Ich bin normalerweise kein Mensch, der leicht ausflippt. Aber als ich vor Kurzem mit meinem Kollegen Martin Gommel an einer Artikel-Reihe über seine Depressionen gearbeitet habe, war ich kurz davor. Nicht, weil ich mich über Martin aufgeregt habe, sondern weil seine Geschichte ein Beispiel dafür ist, wie Menschen, verzweifelte Menschen, auf die Versprechen selbsternannter Gesundheitsexperten reinfallen können. Das ist an sich nicht neu, es gab schon im Mittelalter Scharlatane, die ihren Holzkarren auf den Marktplatz zogen, um Wundermittel und Heiltinkturen zu verkaufen – und mit ihnen die Hoffnung auf Besserung. Mit YouTube, Blogs und Sozialen Medien können die modernen Quacksalber heute die Massen erreichen. Das ist gefährlich.
Martins Fall ist dafür ein eindrückliches Beispiel. Falls du Martins Trilogie noch nicht gelesen hast (und das solltest du unbedingt tun): An einer Stelle beschreibt er, wie er die Methode eines gewissen Andrew Saul ausprobierte. Der nämlich behauptete, ein Mittel gegen Depressionen zu kennen, das sicherer ist als jede Pille, also weniger Nebenwirkungen hat als die übliche Depressionstherapie (bei der Medikamente eine wichtige Rolle spielen). Seine Form der Depressionstherapie sieht so aus: 1.000 Milligramm Niacin, dreimal am Tag. Das hört sich tatsächlich harmlos an. Niacin ist Vitamin B3, und Vitamine sind gesund, nicht wahr? Das haben wir alle schon als Kinder gelernt. Andrew Saul vermutlich auch und außerdem kennt er den Spruch „viel hilft viel“. Da haut er gleich mal 930 Milligramm auf die empfohlene Vitamin-B3-Tagesdosis drauf und sagt: „Nimm das dreimal am Tag.“ Und schreibt dann ins Internet, dass diese Dosis häufig milde bis mittelstarke Depressionen heilen kann.
Da schrillen bei mir alle Alarmglocken. Doch ich kann mir gut vorstellen, dass sie das nicht unbedingt täten, wäre ich verzweifelt auf der Suche nach Schmerzlinderung und Hilfe bei einer hartnäckigen Krankheit. Sauls Geschäftsmodell beutet genau diese Krisengefühle aus, in denen Menschen bereit sind, auf Kontrolle zu verzichten. Das unterscheidet sich nicht groß von den Methoden der Karrenzieher auf mittelalterlichen Marktplätzen.
„Es gab schon im Mittelalter Scharlatane, die ihren Holzkarren auf den Marktplatz zogen, um Wundermittel und Heiltinkturen zu verkaufen.“
Ich kenne Saul nicht persönlich, und ich möchte das auch nicht ändern, denn er ist mir extrem unsympathisch. Weil er sich eine goldene Nase mit dem Stuss verdient, den er verbreitet. Auf seiner Website blinkt neben seinem Rat ein Link auf Niacin-Pillen, es ist anzunehmen, dass er am Verkauf der Präparate kräftig mitverdient. Seine Bücher, seine Seminare, seine Vorträge – alles kann man gleich bequem buchen, wenn man die Erfolgsgeschichten seiner Niacin-Überdosierungstherapie gelesen und geglaubt hat. Sehr eindrücklich lässt er ehemalige Depressionspatienten von ihren positiven Erfahrungen berichten. In Videos, die mit gefühlsgeladenen Berichten und sphärischer Musik gespickt sind. Da fällt es Zuschauern verständlicherweise schwer, sachlich zu bleiben, kritische Fragen zu stellen.
Am verletzlichsten sind „austherapierte“ Menschen
Selbsternannte Gesundheitsexperten wie Saul haben leichtes Spiel bei denen, die kritisch auf unser Gesundheitssystem schauen, weil sie vielleicht das ganze System für korrupt halten oder einfach lieber sanft behandelt werden möchten und sich in einem zunehmend von Apparaten geprägten Medizinbetrieb nicht mehr gut aufgehoben fühlen. Am verletzlichsten sind die Menschen, denen Ärzte nicht mehr helfen können, „austherapierte“ Krebspatienten zum Beispiel.
Gesundheitsgurus, selbsternannte Heiler und Learning-by-Doing-Experten verdienen mit den Ängsten und Sorgen dieser Menschen Geld. Im besten Fall verkaufen sie großspurig teure Rituale und wirkungslose Substanzen als „Naturheilmittel“, in schlimmeren Fällen verhindern und verzögern sie bewährte Therapien und machen sie schlecht: Aprikosenkerne statt Chemotherapie, Akupunktur statt Desensibilisierung bei schweren Allergien, Nahrungsergänzungsmittel statt Psychotherapie. Das alles ist nicht harmlose Glaubenslehre, sondern skrupellose Geschäftemacherei auf Kosten von verletzlichen Menschen.
Für Laien ist das schwer zu durchschauen, weil Geschäftemacher wie Saul geschickt mit pseudo-wissenschaftlichen Aussagen arbeiten. Vitamin-B3-Mangel hat tatsächlich einen Bezug zu Depressionen, aber Saul verdreht das, was seriöse Untersuchungen herausgefunden haben, um sein Geschäft anzukurbeln. Die Mega-Dosen Vitamin B3, die Saul empfiehlt, zeigen tatsächlich beeindruckende Wirkungen. Nur halt nicht die, die er anpreist. Nach dem Einnehmen blüht der Körper richtig auf, und das ist mehr als unangenehm: rote, juckende Quaddeln, begleitet von Übelkeit und Erbrechen. Und manchmal macht dabei auch noch die Leber schlapp, die Sehkraft kann leiden, das Herz aus dem Takt kommen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnt ausdrücklich vor der Überdosierung. Der Gipfel ist, dass Saul die Nebenwirkungen sogar offen auf seine Website schreibt und kurzerhand für harmlos erklärt.
Eins muss man der Methode aber schon lassen: Wer kotzend über dem Klo hängt oder sich überall kratzen muss, ist erstmal tüchtig von allen anderen Problemen abgelenkt. Und sobald man sich von der Überdosis erholt hat, fühlt man sich auch irgendwie besser. Was ungefähr der gleichen Logik folgt, wie mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, um sein Magengeschwür loszuwerden. Man muss nur genug Anlauf nehmen, dann denkt man hinterher garantiert nicht mehr an seinen Magen.
„Unlautere Heilsversprechen sind nicht nur unsympathisch, sie haben sogar das Zeug dazu, kriminell zu sein.“
Wundert es noch jemanden, dass Menschen deshalb schon ins Krankenhaus mussten und es Todesfälle gab, bei denen nicht klar ist, ob Vitamin-B3-Überdosierung mit dafür verantwortlich ist? Mich nicht. Dafür wundert mich gewaltig, dass das Geschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln und anderen Naturgewalten nicht stärker kontrolliert wird. Das Geschäft brummt: Rund 8.500 Neuanmeldungen von Nahrungsergänzungsmitteln gibt es pro Jahr, 2016 machten die Hersteller über eine Milliarde Umsatz mit den Mitteln (Zahlen der Marktforschungsinstitute IMS Health und Nielsen). Die Leute müssen ja davon ausgehen, dass alles ungefährlich ist, sobald es verkauft werden darf. Schließlich muss man ja nachweisen, dass die Pillen nicht selbst zusammengepanscht sind, sondern unbedenklich. Schön und gut. Klappt aber leider nicht zuverlässig. Nahrungsergänzungsmittel können sogar gefährliche Stoffe enthalten. Besonders oft betroffen sind Präparate, die Abnehmen fördern, Erektionsfähigkeit und Sexualleben verbessern und Muskelaufbau ankurbeln sollen.
Unlautere Heilsversprechen sind nicht nur unsympathisch, sie haben sogar das Zeug dazu, kriminell zu sein. In Deutschland gilt das Heilmittelwerbegesetz, das Werbeaussagen streng reguliert. Doch die falschen Heiler haben Glück – oder nutzen ganz bewusst etwas aus, das die Geschäfte mit Nahrungsergänzungsmitteln so attraktiv macht: Vitamine wie Niacin etwa sind keine Arzneimittel, sondern fallen unter die Lebensmittel. Bei Werbung für Lebensmittel greift das Heilmittelwerbegesetz nicht, man darf sie als gesundheitsfördernd bewerben. Trotzdem darf man keine überzogenen Heilsversprechen machen, zum Beispiel behaupten, sie heilten eine bestimmte Krankheit. Saul bewegt sich da auf einem schmalen Grat. Aber seine Website ist auf Englisch, der Verantwortliche US-Amerikaner. Saul kann für seine Praktiken also nicht so leicht abgemahnt werden.
Reinigungsrituale sollen ewige Gesundheit garantieren
Sowieso steht er hier aber ja nur stellvertretend für eine ganze Heerschar skrupelloser Heiler, die mit alternativen, natürlichen und naturidentischen Methoden Reibach machen. Die Schauspielerin Gwyneth Paltrow hat einen Internethandel gegründet und will mit obskuren Reinigungsritualen und abgefahrenen Produkten zu mehr Gesundheit und Wohlbefinden verhelfen. Dort werden zum Beispiel Jade-Eier verkauft, die sich Frauen in die Scheide einführen sollen, um Blasenschwäche vorzubeugen und mehr Spaß am Orgasmus haben zu können. Dabei bewirken die Steineier jeweils das Gegenteil, wie hier legendär erklärt von der Gynäkologin Jennifer Gunter (auf Englisch).
Viele bedienen den Mythos, dass Reinigungsrituale und Reinhaltemaßnahmen ewige Gesundheit garantieren. Die Trends dazu sind Clean-Eating, Entgiftung und Entschlackung. Da kann man lesen, dass Kokosöl angeblich Alzheimer heilt, teure Goji-Beeren für elf Euro die 100 Gramm gegen Krebs helfen und die Noni-Frucht gar ein Wundermittel gegen alle möglichen Beschwerden sei. Nichts davon hält wissenschaftlicher Überprüfung stand. Es sind leere Behauptungen.
„Das Sprachbild des Reinen, Schönen, Guten wird häufig bedient und für Inhaltstoffe und Anwendungsrituale herangezogen.“
Besonders unter den Anhängern von Esoterik tummeln sich viele zwielichtige Wundermittelverkäufer und Heilkünstler, die Grenzen zur Heilpraktik sind fließend. Für die Beschreibung ihrer Methoden leihen sie sich Vokabeln von den Naturwissenschaften (Teilchenschwingung, Quantenmechanik), aber die Herleitungen entbehren jeder naturwissenschaftlichen Grundlage. Auch die Natur selbst liefert den Stoff für Legenden und Mythen, wenn es darum geht, mit reinen, naturbelassenen oder natürlichen Substanzen zu arbeiten, die gerne handgepflückt und in besonders schonenden Verfahren hergestellt wurden. Das Sprachbild des Reinen, Schönen, Guten wird häufig bedient und für Inhaltstoffe und Anwendungsrituale herangezogen. Man liest da vom „alten Wissen der reinen Pflanzenessenzen“ oder von „Entgiftungskuren, die den Körper von gefährlichen Schlacken befreien“ sollen. Doch was meist fehlt, ist eine ordentliche Untersuchung dazu, ob die Mittel, die wir dafür kaufen sollen, wirklich wirken und erst recht, ob sie besser wirken als die geprüften Verfahren der Medizin. Darüber gibt es viel Streit zwischen den Anhängern der sanften Medizin – wie sie es gerne nennen – und den Experten der wissenschaftlichen Medizin. Dabei ist per Definition nur das als Medizin zu bezeichnen, was wirkt. Und das lässt sich nur durch ordentliche Untersuchungen herausfinden, nämlich klinischen Studien.
Panikmache, falsche Versprechen und Scheinbeweise
Es stimmt schon: Die Medizin ist da selbst noch auf dem Weg, denn längst nicht alle Verfahren, die etabliert sind, erfüllen diese Ansprüche. Der Unterschied zu selbsternannten Experten besteht aber darin, dass diese Wissenslücken bekannt sind und der Anspruch besteht, sie abzubauen. Im Idealfall klären Ärzte und Therapeuten vor einer Behandlung darüber auf. Wenn aber in diesen Aufklärungsgesprächen nicht gut genug erklärt wird, was Nutzen und Risiken von Therapien bedeuten oder wenn sie gleich ganz ausbleiben – was leider nicht selten passiert – nährt das Zweifel und Misstrauen. Immer mehr Menschen sind unter anderem deshalb enttäuscht vom Medizinbetrieb, das sollten Mediziner und Krankenkassen viel ernster nehmen und sich überlegen, wie man das verbessern könnte. Hier braucht es noch viel mehr Selbstkritik, vor allem bei Entscheidern. Denn „das System“ wird von Menschen gestaltet, die in der Regel nicht mit Patienten arbeiten. Etwas, das man auch dringend ändern sollte, wie ich finde.
Ein weiteres Problem mit selbsternannten „Experten“ wie Saul einer ist, ist, dass man ihnen ihren Blödsinn abnimmt, weil man glaubt, es mit echten Experten zu tun zu haben. Saul etwa hat schließlich einen Doktortitel! Steht bei Wikipedia. Ein Beweis dafür, dass er berühmt, wichtig und schlau ist. Und, dass er sein Fach versteht – könnte man meinen. Er hat schließlich in Greenwich promoviert. Sein Spezialgebiet ist – aufgepasst: Verhaltensbiologie. Von Tieren. Nur steht das leider nicht auf seiner Website. Dafür aber: „Andrew Saul ist Mitglied im Redaktionsbeirat der Zeitschrift für Orthomolekulare Medizin und Chefredakteur des Orthomolekular-News-Service.“ Na bitte, klingt doch seriös!
„Wundermittelverkäufer setzen ohne zu zögern die Gesundheit von Kindern aufs Spiel.“
Ist es aber leider nicht. Der News-Service ist über eine von Sauls Websites abrufbar (Saul hat mehrere) und ist im Prinzip ein Newsletter – allerdings einer, der keine vertrauenswürdigen Informationen bereitstellt. Saul gibt an, so gegen die Desinformation der Pharmaindustrie zu kämpfen und Journalisten und Interessierte mit der Wahrheit über die Orthomolekularmedizin zu versorgen. Sie könne Leben retten. Das Problem: Der Service ahmt die Methoden von verlässlichen Gesundheitsinformationen nur nach, zitiert Studien (deren Qualität zweifelhaft ist) und arbeitet mit angsterzeugenden Aussagen. Ein weit verbreitetes Problem, mit dem weitere Verwirrung gestiftet wird. Das Ziel ist, noch effektiver zu manipulieren, denn diejenigen, die man mit Panikmache, Lügen und falschen Versprechungen nicht erreicht, versucht man mit Scheinbeweisen zu überzeugen. Das ist extrem schwer zu durchschauen. Selbst Medizinexperten müssen sich die Mühe machen und ganz genau hinsehen, weil verlässliche und richtige Aussagen mit falschen und irreführenden vermischt werden und Transparenz nur vorgetäuscht wird. Der Erfolg von ganzen Portalen beruht auf diesem Prinzip.
Es ist gar nicht so leicht, gegen diese Art der Irreführung vorzugehen. Und wer es versucht, muss oft feststellen, dass nicht immer klar ist, welche Behörde nun zuständig ist. Ein eindrückliches Beispiel dafür haben die Kollegen von MedWatch recherchiert. Da taten sich die Behörden schwer, einen Kongress zu überwachen, bei dem in den Jahren zuvor unerlaubte „Wundermittel“ gegen Autismus verkauft worden sind. Das Mittel: ätzendes Chlordioxid, das unter einem anderen Label verkauft wird und schweren Schaden anrichtete, darunter auch bei Kindern mit Autismus, deren Eltern geglaubt hatten, dass sie damit den Wurmbefall, der angeblich dafür verantwortlich sein sollte, bekämpfen können. Unglaublich, dass Wundermittelverkäufer nicht vor solchen dreisten Lügengeschichten zurückschrecken! Sie setzen ohne zu zögern die Gesundheit von Kindern aufs Spiel, die sowieso schon in höchster Not sind, weil es so viele Mythen über Autismus gibt. Und machen noch dazu verzweifelte Eltern zu Tätern. Ein Skandal!
Diese Geschichte ist zwar ein Extremfall, aber man sieht an ihr sehr gut, wie wenig Hebel die Behörden haben, wenn es darum geht, Patienten zu schützen. Selbst, wenn einzelne Akteure verurteilt werden, lässt sich so das Problem noch nicht aus der Welt schaffen.
„Die falschen Experten geben die Verantwortung zurück an den Kranken – vielleicht hat er ja nicht genug an die Wirkung geglaubt?“
Die Masche der Scheinexperten funktioniert, und wie sie aussieht, ist kein großes Geheimnis. Zuerst stellen sie eine Behauptung auf und kreieren einen Scheinbeweis dafür. Dann schreiben sie ein Buch darüber. Bauen sich eine Website, die ihr Buch promotet. Veröffentlichen Artikel im Internet. Schalten Anzeigen in Käseblättern, weil die von vielen Leichtgläubigen gelesen werden. Halten Vorträge. Produzieren Videos für YouTube. Setzen Profile in sozialen Medien auf. Vernetzen sich mit Gleichgesinnten, damit sie sich gegenseitig weiterempfehlen können. Lassen sich vielleicht sogar als Talkshow-Gast einladen, wenn es gut läuft und ihre Postings genügend oft von Zeitungen zitiert wurden. Oder sie vertreiben die Mittel, die sie empfehlen auch noch selbst. Damit haben sie einen ewigen Kreislauf geschaffen, der sich selbst nährt. Eine Gelddruckmaschine. Ein Circle of Life.
Oder eher gesagt ein Feedback-Loop, ein Scheinbeweis also. Der geht so: Man stellt eine Behauptung auf und denkt darauf so lange herum, bis man einen Schritt weiterkommt. Diese Schlussfolgerung nimmt man dann, wendet sie dreimal und nimmt sie jetzt als Beweis dafür, dass die ursprüngliche Behauptung stimmt.
Nehmen wir als Beispiel noch einmal Sauls Methode. Wie ich oben schon erwähnt habe, konnten manche Untersuchungen tatsächlich feststellen, dass einige depressive Menschen, einen Vitamin-B3-Mangel haben. Weitere Untersuchungen haben daraufhin den Schluss nahegelegt, dass Depressionen durch diesen Vitaminmangel begünstigt werden können. Man achte auf die Formulierung: begünstigt werden können.
Daraus machen wir jetzt einen Feedback-Loop. Der funktioniert so: Vitamin-B3-Mangel kann Depressionen begünstigen (Fakt). Daraus schließen wir, dass alle (!) Menschen mit Depressionen einen (oft unentdeckten) Vitamin-B3-Mangel haben (falsch). Daraus ergibt sich, dass Vitamin-B3-Mangel Depressionen verursacht (falsch, imitiert aber den Fakt). Menschen mit Depressionen werden so in die Irre geführt und folgen dem falschen Rat. Eine eventuell eintretende kurzzeitige Verbesserung wird medial ausgeschlachtet und hilft dabei mit, dass sich der Irrglaube weiter verbreitet. Wenn jemand Zweifel an der Therapie hat, kann er aber in seriösen Infos den Hinweis finden, dass Vitamin-B3-Mangel Depressionen begünstigen kann. Das hält den Irrglauben-Kreislauf unbeabsichtigt am Leben.
So kann man Menschen mit Depressionen vormachen, dass überdosiertes Vitamin B3 ihnen helfen wird. Die krassen Nebenwirkungen dieser Scheintherapie können dazu führen, dass ein depressiver Mensch sein Leiden anders bewertet und sich kurzzeitig besser fühlt. Bei anderen Mitteln in anderen Situationen kann es sein, dass sich Menschen insgesamt gar nicht besser fühlen oder sogar schlechter. Das wird dann gerne Erstverschlimmerung genannt. Oder es wird gesagt, dass man die Mittel länger einnehmen muss, aber unbedingt in der richtigen Weise. Damit geben die falschen Experten die Verantwortung zurück an den Kranken. Vielleicht hat er ja nicht genug an die Wirkung geglaubt, womöglich „unbewusst“?
„Sachlichkeit ist bei Gesundheitsinfos ein Qualitätsmerkmal. Und Transparenz.“
In Deutschland haben Patienten Rechte. Sie haben zum Beispiel das Recht auf Information und Aufklärung. Und diese Aufklärung sollte den Regeln der Medizin entsprechen. Solche Feedback-Loops fallen da aber durch. In der Medizin mag es zwar noch viele offene Fragen geben, die gehören dann aber genauso in ein Aufklärungsgespräch wie die gesicherten Antworten. Die Entscheidung, welche Therapie für die Patienten am besten passt, muss jeder selbst treffen. Die roten Lampen sollten angehen, wenn in dieser Situation mit Angstmacherei, übertriebenen Heilsversprechen oder sogar Drohungen gearbeitet wird. Das ist im direkten Gespräch vielleicht noch relativ gut zu spüren. Aber wenn man Entscheidungen aufgrund von Texten und Videos im Internet trifft, sollte man doppelt vorsichtig sein und sich fragen, wie gute Gesundheitsinformationen eigentlich aussehen sollten.
Prozentangaben ohne Ausgangswert sind nutzlos
Faire Infos machen klar, wo die Risiken und Chancen liegen und wie deren Verteilung ist – in absoluten Zahlen, wenn möglich. Prozentangaben helfen nicht dabei, ein vollständiges Bild zu bekommen, denn sie stellen die Wahrscheinlichkeiten für Erfolg und Misserfolg einer Behandlung nicht unmissverständlich dar. Oft wird der Ausgangswert nämlich nicht dazugesagt. Wenn ich euch erzähle, dass ich meine Joggingstrecke um 100 Prozent verbessert habe, also verdoppelt, wirkt das sehr beeindruckend. Aber seid ihr immer noch so beeindruckt, wenn ich zugebe, dass ich vorher nur 500 Meter ohne Pause gelaufen bin und jetzt 1.000 schaffe? Vermutlich nicht. Und das zu Recht. Deswegen solltet ihr euch nicht mit Prozentangaben bei Gesundheitsinfos zufriedengeben, sondern nachfragen, wie die absoluten Zahlen aussehen.
Außerdem erklären verlässliche Infos auch, wie abgesichert dieses Wissen ist, also wie gut die Studienlage dazu ist. Und sie geben ehrlich Auskunft darüber, welche Möglichkeiten man daneben noch hat und was passieren kann, wenn man auf empfohlene Therapien verzichtet. Aber alles, ohne Ängste zu schüren. Deshalb kann man sagen: Sachlichkeit ist bei Gesundheitsinfos ein Qualitätsmerkmal. Und Transparenz. Es sollte immer klar ersichtlich sein, wo die Info herkommt. Das ist bei irreführenden Infos oft nicht der Fall.
Bei Gesundheitsfragen gilt: Kontrolle und Transparenz sind besser. Ein Lob auf die Zweitmeinung, ein Hoch auf gute und unabhängige Beratungsangebote. Von denen gibt es einige. Ich habe ein paar hier in diesem Google-Dokument aufgelistet.
Zum Abschluss muss ich meinen Ärger aber noch mal rauslassen. Das ist für dich, Saul, du bekommst das jetzt stellvertretend für deine Zunft ab: Ich würde dir gerne einmal die von dir empfohlene Menge Niacin ins Müsli rühren. Damit du am eigenen Leib spürst, wie hundeelend es all den Menschen geht, denen du falsche Hoffnung machst und die dann zum Beispiel anderthalb Stunden lang immer wieder zum Klo rennen, bis nur noch Galle kommt. Natürlich würde ich das nicht wirklich tun, denn ich habe ein Gewissen. Anders als du, der du dich auf deiner hässlichen Website als Mega-Vitamin-Mann abbilden lässt, im Supermann-Kostüm. Ich könnte kotzen. Ganz ohne Vitamin-Überdosis.
Im Krautreporter Podcast „Verstehe die Zusammenhänge“ spricht Martin Gommel mit Silke Jäger über ihren Artikel:
Falsche Heiler und selbsternannte Gesundheitsexperten tummeln sich im Internet und verbreiten Ratschläge, mit denen sie sich selbst ins Rampenlicht stellen. Eigentlich ist das Phänomen kein neues und man könnte meinen, selbst sofort zu merken, wenn etwas nicht stimmt. Doch dann fiel Martin selbst auf einen dieser Gurus rein – und merkte es viel zu spät. Es hätte gefährlich für ihn werden können. Doch wie kann man solche falschen Experten durchschauen?
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: unsplash / Rhett Wesley).