Christine ist eine Powerfrau. Sie hat das Talent, den Überblick zu behalten, wenn es unübersichtlich wird. Sie kann anderen helfen, sich zu sortieren, auch wenn es ihr selbst nicht so gut geht.
Nach der Brustkrebs-Diagnose fragt sie mich, ob ich sie fotografisch begleiten kann, wenn Tochter und Mann ihr dabei helfen, die Haare abzuschneiden. Ich habe nicht lange überlegt.
Schnell wird klar: Ich soll die Familie mit meiner Kamera begleiten, den ganzen Weg. Ob am Ende des Weges die Genesung stehen wird, ist unklar.
Die Familie entwickelt eine enorme Kraft, und ich habe den Eindruck, die Liebe wird irgendwie stärker. Ich denke: „Diagnose: glücklich.“
Christine bewältigt neben der Hormonbehandlung, der Chemotherapie, der OP und der Bestrahlung ihren Job, schmeißt den Haushalt, kümmert sich um ihre Tochter. Sie geht zu Familien-Treffen und Geburtstagsfeiern. So, wie immer. Nur ihr Körper wirkt häufig sehr angeschlagen. Das ist das neue Normal.
Christine kommt ihren Grenzen manchmal näher, als sie es will. Sie muss Kraft abgeben an ihre Krankheit. Oft bemerkt das ihr Umfeld eher als sie und zieht Schutznetze ein: Freunde nehmen dann ihre Tochter spontan zum Eisessen mit.
Zuerst möchte Christine die Bilder nicht sehen, die ich von ihr gemacht habe. Sie braucht ihre ganze Konzentration für sich, ihre Tochter, ihre Partnerschaft. Und den Brustkrebs.
Erst, nachdem alles durchgestanden ist, wagt sie sich an die Fotos, die im Laufe des Jahres entstanden sind. So lange braucht sie, um sich anzusehen, was ihre Krankheit mit ihrem Leben macht. Dann endlich weint sie.
Der Brustkrebs wird ein normaler Teil von Christines Alltag und dem ihrer Familie. Er soll nicht dazwischenstehen, sondern dazugehören.
Christines Haare sind gefühlt einen Meter lang.
Aufwärmübungen mit der Kamera.
Christines Tochter hat eben noch mitgeblödelt, doch plötzlich verändert sich ihre Stimmung. Alle sind angespannt.
Christine weiß, dass sie ihre Haare durch die Chemotherapie verlieren wird. Sie möchte, dass sie kurz sind, wenn es so weit ist.
Christines Tochter hilft ihr beim Haareschneiden. „Ich bin dankbar, dass meine Familie all das mitträgt“, sagt sie. „Wir sind auch in schwierigen Situationen zusammen. Das ist für alle nicht leicht.“
Wie ist das für Christines Tochter, dass der Krebs zur Familie gehört? Nimmt ihr die Nähe zur Krankheit einen Teil der Kindheit? Kann Christine sehen, wie es ihrem Kind geht?
Mit den Haaren lässt Christine einen Teil ihres bisherigen Lebens hinter sich. Wendet sich dem Krebs zu. Sagt Hallo zu ihrem neuen, noch unbestimmten Leben. Ihre Tochter nimmt sie mit in dieses neue Leben.
Der Arzt verschrieb Christine ein Rezept für eine Perücke. Zuerst wollte sie nicht, doch er bestand darauf: „Es ist mir egal, ob Sie die Perücke tragen, und wenn es an Fasching ist.“ Christine löst das Rezept ein, auch auf Wunsch ihrer Tochter. Sie trägt die Perücke einmal, als sie ihre Tochter vom Kindergarten abholt, das hat sie sich gewünscht. Und später, als alles vorbei ist, um Kollegen zu überraschen. Lieber trägt Christine Mützen, weil es kalt ist ohne Haare.
Christine macht es sich während der Chemotherapie schön. Drei Stunden, in denen nicht viel passiert, in denen sie ausruhen kann. Weil Hände und Füße durch die Medikamente taub werden können und die Schleimhäute leiden, sollen die Patientinnen die Stellen kühlen. Die Ärzte schlagen vor, Eiswürfel zu lutschen. Christine bringt sich lieber Eiskonfekt mit. So viel, dass sie mit den anderen Frauen teilen kann.
Nach der Operation. Christines Tochter besucht sie im Krankenhaus. Die Chemotherapie ist abgeschlossen. Beide freuen sich darauf, dass Christine ihre Haare bald wieder bürsten kann.
Der Weg mit dem Brustkrebs führt über Krankenhausflure. Mutter und Tochter gehen so oft wie möglich zusammen.
Die Hormonbehandlung dauert ein Jahr. Auch dorthin nimmt Christine ihre Tochter so oft wie möglich mit, um ihr zu zeigen, was passiert.
Alle Nachuntersuchungen zeigen: Der Krebs ist jetzt weg. Nach fünf krebsfreien Jahren gilt man als geheilt. Ein Jahr hat Christine schon geschafft. Ihre Tochter fragt irgendwann: „Mama, musst du jetzt nicht sterben?“
Die Fotografin Patrizia Iaconisi, 1977 in Ulm geboren, befasst sich seit 2012 intensiv mit der Fotografie. Seit 2014 arbeitet sie als dokumentarische Familienfotografin. Mehr über sie und ihre Arbeit auf der Website von Patrizia Iaconisi.
Dieser Artikel ist in Kooperation mit emerge entstanden. emerge ist ein unabhängiges, mehrfach ausgezeichnetes Onlinemagazin für jungen Fotojournalismus. Mit dem Visual Journalism Grant vergibt emerge zudem eine jährliche Projektförderung für junge Fotografinnen und Fotografen und bietet in der angeschlossenen Akademie Weiterbildungen im Bereich Bildredaktion an.
Redaktion: Silke Jäger; Bildredaktion: Martin Gommel; Fotos: Patrizia Iaconisi; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.