Als ich jung war, gab es keine Pille. Sex wollten wir trotzdem

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Psyche und Gesundheit

Als ich jung war, gab es keine Pille. Sex wollten wir trotzdem

Die Vorstellung, mit seinen Kindern über Sex zu reden, war in meiner Jugend völlig abwegig. Heute kann sich niemand vorstellen, wie kompliziert das für uns war.

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Ich bin 1945 geboren, in West Virginia, heute bin ich 72. Aufgewachsen bin ich auf einer kleinen Farm draußen im Hinterland, die man über fünf Meilen unbefestigte Straße erreichte. In meiner Jugend hat niemand offen über Sexualität gesprochen.

Wenn ich zurückdenke, weiß ich ehrlich gesagt nicht, was meine Schwestern und ich den ganzen Tag über gemacht haben. Meine Mutter erledigte die ganze Landarbeit, fuhr den Traktor, säte, melkte, machte Butter und Brot. Mein Vater war viel unterwegs. Wir vergnügten uns mit unschuldigen, einfachen Dingen. Wir nahmen Queen-Anne-Spitze, nähten sie zusammen und machten daraus Puppenkleidung. Ich glaube nicht, dass ich Hausarbeiten zu erledigen hatte.

Hier ein kleines Beispiel dazu, wie unterdrückt und abwegig damals die Vorstellung schien, dass man über Sex mit seinen Kindern redete. Ich konnte schon früh lesen und buchstabieren. Einmal, ich muss drei oder vier Jahre alt gewesen sein, habe ich die Betonung von Wörtern geübt. Ich begann mit der Endung „uck“ und sagte: „a uck, b uck, c uck, c uck, d uck …“. Und als ich dann bei F ankam, explodierte meine Mutter und rief:

„Ich will dieses Wort nie wieder hören, das ist das schmutzigste Wort überhaupt!“ Das ist ein Wort, das ich jetzt mehrmals am Tag verwende.

Ich lebte für meine Fantasien

Ich war ein kluges Kind, aber auch ziemlich weltfremd. Schon in der Volksschule, bevor ich überhaupt wusste, was Sex ist, hatte ich lebhafte Fantasien. In der siebten Klasse kamen ein paar richtig große Jungs in unsere Schule, und ich war sehr in einen von ihnen verknallt, in Bill. Ich hatte viele Fantasien, in denen er vorkam, nichts Sexuelles, weil ich noch nicht wusste, was Sex ist. Ich stellte mir zum Beispiel vor, dass ich ohnmächtig wurde und Bill mich auffing – oder dass ich einen hysterischen Weinkrampf hatte und er mich tröstete. Oder sehr krank war, und er sich um mich kümmerte. Ich hatte auch Fantasien über einen Außerirdischen im Weltraum, der kam und mich für immer entführte, aber dann verliebten wir uns ineinander. Oder Cowboy-Fantasien, es gab damals viele Cowboys im Fernsehen.

Ich habe es nie jemandem erzählt, aber ich habe für diese Fantasien gelebt, sie waren ein sehr wichtiger Teil meines Innenlebens. Eine Weile lang dachte ich sogar, dass ich Schauspielerin werden sollte, weil ich so viel Spaß an diesen Fantasien hatte. Ich war aber zu schüchtern, also wurde ich stattdessen Schriftstellerin.

Fantasien hatte ich immer wieder, bis in meinen Fünfzigern. Bis meine Ehe auseinanderbrach und für mich das wirkliche Leben begann. Seitdem habe ich keine Fantasien mehr gehabt.

Meine Mutter und ihre blaue Schachtel

Ein weiteres Beispiel dafür, wie geheimnisvoll die Dinge für mich als Kind bei uns zu Hause waren, war die blaue Schachtel meiner Mutter. Diese blaue Schachtel war eine Sache großer Geheimhaltung und machte mich sehr neugierig. Ab und zu sagte meine Mutter zu meinem Vater, dass sie etwas aus der blauen Box holen müsse. Es war, als würde sie in einer Geheimsprache reden. Wenn wir nachfragten, sagte sie nur, dass sie es uns erklären würde, wenn wir älter wären.

Nie wäre ich auf die Idee gekommen, mich reinzuschleichen und nachzusehen. Die Reaktion, die ich von meiner Mutter auf das „uck“-Wort bekommen hatte, hatte mir gereicht. Außerdem wusste ich auch nicht, wo sie die Schachtel aufbewahrte.

Die ominöse blaue Schachtel

Die ominöse blaue Schachtel

Als ich zehn Jahre alt war, wir hatten kurz vorher die Farm verlassen und waren nach Cincinnati gezogen, fragte ich: „Wann bin ich denn alt genug, um zu wissen, was in der blauen Schachtel ist?“ Meine Mutter überlegte und sagte: „Vielleicht jetzt.“ Wir waren gerade draußen und verbrannten Gestrüpp, und sie erzählte mir vom Menstruieren und davon, wie eine Frau einmal im Monat schwanger werden konnte – und dass in der mysteriösen blauen Schachtel Binden steckten.

Geschlechtsverkehr … ja, was ist das?

Über Geschlechtsverkehr verlor sie allerdings kein Wort. Ich war schon im zweiten Jahr der High School, als ich endlich herausfand, was das war. Im Unterricht ging es um Gesundheitsfragen, und unsere Lehrerin forderte uns auf, alle Fragen, die wir hatten, anonym aufzuschreiben und weiterzugeben. Ich hatte nicht genug Ahnung, um etwas Spannendes zu fragen. Aber jemand anderes schon. Also kam die Frage auf: „Was ist Geschlechtsverkehr?“

Als die Lehrerin diese Frage vorlas, dachte ich, ja … Was ist das denn? Sie erklärte uns, das sei, wenn ein Mann seinen Penis in die Vagina einer Frau einführt. Mehr nicht. Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter, dass unsere Lehrerin uns gesagt hatte, was Geschlechtsverkehr ist. Sie fragte: „Oh, was hat sie gesagt?“ Ich beschrieb es ihr und sie meinte: „Hm, ich schätze, das ist ungefähr richtig.“ Das war das Ende des Gesprächs.

Schwangerschaften waren in meiner Jugend ein großes Problem, da die Revolution in der Geburtenkontrolle noch bevorstand. Es gab Mädchen in meiner High School, die schwanger wurden. Meine Schwester war eine von ihnen, und zwar gleich zweimal. Beim ersten Mal war sie in der Oberstufe. Meine Mutter behauptet, dass sie sie zu unserer Hausärztin gebracht habe und die ihr Medikamente gegeben habe, um eine Fehlgeburt zu bewirken. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so passiert ist. Ich glaube nicht, dass eine Ärztin das getan hätte. Aber kürzlich habe ich gelesen, dass es unter Frauen historisch immer ein gewissen Wissen darüber gab, was einen Abort bewirken kann. Letztlich weiß ich nicht, was passiert ist. Danach jedenfalls versprachen meine Schwester und ihr Freund, dass sie nie wieder Sex haben würden. Aber ein paar Jahre später wurde sie doch wieder schwanger.

Ich hatte Angst vor dem Schwangerwerden. Ich der Grundschule und der High School war ich kein besonders attraktives Mädchen. Jungs hatten kein Interesse an mir, bis ich älter war. Aber selbst, als ich anfing, mit Jungs auszugehen, hatten wir keinen Sex, weil ich zu viel Angst hatte.

Wie machten wie verrückt rum – aber wir hatten keinen Sex

In meinem ersten Jahr am College kam mein Freund an Thanksgiving zu mir – es war das Thanksgiving, an dem Kennedy ermordet wurde, 1963. Eine Freundin und ich hatten uns ein Hotelzimmer genommen und mein Freund und sein Kumpel ein anderes. Dann haben wir getauscht. Wir zogen uns bis auf die Unterwäsche aus und machten das ganze Wochenende über wie verrückt rum. Aber wir hatten keinen Sex. Im Nachhinein tut es mir leid. Aber vor der Empfängnisverhütung mit der Pille war es ein zu großes Risiko.

https://youtu.be/KmYSNOEsukM

Als ich das Haus meiner Eltern verließ, beschloss ich, mich mit meinem Körper wohl zu fühlen und meine Sexualität zu akzeptieren und zu genießen. In einem Magazin las ich etwas über eine polynesische Insel, auf der es einen Mangel an Männern gab. Die Frauen gingen damit ganz praktisch um – sie teilten sich die Männer. Einer der Männer in der Geschichte hatte sich in ein Mädchen verliebt und er wollte mit ihr eine monogame Beziehung führen. Aber ihre Schwester hatte keinen Mann und wollte ein Baby. Also gab das Mädchen ihm den Auftrag, mit allen Frauen, die keinen Partner hatten, Babys zu zeugen. Das berührte mich, weil es mir zeigte, dass Sexualität natürlicher und flexibler ist, als man mir beigebracht hatte.

Meinen Kindern wollte ich das nicht antun

Später, als ich Kinder hatte, traf ich eine sehr bewusste Entscheidung darüber, wie ich sie in Bezug auf ihre Sexualität erziehen würde. Ich wollte meinen Kindern nicht das antun, was meine Mutter mir angetan hatte. Ich ließ sie viel nackt herumlaufen, damit sie sich nicht für ihre Körper schämen.

Leider hat das nicht funktioniert. Alle meine Kinder schämten sich irgendwann für ihre Körper. Egal, wie viel Mühe man sich bei der Erziehung seiner Kinder gibt: Andere Menschen beeinflussen sie ja auch. Vielleicht hat es meinen Kindern letztlich sogar Probleme bereitet, dass ich ihnen ein Gefühl bedingungsloser Akzeptanz vermittelt habe. Als sie dann in die große weite Welt gingen, mussten sie lernen, dass nicht alle Menschen das so sehen.

Als meine Ältesten etwa zwei und drei Jahre alt waren, gingen wir zum Haus meiner Mutter. Ich ließ sie nackt herumlaufen. Meine Mutter war nicht sehr angetan. Sie sagte ihnen: „Deck das zu! Das ist hässlich!“ Danach brach ich die Beziehungen ungefähr fünfzehn Jahre lang ab. Ich wollte nicht, dass sie meinen Kindern diese Einstellungen aufzwingt.

Die Mutter war sich nicht sicher, wer ihr Vater war

Ich verstehe nicht wirklich, warum meine Mutter so voreingenommen und empört über Sexualität und Schwangerschaft außerhalb der Ehe war. Vielleicht wollte sie nicht wie ihre eigene Mutter sein, zu der sie eine schwierige Beziehung hatte. Und sie wollte nicht, dass ihre Töchter ihrer Großmutter ähnelten.

Denn die Mutter meiner Mutter hatte ein uneheliches Kind. Und sie war in den Mann ihrer Schwester verliebt. Meine Mutter war sich deshalb nie sicher, wer wirklich ihr Vater war. Sie glaubt, dass sie und zwei ihrer Schwestern von ihrem Onkel gezeugt wurden. Nur ihre jüngere Schwester soll von dem Mann sein, mit dem ihre Mutter verheiratet war.

Ich denke, meine Mutter hat einfach nicht das Recht, andere zu kritisieren.


Diese Geschichte ist Teil des Projekts „Stumbling on Sexuality“ der in Berlin lebenden US-Amerikanerin Shauna Blackmon. Shauna Blackmon spricht mit Menschen darüber, wie sie mit Sexualität in Berührung gekommen sind und wie sie das geprägt hat. Man kann auch seine eigene Geschichte vorschlagen. Mehr zum Thema hier.

Übersetzung aus dem Englischen und Produktion: Vera Fröhlich; Schlussredaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacher: unsplash / Tracey Hocking) .