„Wenn die Tochter stirbt, dann fühlt man sich erst einmal, als würde das eigene Leben enden“

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Psyche und Gesundheit

„Wenn die Tochter stirbt, dann fühlt man sich erst einmal, als würde das eigene Leben enden“

Zehn Jahre nach dem Tod ihrer Tochter stellt sich Ina Milert ihren Erinnerungen. Mit ihrem Buch will sie anderen Eltern zeigen: Man kann weiterleben.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Triggerwarnung: Der Text enthält teils drastische Beschreibungen von Drogenabhängigkeit und Suizid.


Ina Milert guckt gerne Krimis im Fernsehen, sie weiß also, was es bedeutet, wenn die Polizei dich nachts aus dem Bett klingelt. Aber dann ist nichts wie im Film. Ihre Tochter Lea habe einen Unfall gehabt, sagen die zwei Polizisten an der Wohnungstür, sie sei im Krankenhaus und werde gerade notoperiert. Milert bricht nicht zusammen, kriegt keinen Schreikrampf, weint nicht. Sie bleibt unfassbar gefasst.

Auf dem Weg in die Notaufnahme erfährt sie, dass Lea von der Altmannbrücke, einer Durchgangsstraße zwischen dem Hamburger Hauptbahnhof und der Zentralbibliothek, gesprungen ist. Unter der Brücke verlaufen Bahngleise und Starkstromleitungen. Es ist der 7. September 2007, Leas 18. Geburtstag ist erst wenige Monate her. Zehn Jahre später schreibt ihre Mutter auf, wie es war, als sie im Krankenhaus ankam:


Irgendwie habe ich auf die Intensivstation der Unfall- und Wiederherstellungschirurgie gefunden. Zu Lea konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht, sie wurde operiert. Eine der Ärztinnen sprach von einer Milzentfernung und einem lebensbedrohlichen Zustand.

Kann man ohne Milz leben? Auch, wenn es angesichts der Umstände seltsam klingt: Eigentlich beschäftigte mich zunächst nicht der Gedanke, dass sie sterben könnte, sondern die Vorstellung, wie Lea sich später über die Operationsnarbe aufregen würde und darüber, dass sie nun nie wieder einen Bikini tragen könne.

Im Wartezimmer, das in meiner Erinnerung krankenhausgrün war und mit recht unbequemen Stühlen ausgestattet, saß ich hilflos und überflüssig herum. Schlafen konnte ich verständlicherweise nicht. Und so ließ ich mich später in der Nacht von einer Ärztin nach Hause schicken – widerspruchslos, auf Autopilot (…) Auch, wenn die Ärztin nochmals die düstere Prognose wiederholt hatte, so war ich doch auf dem Heimweg fest davon überzeugt, dass alles gut ausgehen würde. So etwas passiert doch bloß anderen. Nicht meiner Tochter!


Lea verbringt eine typische Berliner Neunzigerjahrekindheit mit Kinderläden und vielen Freunden und Freundinnen. Die Ehe der Eltern hält nicht, aber der Vater zieht nur zwei Straßen weiter. Prinzessinenkleider mag Lea nicht, lieber verkleidet sie sich als Katze und Löwe. In der Schule hat sie anfangs Schwierigkeiten, weil sie keine Fehler machen will. Der Unterricht in der Europaschule findet teilweise auf Spanisch statt. Lea versteht viel, aber nur unter großem Zuspruch seitens der Mitschüler und der Lehrer traut sie sich, einen kurzen Satz auf Spanisch nachzusprechen. Aber sie hat keine Probleme, Freunde zu finden. „Auf Grund ihres ruhigen und fröhlichen Naturells ist sie eine beliebte Spielpartnerin“, schreibt die Lehrerin nach der zweiten Klasse in ihr Zeugnis.


Nach einem Elternabend im ersten Schuljahr saßen wir einmal am schicken Savignyplatz und unterhielten uns über unsere Kinder, was sie wohl einmal studieren würden et cetera. Ein Vater warf ein, dass wir ja gar nicht wissen könnten, ob die damals Sechs- und Siebenjährigen einmal studieren würden. Er erntete Unverständnis.
Waren wir so naiv? Oder so arrogant? Wir wollten nicht einfach nur, dass unsere Kinder glücklich sind, sie sollten auch so sein wie wir oder besser. Und so etwas wie schwere Krankheit, Drogensucht oder kriminelle Karrieren konnten wir uns gar nicht vorstellen.
Würde man all das Schlimme, das den Kindern passieren kann – bis hin zu ihrem Tod –, vorausahnen, würde wohl niemand mehr Kinder bekommen.


Es ist nicht leicht, Leas Geschichte zu lesen, weil sie ein trauriges Ende hat. Aber sie ist wichtig, weil es eben nicht nur die Geschichte von Lea, sondern auch die ihrer Mutter ist. Die den Mut hat, zu erzählen, wie es weitergeht, wenn das Schlimmste passiert, das die meisten Eltern sich vorstellen können. Milert schreibt darüber, wie es ist, wenn ein Kind dir allmählich entgleitet. Wie sie dabei zusehen muss, wie es Lea immer schlechter geht, bis zu dieser Nacht im Krankenhaus. Und wie sie es nach dem Tod ihrer Tochter trotzdem geschafft hat, selbst wieder ins Leben zu finden.


Es tat mir leid zu sehen, wie sich Lea in die letzte Reihe verkrümelte. Um herauszufinden, was sie hemmte, schaltete ich den Schulpsychologischen Dienst ein. Ein Kinderpsychiater untersuchte sie, und hätte der herausgefunden, dass sie das Schulpensum nicht bewältigen kann, hätte ich sie umgeschult. Doch der Test ergab eine hohe Intelligenz. Und auch, dass sie Ermutigung braucht. Ich habe sie für jedes gute Ergebnis gelobt und belohnt, aber offensichtlich reichte das nicht aus.

Und so holte ich mir fachliche Hilfe von einer Psychotherapeutin, die Lea einmal in der Woche traf. Zu dem Termin fuhr sie bald allein, zwei Stationen mit der S-Bahn, stolz wie Bolle. Gleichzeitig begann sie, auf einem Reiterhof im Grunewald zu voltigieren. Vor Charly, dem großen Pferd, hatte sie keine Angst. Nur vor dem ersten Vorreiten, da hörte sie dann lieber wieder auf. Die Therapie schien auch erfolgreich: „Ina, jetzt bin ich ja frech genug, jetzt kann ich aufhören.“

Lea im Alter von acht Jahren

Lea im Alter von acht Jahren


Es ist – noch – eine schöne Zeit für Mutter und Tochter. Aber über Ina Milert liegt ein Schatten: Sie leidet unter Depressionen. Und das bekommt auch ihre Tochter mit.


Ohne zu begreifen, woran ich litt, wusste auch Lea, dass ich irgendwie krank war. Manchmal. Auch, wenn ich mich in ihrer Gegenwart immer zusammengerissen habe, funktioniert habe. Mehr ging dann nicht.
Depressionen fordern einen lebenslangen Kampf. Niemand, der oder die ihn kämpft, hat es sich ausgesucht. Niemand ist daran schuld. Und doch werde ich mir die Schuldfrage immer wieder stellen.


Das enge Verhältnis zwischen Mutter und Tochter bekommt Risse, als Lea mit zwölf das erste Mal nicht gleich nach der Schule, sondern erst abends nach Hause kommt. Dann beschimpft sie die Mutter eines Tages heftig. Die beiden sind mittlerweile nach Hamburg umgezogen und Lea will unbedingt beim Hamburg-Marathon mitlaufen, doch fehlen ihr noch wenige Tage bis zur Altersgrenze. Ihre Mutter setzt sich für sie ein und ist überrascht, dass Lea anstatt zu laufen, dann doch nur mit den anderen an der Strecke steht. „Lass mich in Ruhe, du dumme Fotze“, faucht Lea, als Milert sie darauf anspricht.


Nach den darauf folgend ersten gefälschten Unterschriften war ich komplett ratlos. Ein Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater riss mich dann völlig runter: Ohne Lea zu kennen, prophezeite er mir, dass Lea im Alter von 14 Jahren Drogen nehmen würde, wenn ich nicht langsam klare Grenzen zöge. Als ich dann in der Sprechstunde weinte, sagte er, ich solle mich zusammenreißen, Lea brauche keine depressive, sondern eine starke Mutter. Sie hatte aber bloß eine, und zwar mich (…)

Wenn ich heute zurückblicke, so begannen die Probleme zwischen Lea und mir mit dem Ende der Beobachtungsstufe. Im ersten Halbjahr der siebten Klasse war sie noch die Lea, die ich kannte. Auch das Zeugnis war noch gut. Dann aber änderte sich urplötzlich ihr Umgang – und unsere Beziehung.


Milert versucht es mit Familientherapie – vergebens. Lea entzieht sich immer mehr. Wenn die Familienhelferin da ist, sitzen die drei gemeinsam am Tisch, Lea schweigt, sitzt die Zeit ab. Dann findet die Mutter Protokolle eines Chats zwischen Lea und einer Freundin auf dem gemeinsamen Computer. „Lass uns mal H besorgen“, steht da.


Leas Tagebuch, 19.8.2003
Benni hat mich heute voll oft angerufen. Und gesagt, ich soll das nicht mehr machen. Was ist, wenn du davon stirbst. Da meinte ich, ist mir egal. Er meinte dann: mir aber nicht. Als ich ihm eine Sms geschickt hatte: Das es ihm egal sein soll und ich von kiffen dick werde und es deshalb nicht will. Und das es ihm egal sein soll, weil ich ihn will und es. Da hat er geschrieben: Du bist so süß! Aber du musst doch nicht deswegen so etwas nehmen. Außerdem bist du nicht dick…


Fast täglich hängt Lea mit ihren Freunden jetzt im Park und auf dem Spielplatz rum, kiffend und trinkend. Jungs sind auch dabei. Genau die Sorte Jungs, erzählt später Nina, eine Freundin, „mit denen Eltern einen nicht freiwillig abhängen lassen.“ Tatsächlich sind die Jungs alles andere als harmlos.


Leas Tagebuch 2.8.2003
Nina hat mir was anvertraut, für das sie stirbt, wenn es jemand erfährt. Ali hat sie vergewaltigt vor 2 Tagen. Ihr ganzer Rücken ist zerkratzt, weil er sie auf einem Spielplatz an einen Tisch gepresst hat. Sie kann nicht mehr zur Polizei, weil er gesagt hat, spätestens wenn er wieder aus dem Knast raus wäre, würde sie kein schönes Leben mehr haben.


Lea geht jetzt in die neunte Klasse, die Mutter findet Joints in ihren BHs. Wenn sie sich streiten, haut Lea manchmal ab. Die Mutter fühlt sich hilflos. Aber auch Lea fängt allmählich an zu merken, dass die Drogen zum Problem werden.


Leas Tagebuch, 3./4.1.2004
Mir war voll langweilig und wegen dem Speed bin ich nicht mal müde geworden. Also waren wir bis acht wach. Und sind um halb zehn wieder aufgewacht. Es war so scheiße, ich hab soviel nachgedacht, dass wir alle vergraulen. Und dass mein Leben keinen Sinn macht. Ich will jetzt wirklich von mir aus aufhören. (…) Ich brauch etwas, was meinem Leben einen Sinn gibt, dann wird alles besser.


Das Leiden am sinnlosen Leben – Leas Mutter versteht es nur zu gut. Erst, als sie nach dem Tod ihrer Tochter Leas Tagebuch liest, begreift sie, dass auch Lea unter Depressionen gelitten hat. Milert schreibt:


Ich hatte damals einen Tunnelblick, ich sah nur noch die Drogen. Heute weiß ich, dass sie nur ein Versuch waren, der Depression, an der drei bis zehn Prozent der 12- bis 17-Jährigen erkranken, zu entkommen. Andere Kinder ritzen sich, werden gewalttätig oder nehmen sich unerwartet das Leben. Drogen- und Alkoholmissbrauch kann eine psychiatrische Begleiterkrankung der Depression sein.

Einerseits fühle ich fast so etwas wie Erleichterung, eine Erklärung für den Beginn der Sucht gefunden zu haben, andererseits aber auch Schuld. Denn Kinder, deren Eltern an Depressionen leiden, haben ein höheres Risiko, selbst daran zu erkranken. Allerdings sind die Gene und das Erleben der Depression nur eine Seite: Leas Unsicherheit, die Selbstzweifel und Labilität wurden durch ihren Freundeskreis noch stark befeuert. Besonders durch Tarek, der ihr immer wieder vermittelte, sie sei nichts wert.


Tarek ist Leas erste große Liebe und gleichzeitig ihre Katastrophe. Ihre Lehrerin sagt Ina Milert später, Lea hätte an jeder Hand zwei Jungs haben können, und einer wäre bestimmt nett zu ihr gewesen. Aber sie will nur Tarek, und Tarek ist nicht gut zu ihr. Immer wieder schlägt er sie, aber Lea hängt an ihm. Dann fangen Lea und ihre Freunde an, Heroin zu nehmen.


Leas Tagebuch, 15.2.2004
Hab gerade wieder “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” ausgelesen. Ich bewunder die so. Bei denen ist alles so einfach.

17.5.2004 (Leas 15. Geburtstag)
Tarek hat uns angerotzt und jedem eine Backpfeife gegeben, meinen Kopf gegen die Wand. Mich ca. drei Mal geschlagen. Ich weiß alles nicht mehr so genau, zu viel Stress.

Tarek an Lea per Chat am 30.8.2004
14:54 Uhr: Ich liebe dich mein Schatz
20.51 Uhr: Du bist dumm und naiv. Du kannst nicht vor deinen Problemen weglaufen. Ich scheiß auf dich. Am besten du nimmst wieder deine Drogen. Hoffentlich bekommst du Psychose.


Die Mutter zeigt Tarek an. Er liegt Lea in den Ohren, dass sie zum Jugendamt gehen soll, um von ihr wegzukommen. Irgendwann kann auch Ina Milert nicht mehr.


Wie sollte ich mich da verhalten? Du bist verantwortlich für dein Kind, du liebst es, du willst es beschützen und kannst nichts machen. Mit dem Jugendamt war ich im Kontakt, die wussten von Tareks Aggressivität. Betreutes Wohnen wäre wegen der Drogen keine Lösung gewesen. Internat? Ich hätte wegziehen müssen aus Hamburg. Dazu hatte ich keine Kraft, ich war an einem Punkt, an dem ich zu nichts mehr Kraft hatte.

Ich erinnere mich noch an ein Telefonat mit meinem Vater, danach habe ich mich abgeschossen, mit Tabletten und Alkohol. Ich wollte nicht sterben. Aber ich wollte auch nicht mehr leben, so nicht. Ich wollte, dass mir endlich jemand hilft.
Dann ging es plötzlich ganz schnell beim Jugendamt. Lea wurde Hilfe durch Unterbringung in einer Einrichtung gewährt, konkret beschloss die Erziehungskonferenz die stationäre Betreuung in einer sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft, in Hamburg, ab dem 17. Oktober 2004.


Tarek darf Lea auch dort besuchen.


Leas Tagebuch, 27. 10.2004
Es ist so schwer: Erst ist alles so schön bunt, dann fall ich wieder in die dunkle Tiefe. Nur die ist länger da. Es ist nur schön, wenn ich mal eine gewisse Zeit, auch wenn sie nur kurz ist, bei ihm bin. Und diese kurze Zeit ist noch das einzige Lebenswürdige.


Lea geht jetzt in die zehnte Klasse, aber nur noch unregelmäßig. Sie ist nun wirklich süchtig. Ina Milert schreibt:


Sucht wird häufig mit Suche beschrieben. Aber das, was sich wirklich dahinter verbirgt, erklärt sich besser durch die tatsächliche Wortherkunft: Das alt- und mittelhochdeutsche „Sucht“ bedeutete krank sein, alle Krankheiten wurden zu jener Zeit als Sucht bezeichnet. Bis heute haben sich einige Begriffe gehalten: Gelbsucht, Schwindsucht etc. Inzwischen ist der Begriff Sucht meist negativ besetzt, nicht nur die Drogensucht, auch Eifersucht, Rachsucht, Herrschsucht. Die Weltgesundheitsorganisation setzt sich deshalb schon seit Langem für den weniger stigmatisierenden Begriff Abhängigkeit ein.

Lea und ihre Freundinnen haben viel über Süchtige gelesen, aber wenig begriffen. Und so waren sie eben ganz schnell drin im Kreislauf von Highs und Downs. Nicht jeder Mensch, der konsumiert – egal, ob illegale oder legale Drogen –, wird abhängig. Eigentlich lässt sich Sucht in einem Satz beschreiben: Wenn es nicht mehr um den Genuss geht, sondern der Konsum zum Zwang wird, besteht eine Abhängigkeit. Mediziner kennen weitere Kriterien: zwanghaftes Verlangen zu konsumieren, Verlust der Kontrolle über Zeit und Umfang des Substanzgebrauchs, körperliche Entzugserscheinungen, Abstumpfung der Wirkung und damit verbunden die Erhöhung der Dosis, ein „Tunnelblick“, der nur noch die Droge sieht, sowie fortgesetzter Konsum. Treffen drei der Punkte zu, besteht eine Sucht bzw. Suchtgefahr.


Ina Milert versucht, Lea in der geschlossenen Abteilung einer Jugendpsychiatrie unterzubringen, auch gegen den Willen der Tochter. Ein Hamburger Richter genehmigt das – zunächst.

Trotzdem wird die Einweisung auf vier Wochen befristet, danach wird Lea entlassen, obwohl die Klinik glaubt, „dass die Prognose bei jetziger Entlassung eher ungünstig einzuschätzen ist.“ Eine weitere Behandlung in der geschlossenen Station ist jedoch nicht möglich. Und Lea will nicht in die offene. Im Mai 2005 stellt das Jugendamt dann alle Hilfen ein.

Lea, 2005

Lea, 2005

Lea kommt in die 11. Klasse. Tarek schlägt sie wieder zusammen. Die Mutter findet später den Notfallbericht auf dem Bett. Dort steht auch, dass Lea sich am ersten Schultag Heroin gespritzt hat.

Milert kann sich nicht den ganzen Tag um Lea kümmern, weil sie arbeiten muss. Eines Tages kommt sie nach Hause und findet einen Zettel.


Hi Ina, es tut mir leid, ich habe aufgegeben. Ich pack das nicht mit der Schule und allgemein. Das, was mir am wichigsten war im Leben, war Tarek. Ich kann nicht mehr ohne Drogen. Fühl mich nur noch scheiße. Es macht keinen Sinn, mich wieder zu suchen. Ich komm nicht mehr klar, es tut mir leid. Bitte lass mich. HDL


Lea nimmt von sich aus mit dem Krankenhaus Ochsenzoll Kontakt auf, weil sie entgiften will. Kurz vor Weihnachten wird sie stationär aufgenommen, hält aber nur wenige Tage durch und bricht ab. Um Geld für die Drogen zu verdienen, geht sie mittlerweile auf den Strich.


Leas Tagebuch, 20.02.2007
Hatte 5 Typen „am ersten Tag“ (…) Hatte die Nacht dann wenigstens ein Hotel. Die nächsten auch, aber ich hab’s seelisch nicht mitgemacht. Mehrere Nächte geheult (…)


Lea versucht eine weitere Entgiftung und bricht wieder ab. Im Nachhinein begreift Ina Milert, warum der Entzug so schwierig ist:


Ein bestimmtes Lied, das Knistern von Zigarettenpapier, leere Bierflaschen – schon Kleinigkeiten reichen aus, um Lust auf die Droge, legal oder illegal, zu machen. Egal, wie lange man vorher clean war. Schuld daran ist das Suchtgedächtnis: Das Gehirn merkt sich alles, was mit der Droge verknüpft ist. Und der kleinste Reiz von außen aktiviert die Erinnerungen, vielleicht lebenslang – ein Grund für die hohe Rückfallrate von Süchtigen. Gedächtnisforscher suchen Wege, das Suchtgedächtnis zu löschen.


Leas Tagebuch, 2.6.2007
Ich bin 18 geworden und hab die beschissensten Wochen meines Lebens hinter mit. Hab Bokholt [Anm. d. Redaktion: Eine Klinik für Suchterkrankungen] wieder abgebrochen. Nach 2-3 Tagen bin ich nach Berlin gefahren (…) wusste ich, wo die Szene ist. (…) Bin dann im Krankenhaus auf der Intensivstation wachgeworden…


Und dann kommt der Tag im September, an dem Lea von der Brücke springt. Ina Milert schreibt:


Aus der Klinik nach Hause geschickt, habe ich mich ins Bett gelegt und geschlafen, glaube ich. Am nächsten Morgen wurde ich um sieben Uhr vom Telefon geweckt. Die Ärztin – ich denke, es war die, die ich schon im Krankenhaus getroffen hatte – sagte mir, dass Lea nicht überleben würde.

Ich kann mich absolut nicht daran erinnern, was ich in diesem Moment empfunden habe.

Im Taxi fuhr ich zu Lea. Da lag sie, an Geräte angeschlossen, mit Tampons im Mund, und hat geatmet. Sie lebte! Die Ärzte mussten sich geirrt haben. Alles wird wieder gut, dachte ich. Etwas Anderes konnte ich nicht denken.
Die Wirklichkeit sah anders aus: Man hatte Lea bis zu meinem Eintreffen beatmet, und erst in meiner Gegenwart wurden die Geräte abgeschaltet.
Auch, wenn sie da so warm vor mir lag: Sie war tot. Ich bin nicht zusammengebrochen an ihrem Bett. Ich habe stattdessen auf sie eingeredet, sie solle doch aufwachen, wir hätten doch noch so viel vor. Ich brauchte sie doch. Ich wollte sie noch kennenlernen. Doch sie war gestorben, um 8:25 Uhr am 8. September 2007.

Um mich herum standen Ärzte und Schwestern, aber davon bekam ich nicht viel mit. Ich nahm Leas Hand in meine, sie hatte so kleine Hände. Ihre Hand war noch warm. Die Nägel waren lackiert: unten weiß, oben rot.
Ich habe sie aufgedeckt, ihre Beine mit den leichten Stoppeln gestreichelt, ihren Körper. Dann ging ich.


In der Zeit nach Leas Tod weiß Ina Milert für eine Weile nicht, ob sie selbst weiterleben will. Sie geht in einer Selbsthilfegruppe, „Verwaiste Eltern“. Zum ersten Mal in ihrem Leben fängt sie an, Tagebuch zu schreiben. Eine Weile meldet sie sich krank, geht dann aber wieder arbeiten. Jede Art von Regelmäßigkeit hilft, auch Yoga. Alles, was dem Tag eine Struktur gibt. Immer wieder schreibt sie auch an ihre Tochter. Sie versucht, zu verstehen, auch um Verzeihung zu bitten.


Ina an Lea, 19.10.2007
Jetzt habe ich schon vier Tage gearbeitet. Es ist so schrecklich, wenn ich da bin, weil es so normal ist. Als wenn nichts passiert wäre. (…) Es kann doch nicht sein, dass alles so weitergeht, so ohne dich. Manchmal weiß ich nicht, was schlimmer ist: nur heulen, verhungern, leiden – oder das einfache normale Weiterleben.”


Aber Milert entscheidet sich fürs Leben. Sie hört auf mit den Briefen an Lea, schreibt sie nur noch im Kopf. In ihrem Buch notiert sie:


Auch heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Die Erinnerung fällt mich in den unerwartetsten Momenten an: gemeinsame Orte, Sätze, Gerüche, Kleidung. Aber sie bringt mich nicht um. Ich bin nicht umgezogen, ich habe kein Bild von Lea abgehängt – ich lebe einfach mit ihr weiter. Wie ich das geschafft habe, trotz meiner Depressionen, weiß ich nicht. Aber man kann es schaffen.


Allgemeingültige Tipps dafür gibt es nicht, schreibt sie. Sie hat selbst in Bergen an Trauerratgebern danach gesucht. In vielen Büchern wird zum „Loslassen“ geraten, damit kann Milert nicht viel anfangen. Bei Roland Kachler, einem Psychologen, dessen Sohn tödlich verunglückt ist, findet sie einen Ansatz, in dem sie sich verstanden und aufgehoben fühlt: Ein Leben mit dem Verstorbenen. Erinnerungsorte schaffen, Erinnerungen pflegen.

Letztlich, meint Milert, muss jeder seinen eigenen Weg finden, mit dem Trauma umzugehen. Für Milert waren es neben Arbeit und Sport auch eine Psychoanalyse, die vier Jahre dauerte. Bei dem Trauerforscher George A. Bonanno findet sie weitere beruhigende Gedanken:


Man muss Trauer nicht durchleben, um genesen daraus hervorzugehen. Jede/r darf ihr/sein Schicksal verarbeiten, wie sie oder er es für passend hält. Und auch Lachen, Lächeln – oder wie bei mir: schwarzer Humor – sind hilfreich. Nicht nur für den Trauernden, der sich damit eine Pause in seinem Kummer verschafft, sondern auch für sein Gegenüber: Es schlägt eine Brücke zu den Außenstehenden, die sonst oftmals überfordert sind, nicht wissen, wie sie reagieren sollen. (…)

Das Beste aus dem Leben zu machen, darum geht es letztendlich. Denn auch unendliche Trauer, Leid und Selbstzerfleischung holen Lea nicht zurück.


Samu, mit dem Lea bis zu ihrem Tod zusammen war, ist zu einer Art Kindersatz für Milert geworden. Seit ein paar Jahren gehen sie zusammen joggen. Manchmal, wenn sie sich über ihn aufregt, spricht sie ihn versehentlich mit „Lea“ an.


Ina Milerts Buch, in dem sie diese Geschichte aufschreibt, heißt „Tagebuch einer Sehnsucht“. Es ist 2019 im Verlag hansanord erschienen. Wir veröffentlichen die Passagen daraus mit freundlicher Genehmigung der Autorin.


Dieser Text soll keinesfalls für Suizid als Weg zur Bewältigung von Problemen werben, sondern das Schicksal von Menschen aufzeigen. Bitte sprecht mit anderen Menschen darüber, wenn ihr an Selbstmord denkt. Hier gibt es Hilfsangebote, ihr könnt anonym bleiben. Ruft dort an, schreibt eine E-Mail oder nutzt die Möglichkeit zum Chat oder zum persönlichen Gespräch.