Wie Einsamkeit uns krank macht – und wie wir ihr entrinnen können

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Psyche und Gesundheit

Wie Einsamkeit uns krank macht – und wie wir ihr entrinnen können

Als Großbritannien eine Staatssekretärin gegen Einsamkeit ernannte, sorgte das erst für Verwunderung. Dann begann eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Denn viele Millionen alte und junge Menschen sind einsam – auch in Deutschland. Warum das Gefühl sozialer Isolation so gefährlich ist, und was wir dagegen tun können.

Profilbild von von Xenia von Polier, „enorm“-Magazin

Stark und unabhängig wollte Anna sein – zum erstem Mal ganz alleine leben und ihren Alltag selbst gestalten. Also verließ sie vor drei Jahren das Haus ihrer Eltern, wo mit ihren zwei Geschwistern und den Großeltern drumherum immerzu Trubel herrschte.

Ab sofort sollte eine eigene kleine Wohnung ihr neues Zuhause sein, zwar auch in ihrer Heimat Berlin, doch in einem anderen Bezirk als ihre Familie. Aus Lärm wurde Stille. Und mit ihr tauchte bei Anna plötzlich auch ein Gefühl auf, das sie vorher kaum kannte: „Es bestand aus Traurigkeit, manchmal auch aus Vermissen, Chaos, dem Eindruck, all meine Gedanken nicht mitteilen zu können, nicht verstanden zu werden“, erzählt die heute 23-Jährige. „So viele Dinge kreisten in meinem Kopf herum und konnten nicht raus.“ Das Gefühl war Einsamkeit.

Fast jeden Menschen überkommt sie irgendwann im Laufe des Lebens. Oft sind es kurze Momente, mal sind es Phasen, häufig entsteht die Einsamkeit, wenn wir alleine sind, aber manchmal spüren wir sie auch unter Menschen, von denen wir uns ausgeschlossen fühlen, mit denen wir gerade keine richtige Verbindung aufbauen können. Bei Anna waren es Unikurse, in denen sie ohne ihre Freunde saß und plötzlich merkte, dass sie mit den Leuten nicht so gut harmonierte, sagt sie.

Bis heute fühlt sie diese Traurigkeit gelegentlich, zum Beispiel wenn ihr Freund mal wieder länger beruflich im Ausland ist. Dass sie von diesen Momenten der Einsamkeit erzählt, ist dennoch eine Ausnahme. Selbst ihr Freund weiß erst seit Kurzem davon. Wenn er in der Ferne ist, sagt sie am Telefon einfach nur: „Ich habe dich vermisst.“

„Einsamkeit ist ein Signal. Sie sagt uns: Mit unseren sozialen Beziehungen ist etwas nicht in Ordnung.“

Über Einsamkeit spricht man nicht, so scheint es. Auch Anna tut es nur mit der Zusage, dass hier auf ihren echten Namen verzichtet wird. „Sie wird schnell mit Depressionen assoziiert“, sagt die junge Frau. „Das rückt einen in so eine dunkle Ecke, der sich niemand gern zugehörig fühlen möchte.“ Gleichzeitig zeigen immer mehr Studien, wie gravierend die Folgen dieses starken Gefühls sein können und wie viele Menschen in Deutschland darunter leiden.

Maike Luhmann, Psychologie-Professorin an der Ruhr-Uni Bochum, hat gemeinsam mit einer amerikanischen Kollegin 2016 auf Basis von Daten aus dem Sozioökonomischen Panel eine große Studie zur Einsamkeit veröffentlicht. Vor allem ein Ergebnis der Angaben von 16.000 Menschen überraschte sie: Es sind nicht nur die Alten, die über 85-Jährigen, von denen jeder Fünfte unter Einsamkeit leidet, auch von den 25- bis 35-Jährigen gaben 14,8 Prozent an, manchmal einsam zu sein. Fast genauso viele waren es unter den 50-Jährigen.

„Bei den Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, können wir uns noch ganz gut erklären, warum es ihnen an Kontakten fehlt“, sagt Luhmann. „Sie haben oft gesundheitliche Einschränkungen und Freunde und Angehörige werden weniger, weil immer mehr Gleichaltrige sterben.“ Nur woher kommt die Einsamkeit bei den 30- und 50-Jährigen?

Bisher hat Luhmann dazu nur Hypothesen, die nötigen Daten fehlen noch. „Vielleicht entsteht die Einsamkeit bei den jüngeren Menschen durch die Rushhour des Lebens. Es gibt Umbrüche, und vieles muss gleichzeitig geschehen: Familie gründen, Haus bauen, im Beruf vorankommen. Das führt bei vielen dazu, dass kaum noch Zeit für Freundschaften bleibt.“ Und in der Lebensmitte? „Da könnte es einen Zusammenhang mit dem Auszug der Kinder geben“, vermutet die Wissenschaftlerin.

Ein Sog negativer Emotionen

Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, Digitalisierung – einige Aspekte des modernen Lebensstils sind nicht so leicht vereinbar mit dem, was der Mensch im Kern ist: ein soziales Wesen. Der persönliche Austausch mit anderen ist für uns existenziell. Wer verstehen will, warum, muss viele Jahrtausende zurückblicken. Bei den Urmenschen hat sich das Gefühl von Einsamkeit entwickelt, um ihr Überleben zu sichern. Sie waren ohne die Zugehörigkeit zu einer Gruppe schnell verloren. Hunger und Kälte waren ohne den Schutz des Clans große Gefahren. Auch wilde Tiere konnten die frühen Homo sapiens angreifen, wenn sie alleine schliefen.

John Cacioppo, ein Wissenschaftler der University of Chicago, der die Forschung zur Einsamkeit am weitesten vorangebracht hat, vergleicht das Gefühl daher mit dem Hunger. In dem Buch „Einsamkeit: Woher sie kommt, was sie bewirkt, wie man ihr entrinnt“ erklären er und sein Kollege William Patrick: Wenn der Magen knurrt, motiviert uns das, etwas zu essen. Ebenso ist auch die Einsamkeit ein Signal. Sie sagt uns: Mit unseren sozialen Beziehungen ist etwas nicht in Ordnung. Wir müssen raus aus der Isolation. Das sollte man ernst nehmen.

Anna tat das. Als sie feststellte, dass sie kein Mensch ist, der gut alleine leben kann, kaufte sie sich zunächst eine Katze. Mit der war es zu Hause schon nicht mehr ganz so leise. Und vor einem Jahr zog sie mit ihrem Freund zusammen. Die Studentin wurde sich bewusst, was ihr gut tut, und sie lernte mit den Momenten, in denen sie allein war und die Gedanken zu kreisen begannen, besser umzugehen. Inzwischen geht Anna dann eine Runde Laufen oder sie ruft kurz bei ihren Freunden oder bei ihren Eltern an. Manchmal schreibt Anna aber auch einfach alles auf, was ihr im Kopf herumschwirrt. „Das hilft mir zu gucken, was davon wirklich wichtig ist und was ich loslassen kann“, sagt sie.

Anna verhinderte so, dass aus den Momenten von Einsamkeit jene chronische Einsamkeit entsteht, vor der Psychologen warnen. Denn die soziale Isolation führt schnell in einen Sog negativer Emotionen: Man wird zunehmend innerlich angefressen und reagiert dünnhäutig. Das Misstrauen gegenüber den Mitmenschen wächst, und auf einmal beginnen einsame Menschen, selbst neutrale oder positive Situationen als Kritik zu werten und reagieren entsprechend. Zahlreiche kleine Schritte führen so chronisch Einsame immer weiter ins soziale Abseits. In extremen Fällen geraten die Betroffenen oft auch in eine Depression, 42 Prozent der dauerhaft Einsamen haben sogar Selbstmordgedanken, wie eine Studie der Universität Mainz 2017 ergab.

So schädlich wie 15 Zigaretten pro Tag

Das Problem ist aber nicht nur, dass es dem Leben immer mehr an Farbe und Fröhlichkeit fehlt, unbemerkt reagiert auch der Körper. Wie sehr, das haben Psychologen aus den USA berechnet: Ihre Untersuchungen zeigten, dass sich durch chronische Einsamkeit die Lebenserwartung ähnlich stark verringert, wie bei Rauchern, die 15 Zigaretten pro Tag durchziehen. Wie das möglich ist?

Auch hierfür hat John Cacioppo eine Erklärung geliefert. Er fand 2015 heraus, dass bei anhaltender Einsamkeit irgendwann Gene im Erbgut aktiviert werden, die die Immunabwehr senken. Gleichzeitig setzen Stressreaktionen ein. „Einsamkeit wirkt sich auch auf die Hormonausschüttung aus“, sagt Sonia Lippke, Gesundheitspsychologin an der Jacobs University in Bremen.

„Wenn darüber debattiert wird, was ein gesundes Leben ist, wie die Menschen gesünder, zufriedener und länger leben, muss auch die Einsamkeit thematisiert werden.“

Untersuchungen mit älteren, einsamen Menschen ergaben eine höhere Konzentration der Hormone Adrenalin und Cortisol. „Bei Personen, die sich sozial isoliert fühlen, wird zudem das Bindungshormon Oxytocin, das Heilungsprozesse unterstützt, weniger stark ausgeschüttet“, erklärt die Professorin. Andere Studien machten deutlich, dass das anhaltende Gefühl, ausgegrenzt zu sein, zudem das Herz-Kreislaufsystem beeinträchtigt, es macht anfälliger für erhöhten Blutdruck, Diabetes, lässt die Betroffenen stärker unter Erkältungen leiden und bewirkt, dass sie vorzeitig altern.

Für die Gesellschaft heißt das: Sie muss die Folgen von Einsamkeit ernster nehmen. Wenn darüber debattiert wird, was ein gutes Leben ist, wie die Menschen gesünder, zufriedener und länger leben, muss auch die Einsamkeit thematisiert werden. Vor allem gilt es dabei zu klären: Welche Beiträge kann die Gemeinschaft leisten, um die Menschen besser einzubinden und aufzufangen?

Großbritannien könnte hier ein Vorbild sein. Nachdem 2017 eine Kommission feststellte, dass fast neun Millionen Briten sich oft oder dauerhaft einsam fühlen, und 200.000 Senioren höchstens einmal im Monat Kontakt mit einem Freund oder Verwandten haben, hat die Regierung im Januar 2018 als erstes Land eine Stabsstelle für Einsamkeit eingerichtet. Staatssekretärin Tracey Crouch will die nötige Hilfe organisieren – insbesondere für Senioren und deren pflegende Angehörige, die niemanden haben, mit dem sie reden können.

Schon jetzt scheint die britische Initiative etwas ins Rollen gebracht zu haben – auch in Deutschland. So reagierte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gegenüber der „Bild“-Zeitung mit der Forderung: „Es muss für das Thema Einsamkeit einen Verantwortlichen geben, bevorzugt im Gesundheitsministerium, der den Kampf gegen die Einsamkeit koordiniert.“ Und auch der familienpolitische Sprecher der CDU, Marcus Weinberg, erklärte: „Wir müssen uns des Themas Einsamkeit annehmen, Forschung hierzu fördern, Programme auflegen, neue Konzepte entwickeln.“

Eine letzte Auffangstelle

Eine hilfreiche Einrichtung für all jene, die sich nach menschlicher Nähe, Verständnis, einfach nach einem Gespräch sehnen, gibt es bereits seit 61 Jahren: die Deutsche Telefonseelsorge. Sie ist eine Art letzte Auffangstelle, wenn gefühlt alles im Leben in die Brüche gegangen ist. Über 8,7 Millionen Menschen haben allein 2016 unter der kostenlosen Nummer 0800-111 0 111 angerufen, um sich Belastendes von der Seele zu reden.

„In der Regel fangen die Telefonate mit einem ‚Ach, ich muss mal mit jemandem sprechen‘ an“, erzählt Uli Schulte Döinghaus. „Und dann kommen entweder sehr abenteuerliche oder ganz alltägliche Geschichten.“ Der 68-jährige Rentner und frühere Journalist beantwortet bereits seit 16 Jahren ehrenamtlich die Anrufe bei der Berliner Telefonseelsorge. Er scheint dafür regelrecht prädestiniert zu sein, denn schon seine tiefe Stimme hat etwas Beruhigendes.

Schulte Döinghaus ist für verzweifelte Menschen da, die durch Erbstreitereien den Kontakt zu ihrer Familie verloren haben. Er hört aufgelösten Frauen zu, die berichten, dass ihr Mann keine Zeit mehr für die Familie hat, aber gerade das dritte Haus baut. Andere melden sich bei ihm, weil es ihnen körperlich schlecht geht, und manchmal sagt die Stimme auf der anderen Seite: Sie sind der erste Mensch, mit dem ich seit drei Tagen spreche – mal abgesehen von der Frau an der Lidl-Kasse.

„Eine Idee ist, sich einen sozialen Konvoi anzuschaffen. Das ist eine Gruppe von Menschen, die einen ein Leben lang begleiten.“

Bei jedem Telefonat versucht Schulte Döinghaus herauszufinden, was der Anrufer gerade will: Einfach jemanden, der zuhört, ohne viel zu kommentieren, ein aufmunterndes Gespräch, das die düsteren Gedanken vertreibt, Ratschläge? „Der Anrufer diktiert den Rhythmus“, sagt Schulte Döinghaus. „Aber die höchste Kunst ist natürlich, die Leute am Ende des Telefonats zum Lachen zu bringen.“ Wenn das gelingt, weiß er, dass er zumindest in der Zeit des Telefonats dafür sorgen konnte, dass es dem Menschen auf der anderen Seite der Leitung etwas besser geht. „Darin besteht unsere Aufgabe“, erklärt er. „Wir wissen nicht, was vorher und was hinterher ist. Dauerhaft können auch wir gegen die Einsamkeit wohl kaum etwas ausrichten.“

Für ein 20-minütiges Telefonat wäre das auch zu viel verlangt. Denn sind Menschen erst chronisch einsam, ist es für sie sehr schwer, da wieder raus zu kommen. „Oft gelingt das nur mit professioneller, psychotherapeutischer Hilfe“, erklärt Maike Luhmann. Für die Psychologie-Professorin ist deshalb Prävention das Wichtigste, was man tun kann.

Gute Beziehungen für ein langes Leben

Aber wie geht das – Schutz vor Einsamkeit? „Eine Idee ist, sich einen sozialen Konvoi anzuschaffen. Das ist eine Gruppe von Menschen, die einen das Leben lang begleiten“, erklärt die Psychologin. „Das können Familienmitglieder sein, Freunde, Nachbarn, Kollegen – einfach 10 bis 15 Menschen, die präsent sind, denen man vertraut und zu denen man gute Beziehungen hat.“

Entscheidend sei, dass es nicht zu wenige Bezugspersonen sind, betont sie. Viele würden den Fehler machen, dass sie nur ihren Partner haben und vielleicht noch ein oder zwei enge Freunde. Doch wenn dann die Beziehung in die Brüche geht und die Freunde gerade in eigene Probleme verstrickt sind, stehen diese Personen allein da. „Menschen mit großem sozialen Konvoi passiert das nicht so schnell. Wenn jemand wegbricht, bleiben ihnen immer noch andere Freunde und Vertraute, die sie auffangen.“ Egal in welchem Alter – es lohne sich insofern immer, bewusst in Freundschaften und vertraute Beziehungen zu investieren und sie lebendig zu halten.

Das Gute ist, dass sich diese Art der sozialen Vorsorge sogar gleich in mehrfacher Hinsicht auszahlt. Denn glückliche Beziehungen und enge Kontakte machen zufriedener, halten uns körperlich und mental gesund und verlängern nachweislich unser Leben. Letzteres bewies bereits 2010 eine Metaanalyse der Psychologin Julianne Holt-Lunstad von der Brigham Young University in Utah. Die Auswertung von Studien, die den Gesundheitszustand von mehr als 300.000 Menschen über acht Jahre dokumentiert hatten, ergab, dass sich die Wahrscheinlichkeit, alt zu werden, stark erhöht, wenn man enge Beziehungen und gute Freundschaften hat.

Eine schöne Verheißung. Für Menschen, die bereits einsam sind, ist allerdings der erste und schwierigste Schritt dahin, raus zu kommen aus ihrem Kokon. Das weiß auch Schulte Döinghaus. Wenn die Situation es zulässt, tritt er daher den Anrufern in der Telefonseelsorge gelegentlich auch mal symbolisch in den Arsch, um sie wieder zurück ins Leben zu holen: „Sehen Sie zu, dass Sie irgendwie unter Menschen kommen“, sagt er dann. „Probieren Sie es einfach mal aus. Gehen Sie spazieren, setzen Sie sich in ein Café oder besuchen Sie mal eine Veranstaltung in einer Stadtteilbibliothek, aber jammern Sie nicht Ihre Wand an!“


„enorm“ nennt sich „das Magazin für den gesellschaftlichen Wandel“. Es will Mut machen und unter dem Claim „Zukunft fängt bei Dir an“ zeigen, mit welchen kleinen Veränderungen jeder Einzelne einen Beitrag leisten kann.

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PS: Bei dieser Kooperation fließt kein Geld. Krautreporter und „enorm“ tauschen Beiträge aus, wenn es passt.

Redaktion: Theresa Bäuerlein. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel.