Wie das Verständnis für unterschiedliche Kulturen die Grundlagen der Psychologie erschüttert

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Psyche und Gesundheit

Wie das Verständnis für unterschiedliche Kulturen die Grundlagen der Psychologie erschüttert

Mehr als 90 Prozent der Teilnehmer an psychologischen Studien kommen aus Ländern, die westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch sind. Das hat Folgen.

Profilbild von von Nicolas Geeraert, Universität von Essex

Bisher sind Forscher davon ausgegangen, dass die Psyche bei allen Menschen gleich funktioniert – also unabhängig davon, wo sie leben. Was auch daran liegt, dass die Psychologie als akademische Fachrichtung in den meisten Fällen aus Europa und Nordamerika stammt. Genau diesen Ansatz stellen manche Forscher seit einiger Zeit infrage. Denn sie glauben, dass die Kultur, in der wir leben, einen wichtigen Einfluss auf unsere Psyche hat.

Klar, Menschen sind einander in vieler Hinsicht auf der ganzen Welt sehr ähnlich – zum Beispiel in der Art, wie unsere Körper funktionieren oder was unsere Grundbedürfnisse wie Ernährung, Sicherheit und Sexualität betrifft. Wie also soll sich die Kultur, in der wir leben, auf die Psyche auswirken? Auf Wahrnehmung, Erkenntnis und Persönlichkeit? Schauen wir uns die bisherigen Erkenntnisse an.

Psychologen erforschen typischerweise das Verhalten einer kleinen Gruppe von Menschen. Dabei gehen sie davon aus, dass dieses auf die gesamte menschliche Bevölkerung übertragbar ist. Wenn man tatsächlich von einer homogenen Bevölkerung ausgeht, ist es durchaus statthaft, solche Rückschlüsse aus einer Stichprobe zu ziehen.

Das Problem: Diese Annahme stimmt nicht. Denn Psychologen stützen sich bei ihren Untersuchungen seit langem unverhältnismäßig stark auf Studienanfänger, weil diese für Forscher an Universitäten leicht verfügbar sind. Noch bemerkenswerter ist aber, dass mehr als 90 Prozent der Teilnehmer an psychologischen Studien aus Ländern kommen, die westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch sind. Es liegt auf der Hand: Diese Länder sind weder eine Zufallsstichprobe noch repräsentativ für die menschliche Bevölkerung.

Schon unser Denken ist von unserer Kultur geprägt

Überlege einmal, welche beiden Objekte zusammenpassen: ein Panda, ein Affe und eine Banane. Testpersonen aus westlichen Ländern wählen regelmäßig den Affen und den Panda aus, da beides Tiere sind. Dies zeugt von einem analytischen Denkstil, bei dem du Objekte weitgehend unabhängig von ihrem Zusammenhang wahrnimmst.

Teilnehmer aus östlichen Ländern wählen dagegen oft den Affen und die Banane aus, da diese Objekte in die gleiche Umgebung gehören und in einer Beziehung stehen (Affen essen Bananen). Dies ist ein ganzheitlicher Denkstil, bei dem Objekt und Umfeld als miteinander verbunden wahrgenommen werden.

Es gibt einen klassischen Beweis der kulturellen Unterschiede im Denkstil: Dabei schauten Teilnehmer aus Japan und den USA eine Reihe von animierten Szenen an. Jede Szene dauerte etwa 20 Sekunden und zeigte verschiedene Wassertiere, Pflanzen und Felsen in einer Unterwasserlandschaft.

In einem anschließenden Gedächtnistest erinnerten sich beide Teilnehmergruppen gleichermaßen an markante Objekte, nämlich die größeren Fische. Aber die japanischen Teilnehmer waren besser als die amerikanischen Testpersonen, wenn es darum ging, sich an Hintergrundinformationen wie die Farbe des Wassers zu erinnern. Denn ganzheitliches Denken konzentriert sich auf den Hintergrund und das Umfeld ebenso wie auf den Vordergrund.

Dies zeigt deutlich, wie kulturelle Unterschiede etwas so Grundlegendes wie das Gedächtnis beeinflussen können – und jede Theorie dazu sollte dies berücksichtigen. Spätere Studien haben gezeigt, dass kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung allgegenwärtig sind – sie beeinflussen unser Gedächtnis, unsere Aufmerksamkeit, unser Denken und die Art und Weise, wie wir reden.

Auch wie wir uns selbst sehen, hängt von unserem Umfeld ab

Wenn man dich bitten würde, dich selbst zu beschreiben, was würdest du sagen? Würdest du deine persönlichen Eigenschaften nennen – „Ich bin intelligent, ich bin lustig“ – oder würdest du Vorlieben wie „Ich liebe Pizza“ verwenden? Oder würdest du dich über soziale Beziehungen beschreiben: „Ich bin Vater (oder Mutter).“ Sozialpsychologen glaubten lange, dass Menschen sich selbst und andere am ehesten mit festen persönlichen Eigenschaften charakterisieren.

Aber auch das scheint von der Kultur abhängig zu sein, in der wir leben. Menschen in der westlichen Welt sehen sich eher als freie, autonome und einzigartige Individuen, die eine Reihe von festen Eigenschaften haben. In vielen anderen Ländern der Welt aber beschreiben sich Menschen vor allem darüber, wie sie mit anderen verbunden sind und welche Rolle sie in diesen Netzwerken spielen. In Asien, Afrika und Lateinamerika ist das stark ausgeprägt. Grund dafür sind Unterschiede in den sozialen Beziehungen, in Fragen der Motivation und der Erziehung.

Dieser Unterschied in der Selbstwahrnehmung konnte sogar auf der Ebene des Gehirns nachgewiesen werden. In einer Hirnscanning-Studie (fMRT) zeigten Forscher chinesischen und amerikanischen Teilnehmern verschiedene Eigenschaftswörter und fragten sie, wie gut diese Eigenschaften sie selbst beschreiben. Außerdem sollten sie während des Scans darüber nachdenken, wie gut diese Wörter auf ihre Mütter zutreffen (die Mütter selbst waren nicht Teil der Studie).

Bei den amerikanischen Teilnehmern gab es einen deutlichen Unterschied in der Hirnreaktion, wenn sie über sich selbst oder ihre Mutter nachdachten, und zwar im „medialen präfrontalen Cortex“. Das ist die Gehirnregion, die typischerweise für Selbstdarstellungen verantwortlich ist. Bei den chinesischen Teilnehmern gab es jedoch wenig oder gar keinen Unterschied zwischen dem eigenen Selbst und der Mutter. Das deutet darauf hin, dass es bei ihrer Selbstdarstellung und der eines nahen Verwandten eine große Überschneidung gibt.

Es gibt sogar kulturspezifische Krankheitsbilder

Ein weiteres Feld, das ebenfalls von den erwähnten Stichproben mit Universitätsanfängern dominiert wurde, ist das der psychischen Gesundheit. Man muss dazu wissen, dass unsere Kultur unser Verständnis von psychischer Gesundheit auf unterschiedliche Weise beeinflussen kann. Weil es kulturelle Unterschiede im Verhalten gibt, sind die Modelle, die abweichende Verhaltensweisen darstellen sollen, nicht vollständig. Denn was in einer Kultur als normal angesehen werden kann (sagen wir: Bescheidenheit), könnte in einer anderen als von der Norm abweichend gelten (Sozialphobie).

Es scheint außerdem eine Reihe kulturspezifischer Krankheitsbilder zu geben. Einige Beispiele: Koro-Syndrom-Patienten gibt es hauptsächlich in Asien. Das sind Männer, die dem Irrglauben unterliegen, dass sich ihre Genitalien zurückbilden und irgendwann ganz verschwinden werden. Hikikomori (gibt es hauptsächlich in Japan) ist ein Zustand, der zurückgezogen lebende Individuen beschreibt, die sich dem gesellschaftlichen Leben verweigern. Das Böse-Blick-Syndrom (das man meist in den Mittelmeerländern antrifft) ist der Glaube, dass es anderen Menschen Unglück bringen kann, wenn man sie neidisch oder sonstwie missgünstig anschaut. Dass es solche kulturgebundenen Krankheitsbilder gibt, hat vor kurzem sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch die Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft anerkannt.

Kultur hat also offenbar einen massiven Einfluss darauf, wie wir uns selbst sehen und wie wir von anderen wahrgenommen werden – aber wir kratzen bei diesem Thema noch an der Oberfläche. Das Fach ist heute als „Interkulturelle Psychologie“ bekannt und taucht immer öfter auf den Lehrplänen von Universitäten auf der ganzen Welt auf. Die Frage ist noch, inwieweit dieser interkulturelle Ansatz die Psychologie in Zukunft noch prägen wird.

Mehr Forschung könnte uns durchaus zeigen, dass kulturelle Unterschiede in weiteren Bereichen eine Rolle spielen, in denen man bisher davon ausgegangen ist, dass es allgemeingültige Regeln für menschliches Verhalten gibt. Erst dann, wenn wir darüber Bescheid wissen, können wir verstehen, welche Kernprinzipien des menschlichen Geistes wir wirklich alle teilen.


Nicolas Geeraert studierte Psychologie an der Universität Gent und erhielt 2004 seinen Doktortitel in Sozialpsychologie an der Katholischen Universität Louvain-la-Neuve (Löwen) in Belgien. Im Oktober 2004 wechselte er an die Abteilung für Psychologie an der Universität von Essex.

Diesen Artikel veröffentlichte in Englisch The Conversation. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.

Übersetzung: Vera Fröhlich; Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel.

The Conversation