Medien verkünden das „Ende von Aids“ – das steckt dahinter

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Psyche und Gesundheit

Medien verkünden das „Ende von Aids“ – das steckt dahinter

Die Meldung verbreitete sich im Frühjahr 2019 rasant: Das Risiko, sich mit dem HI-Virus anzustecken, kann mithilfe von Medikamenten auf null gesenkt werden. Was das bedeutet und was nicht, beschreibe ich in diesem Text, verständlich auch für Nicht-Wissenschaftler.

Profilbild von Ein Erklärtext von Silke Jäger

In der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschien am 2. Mai eine wissenschaftliche Untersuchung. Die Studie zeigte, dass HIV-infizierte Menschen, die bestimmte Medikamente nehmen, niemanden mehr anstecken können – selbst, wenn sie ungeschützten Sex haben. Eine der Studienautorinnen, Alison Rodger vom University College in London, freute sich: „Es ist ausgezeichnet – fantastisch. Das ist das Ende der Ansteckung mit HIV.“

Die Studie machte schnell Schlagzeilen. „Das Ende von Aids ist greifbar“ titelten zum Beispiel die englischen Tageszeitungen The Guardian und Metro. Das hört sich sensationell an. Aber ist mit dieser Studie tatsächlich das Ende von Aids in Sicht?

Ich habe mir die Studie und die Geschichte der HIV-Therapie näher angeschaut, um das herauszufinden. Mit den Antworten auf diese sechs einfachen Fragen kannst du besser verstehen, was hinter der Überschrift steckt.

Was ist noch mal der Unterschied zwischen HIV und Aids?

Das HI-Virus (Humanes Immundefizienz-Virus) kann eine Aids-Erkrankung hervorrufen – abhängig davon, wie stark sich das Virus im Körper verbreitet. Aids steht für Acquired Immune Deficiency Syndrome, auf Deutsch: Erworbenes Abwehrschwächesyndrom. Aids ist eine lebensbedrohliche Krankheit, bei der der Körper die Fähigkeit verliert, sich gegen relativ harmlose Infektionen zu wehren. Die Infektionen mit eindringenden Bakterien, Viren oder Pilze können dann im schlimmsten Fall tödlich verlaufen, weil das Immunsystem außer Kraft gesetzt ist. Aids-Patienten sterben dann zum Beispiel an einer Lungenentzündung.

Im Jahr 2017 lebten in Deutschland 86.100 Menschen mit einer HIV-Infektion, und 2.700 Menschen steckten sich in diesem Jahr mit HIV an. Die Zahlen stammen aus einem Report und einem Bulletin des Robert-Koch-Instituts. Das Institut ist in Deutschland für den Infektionsschutz der Bevölkerung zuständig, sammelt Informationen über Erkrankungen, bereitet sie für Wissenschaftler und zum Teil für die Bevölkerung auf und veröffentlicht sie. In den zehn Jahren vor 2017 hatten sich jeweils mehr Menschen mit HIV angesteckt, die Infektionsrate ging 2017 also zurück. Allerdings erfasst diese Statistik nicht alle HIV-Infizierten. Das Robert-Koch-Institut schätzt, dass nur 87 Prozent der Infizierten wissen, dass sie das HI-Virus tragen. Damit waren sich in Deutschland im Jahr 2017 circa 11.400 Menschen nicht bewusst, dass sie HIV haben.

Das gesellschaftliche Problem mit HIV hat viel mit diesen undiagnostizierten Fällen zu tun. Denn diese Menschen sind unwissentliche Überträger der Krankheit und zusätzlich stärker gefährdet, an Aids zu erkranken und daran zu sterben. So erhielten in 2017 insgesamt 1.100 Menschen erst dann eine HIV-Diagnose, als sie bereits schwer erkrankt waren. Ein Hauptanliegen der Aids-Beratungsorganisationen ist es, Menschen zu erreichen, die sich erst kürzlich infiziert haben und sich selbst nicht für ansteckungsgefährdet halten. Vor allem Menschen, die in festen Heterobeziehungen leben unterschätzen das Risiko sich zu infizieren. Insbesondere sie sind es, die besonders gefährdet sind, eine HIV-Infektion über längere Zeit zu übersehen und HIV weiterzuverbreiten, da das Virus zum Teil jahrelang keine eindeutigen Krankheitssymptome hervorruft.

Wer sich mit dem HI-Virus ansteckt, muss damit leben, denn es gibt bislang keine Heilung für die HIV-Infektion. Allerdings lässt sich die Überlebensdauer und die Lebensqualität durch moderne Therapien so verbessern, dass viele Menschen, die sich angesteckt haben, dennoch ein langes und weitestgehend uneingeschränktes Leben führen können.

Was genau bewirken moderne HIV-Therapien?

In den 1980er und -90er Jahren gab es für HIV-Infizierte fast keine Möglichkeit, das Aid-Syndrom zu verhindern. Viele sind daran verstorben. Doch inzwischen lässt sich die Viruslast mit einem hochwirksamen Medikamentencocktail so stark senken, dass das Risiko für HIV-Infizierte, an Aids zu erkranken, gegen Null geht. Weiterhin gibt es Medikamente, mit denen man sich gegen eine Ansteckung schützen kann, sogenannte PrEPs. In diesem Beitrag bei Krautreporter kannst du mehr darüber lesen, wie die medikamentöse HIV-Vorbeugung funktioniert (und warum das in Deutschland kaum bekannt ist).

Die erfolgreichsten Medikamente gegen Aids sind sogenannte antiretrovirale Arzneimittel. Sie verhindern, dass sich das HI-Virus im Blut vermehrt, zum Beispiel, indem sie das Virus davon abhalten, in gesunde Immunzellen einzudringen oder sein Erbgut zu übertragen. Andere Medikamententypen sorgen dafür, dass die Wirtszelle keine neuen Viren entlässt. Diese Medikamente können Nebenwirkungen haben, wie zum Beispiel Nierenfunktionsstörungen oder Diabetes. Außerdem müssen sie lebenslang eingenommen werden, weil sie das Virus nicht wieder aus dem Körper entfernen können. Bei der HIV-Kombinationstherapie werden immer mehrere Medikamententypen eingesetzt. Außerdem gibt es weitere Behandlungsverfahren, an denen kontinuierlich geforscht wird.

Was ist nun das Sensationelle an dem, was die Wissenschaftler in der Studie herausgefunden haben?

Bislang war es so: Auch HIV-Positive, die antiretrovirale Medikamente nahmen, konnten nicht sicher sein, ob sie nicht doch – unter ungünstigen Umständen – ansteckend waren. Es gab zwar schon deutliche Hinweise darauf, dass die Ansteckungsgefahr gegen null geht, wenn sie den hochwirksamen Medikamentencocktail dauerhaft einnehmen, aber diese Hinweise stützten sich vor allem auf Einzelfallberichte. Trotzdem waren sich viele Forscher sicher, dass die Übertragung von HIV nicht möglich ist, wenn sich keine Viruslast mehr im Blut nachweisen lässt. Das drückt sich in der einfachen Formel U = U aus: unnachweisbare Viruslast = unübertragbares HIV. Auf ihrer Website propagierte eine Aktivistengruppe aus London deshalb schon länger (allerdings nicht unumstritten): „Wenn du Kondome nur deshalb benutzt, um HIV-Übertragung zu verhindern, kannst du darauf verzichten, sollte deine Viruslast nicht nachweisbar sein.“

Das Neue an der Studie, die vor kurzem in The Lancet erschien: Sie hat einen wissenschaftlichen Nachweis dafür erbracht, was sich in der Praxis schon länger zeigte. Die Ansteckungsgefahr eines HIV-Positiven geht mit antiretroviralen Medikamenten gegen null. Als Indikator für die Ansteckungsgefahr kann die Viruslast angesehen werden.

Was genau wurde eigentlich in der Studie untersucht?

In der Studie wurden rund 780 männliche homosexuelle Paare aus 14 europäischen Ländern zwei Jahre lang engmaschig medizinisch betreut, um herauszufinden, wie sich die antiretroviralen Medikamente auf das Übertragungsrisiko auswirken. Jeweils einer der beiden Partner war HIV-infiziert, der andere nicht. Der HIV-infizierte Partner wurde in dieser Zeit mit antiretroviralen Medikamenten behandelt, der gesunde Partner nahm keine vorbeugenden Arzneimittel (PreP) ein. Die Paare hatten in den zwei Jahren ungeschützten Sex, also ohne Kondom. Dabei steckte sich keiner der Probanden mit HIV bei seinem Partner an.

Diese Ergebnisse lassen sich auch auf heterosexuelle Paare übertragen. Das heißt, die Studie legt nahe, dass alle HIV-infizierten Menschen, die unter engmaschiger Betreuung hochwirksame antiretrovirale Medikamente bekommen und keine nachweisbare Viruslast haben, keine Überträger des HI-Virus sind.

Wie zuverlässig sind denn die Studienergebnisse?

Wer aus den Studienergebnissen schließt, dass Aids besiegt ist, irrt sich allerdings.

Das hat zum einen mit dem Studiendesign zu tun. Es handelt sich nämlich um eine sogenannte prospektive Beobachtungsstudie. Mit diesem Studientyp kann man herausfinden, ob ein Einfluss, den man sehr genau beschreiben kann – hier: die Viruslast des potenziellen Überträgers – Auswirkungen auf noch nicht erkrankte Menschen hat – hier: Ansteckung mit HIV. Also: Wie hoch ist das Risiko der Ansteckung? Und wie häufig passiert eine Ansteckung? Auf diese Frage liefert die Studie auch gute Antworten: Das Risiko geht gegen null, weil man sehen kann, dass sich von circa 780 Menschen in zwei Jahren niemand bei seinem HIV-infizierten Partner angesteckt hat.

Prospektive Beobachtungsstudien können aber keinen eindeutigen Ursache-Wirkungs-Mechanismus belegen. Was die Experten also interessiert: Wie sicher kann man sein, dass es wirklich nur diesen einen Faktor gibt – nämlich der Medikamentencocktail – der zu den positiven Ergebnissen geführt hat? Dafür bräuchte man (mehrere) Vergleichsstudien, also solche, in denen man zwei unterschiedlich behandelte Gruppen miteinander vergleicht. Die Gruppen müssen zudem möglichst ähnlich sein. Eine solche Vergleichsstudie lässt sich allerdings bei der Frage nach der Übertragbarkeit bei nicht-nachweisbarer Viruslast ethisch nicht vertreten: Man müsste sonst ganz gezielt einer Gruppe die nachgewiesenermaßen wirksame Behandlung vorenthalten.

Die neue, vielbejubelte prospektive Beobachtungsstudie räumt also zwar nicht alle Unsicherheiten aus, stellt aber einen überzeugenden Zusammenhang her. Sie bestätigt sozusagen die Hypothese, die sich aus Erfahrungen mit behandelten HIV-Infizierten ergeben hat: Die Ansteckungsgefahr sinkt unter der Therapie.

Was die Studie nicht sagt, ist, wo die Grenzwerte liegen. Fragen wie „Wie weit muss die Viruslast gesenkt werden, um eine Ansteckungsgefahr von null Prozent zu erreichen?“ kann sie nicht beantworten. Wir wissen also durch diese Studie nicht viel darüber, was passiert, sollte die Viruslast unter der Therapie steigen. Unter anderem deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit HIV regelmäßig Tests machen und engmaschig medizinisch betreut werden.

Heißt das, Aids ist doch noch nicht Geschichte?

Dafür spricht sehr viel, zum Beispiel Folgendes:

  • Viele HIV-infizierte Menschen, die sich nicht zu einer Risikogruppe zählen, bekommen erst sehr spät eine Diagnose. Sie sind also unter Umständen jahrelang Überträger, ohne es zu wissen.
  • Um wirklich sicher zu gehen, muss die Viruslast regelmäßig bestimmt werden. Das kann im Alltag eines Menschen mit HIV schwierig umzusetzen sein.
  • Unter der antiretroviralen Kombinationstherapie können Resistenzen entstehen. Man entwickelt gerade erst Alternativen zu dieser Therapie, zum Beispiel die Behandlung mit speziellen Antikörpern oder die Gentherapie.
  • Alle Therapien sind sehr teuer.
  • Von weltweit 36,9 Millionen HIV-infizierten hatten laut UNAIDS 2017 nur 21,7 Millionen Menschen Zugang zur antiretroviralen Kombinationstherapie. Und es wissen nicht alle HIV-Infizierten von ihrer Krankheit. Die Zahlen liegen also noch höher.
  • Die Medikamente müssen lebenslang eingenommen werden und können schwere Nebenwirkungen verursachen. Sie ist deshalb nicht für alle HIV-Infizierten geeignet.
  • Menschen mit HIV und Aids kämpfen immer noch gegen viele Vorurteile und Stigmata an. Weil viele sich nicht trauen, offen mit ihrer Krankheit oder der Angst vor einer HIV-Erkrankung umzugehen, sind die Hürden für ein Fallenlassen von Safer-Sex-Praktiken sehr hoch.
  • Auch wenn zu Safer Sex ebenfalls der ungeschützte Sex unter einer antiretroviralen Kombinationstherapie gezählt wird, heißt es nicht, dass Kondome überflüssig werden. Im Grunde ändert sich nicht viel an den Aussagen der Safer-Sex-Kampagnen außer, dass eine weitere Praxis dazugezählt werden kann: ungeschützter Sex, wenn die Viruslast gegen null geht.

Hinter der Schlagzeile vom „Ende von Aids“ steckt also durchaus berechtigter Grund zum Jubeln. Allerdings kommt die Erkenntnis weder überraschend, ist also keine Sensation, noch bedeuten die Ergebnisse, dass Aids besiegt ist. Vielmehr gehen wir mit der Studie einen weiteren Schritt in Richtung des von UNAIDS ausgerufenen Ziels, im Jahr 2030 keine neuen Aids-Erkrankungen mehr zu haben.

Aber vor allem rückt das Ziel „Mehr Lebensqualität bei einer chronischen Erkrankung“ näher. Das ist übrigens sehr oft so, wenn propagiert wird, dass der Durchbruch bei einer Krankheit geschafft ist, an der viele Menschen sterben: Meist wird aus einer tödlichen Krankheit eine chronische.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.