellobby tut, um eine effektive Strategie gegen Übergewicht zu verhindern
Eins vorweg: Lobbyismus taktiert in gesetzlichen Graubereichen. Belege für illegales Verhalten fehlen meistens. Aber es gibt Indizien.
Strategie 1: dem Ministerium zuarbeiten
Der wichtigste Vorwurf lautet, dass die Lebensmittelindustrie starken Einfluss auf die Formulierung der Gesetzestexte hat. Was spricht dafür, dass dieser Vorwurf berechtigt ist?
Um die im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vorhaben zu verwirklichen, hat sich das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) mit Experten beraten. Daran ist nichts auszusetzen. Doch Klöckner hat sich in diesem Jahr bis zum Sommer mit der Lebensmittelindustrie 14 Mal getroffen und mit Verbraucherschutzorganisationen, unabhängigen Experten und medizinischen Fachgesellschaften, nur circa halb so oft, nämlich acht Mal (Quelle: Bundestagsprotokoll aus Kalenderwoche 29 ab Seite 52, PDF ).
Einer dieser Termine hat es zu einiger Berühmtheit gebracht, weil die Ministerin danach ein Video (Twitter) verbreitete. Es zeigt sie mit dem Nestlé-Deutschland-Chef Marc-Aurel Boersch und beide freuen sich, dass sie an einem Strang ziehen. Die Plattform „Frag den Staat“ hat Dokumente aus dem Ministerium veröffentlicht, die zur Vorbereitung des Treffens dienten. Daraus geht hervor, dass Nestlé den Nutri-Score befürwortete.
Wer sich wundert, warum Nestlé den Nutri-Score will: Große Unternehmen wie Nestlé und Danone, die sowohl gesündere als auch ungesündere Lebensmittel anbieten, drucken auf Verpackungen in Frankreich bereits seit 2017 den Nutri-Score. Für große Unternehmen entsteht durch den Nutri-Score für einen Teil ihrer Produkte ein Verkaufsvorteil. Denn kleinere Konkurrenzunternehmen und solche, die vor allem ungesünderes Essen verkaufen, geraten unter Druck – egal, ob sie den Nutri-Score ebenfalls aufdrucken oder nicht. Dieser Effekt ist beabsichtigt.
Wenn einige Unternehmen das Label aufdrucken, vor allem die Großen und diejenigen, die vor allem gesundes Essen verkaufen, meiden Verbraucher:innen die Produkte ohne Nährwertkennzeichnung. Sie müssen ja annehmen, dass kein Label aufgedruckt ist, weil es sonst rot wäre, und rot heißt in der Nutri-Score-Welt: ungesund. Doch so mutiert die in erster Linie verbraucherfreundliche Kennzeichnung auch zum Marketinginstrument für die Großen. Deshalb sind sie dafür.
Wie gespalten die Lebensmittelindustrie in dieser Frage ist, macht auch ein Urteil gegen den Tiefkühlkost-Hersteller Iglo deutlich. Aufgrund einer Klage eines Vereins, des Schutzverbands gegen Unwesen in der Wirtschaft, verbot im April das Landgericht Hamburg Iglo das Aufdrucken des Nutri-Scores. Wer hinter dem Verein steckt und welches Ziel er verfolgt, ist unklar.
Aber der federführende Lebensmittelverband (BLL) lehnt den Nutri-Score ab und missbilligte die öffentliche Befürwortung dieser Lebensmittelampel einiger seiner Mitgliedsunternehmen. So entwarf der Verband zum Beispiel ein eigenes Label und führte eine Verbraucherbefragung dazu durch. Das heißt: Der Verband und seine Mitglieder streiten sich darum, wie sie mit der freiwilligen Selbstverpflichtung umgehen wollen. Iglo ist inzwischen aus dem Lebensmittelverband ausgetreten.
Klöckner hatte Februar 2019 einen Runden Tisch einberufen, an dem Lebensmittelindustrie und Fachgesellschaften gemeinsam beraten sollten, wie die Details aussehen. Doch erstens saßen an diesem Runden Tisch mehr Vertreter der Industrie als Fachgesellschaften oder unabhängige Expert:innen (15 zu 3), und zweitens hatten die Fachgesellschaften den Eindruck, lediglich eine Alibifunktion zu haben.
So schätzt das zum Beispiel die Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft, Barbara Bitzer, ein. Denn anstatt einen Dialog zu führen, wurde den Fachgesellschaften ein fertiger Entwurf vorgelegt. Der Eindruck: Die Lebensmittelindustrie hatte schon alles Wesentliche vorab mit dem Ministerium geklärt, die Fachgesellschaften sollten das nur noch abnicken. Und so stieg im Februar 2019 die Deutsche Diabetes Gesellschaft aus diesem Beratungsgremium aus. Die Pressemitteilung dazu beginnt so: „Das Gremium ist praktisch wirkungslos: Wissenschaftliche Erkenntnisse werden in den konkreten Reduktionszielen kaum berücksichtigt.“
Stattdessen berücksichtigt das Ministerium vor allem Industrieinteressen. Hier greift der Drehtüreffekt: Mitarbeiter wechseln vom Ministerium in die Lebensmittelindustrie und zurück. So arbeitete zum Beispiel Günter Tissen 14 Jahre lang im Ministerium, zuletzt als Regierungsdirektor. Seit 2012 steht er der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker vor und hält laut Abgeordnetenwatch engen Kontakt zum Ministerium und zur Bundesregierung. Eines seiner wichtigsten Anliegen: eine Zuckersteuer verhindern.
So sagte er der Bild-Zeitung im Dezember 2018: „Das Naturprodukt Zucker zum Sündenbock für das Problem Übergewicht zu machen und mit Strafsteuern zu belegen, verschärft das Problem eher.” Eine Zuckersteuer zu verhindern, gelingt ihm und seinen Mitstreitern sehr gut. Denn obwohl es Belege für einen positiven Effekt dieser Zuckersteuer gibt, soll eine neue Nationale Diabetes-Strategie dieses Instrument nicht enthalten.
Strategie 2: Wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren
Hans Hauner ist Professor für Ernährungsmedizin an der TU München und hat als Sachverständiger im Bundestagsausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Stellung zur deutschen Ernährungspolitik bezogen (PDF, absolute Leseempfehlung dafür!). Er sagte mir am Telefon: „Überernährung macht krank. Aber weil Prävention aus vielen Gründen sehr schwierig ist, tut sich die Medizin schwer, eine klarere Position zu beziehen.“ Dabei gibt es Studienergebnisse, die das Gesundheitsrisiko belegen und zum Beispiel mehr als 18 Prozent der vorzeitigen Todesfälle in Deutschland auf Überernährung zurückführen.
Hauner erinnert sich, dass bereits vor 20 Jahren auf EU-Ebene massiv lobbyiert wurde, um die wissenschaftlichen Belege, die es damals bereits gab, nicht in verbindliche Vorgaben zu übersetzen. „Die Industrie hat Fakten bezweifelt oder verharmlost und ihren Spielraum ausgenutzt. Das ging bis hin zu persönlichen Angriffen. Man achtete sehr darauf, dass nichts davon justiziabel war.“
Mit Erfolg. Bis heute gibt es unter anderem deshalb keine EU-Gesetze, die Höchstwerte an Zucker, Fett und Salz definieren oder eine höhere Besteuerung von ungesunden Lebensmitteln vorsehen, keine festen Regeln, wie Werbung für Kinder aussehen darf oder welche Nährwertkonzentrationen Lebensmittel, die speziell für Kinder produziert sind, haben dürfen. Ein Umstand, den Klöckner heute offiziell bedauert, aber der ihr hilft, sich mit der Lebensmittelindustrie zu verpartnern.
Klöckner setzt lieber auf Umfragen und betont, wie wichtig es ist, dass alle gut zusammenarbeiten. Dabei bezieht sie sich auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse, zum Beispiel auf die Arbeit des Max-Rubner-Instituts. Doch dieses Institut ist eine Bundesforschungseinrichtung und unterliegt damit der direkten Weisung des Ministeriums. Es kann deshalb – trotz Einhaltung von wissenschaftlichen Standards – nicht unbedingt als unabhängiges Institut betrachtet werden.
Erkenntnisse von wirklich renommierter und unabhängiger Stelle erwähnt Klöckner jedoch fast nie. Vielleicht liegt es daran, dass viele unabhängige Expert:innen unter anderem ausdrücklich eine Zuckersteuer als wirksames Instrument empfehlen?
Strategie 3: Die öffentliche Meinung beeinflussen
Hans Hauner sagt: „Das wichtigste Ziel der Lebensmittelindustrie ist, die Verbraucher:innen im Unklaren zu lassen. Das Credo heißt: Alles, was wir herstellen, ist gesund.“ Damit erreicht die Industrie aber nicht nur, dass wir keine informierten Entscheidungen im Supermarkt treffen können, sondern auch, dass wir uns selbst verantwortlich machen dafür, dass wir zu oft ungesund essen.
Das ist eine sehr subtile Botschaft, die die Industrie da aussendet: Nur ohne Verbote für die Industrie wird der freie Wille der Verbraucher:innen gestärkt, und der freie Wille ist ja eine der Prämissen unserer Demokratie. Wir denken dann vor allem: Jede:r ist für sich und sein Leben selbst verantwortlich. Alles, was schiefläuft, haben wir nach dieser Logik uns selbst zuzuschreiben. Schließlich stellt die Industrie nach eigener Darstellung nur gesunde Lebensmittel her oder solche, die – wenn du nicht zu viel davon isst – keinen Schaden anrichten können.
Doch wie sehr die Gestaltung der Umgebung, in der wir uns ständig bewegen, diese Entscheidungen beeinflusst, bleibt unerwähnt. Dabei ist das eindeutig wissenschaftlich belegt (siehe Links weiter oben): Was wir oft hören und sehen, halten wir für glaubwürdig – egal, ob es stimmt oder nicht. Supermärkte, die mit industriell hergestellten, hochverarbeiteten Lebensmitteln vollgestopft sind, beeinflussen unsere Entscheidungen.
Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Seitdem ich hauptsächlich auf dem Wochenmarkt einkaufe – weil ich direkt neben einem wohne –, esse ich weniger Süßigkeiten. Das verbuche ich unter „glücklicher Zufall“. Und genau das Prinzip des glücklichen Zufalls benachteiligt bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch. Menschen mit kleinen Einkommen bewegen sich meist in Umgebungen, die informierte Entscheidungen noch schwieriger machen. Sie profitieren deshalb am stärksten von eindeutigen gesetzlichen Regelungen. Und ihrer Kontrolle.
Vielleicht lässt sich das Vorgehen des Ministeriums aber auch noch viel einfacher erklären. Es hat nämlich einen Interessenskonflikt. Und das liegt an der Ressortverteilung. Der Verbraucherschutz ist seit 2014 fast vollständig im Justizministerium angesiedelt. Einzige Ausnahme: Ernährung. Dafür ist das Landwirtschaftsministerium selbst zuständig. Also ausgerechnet die Ministerin, die die Interessen der Agrarwirtschaft und Lebensmittelindustrie wahren soll.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich: Bildredaktion: Verena Meyer.