Es ist vier Uhr nachts, Woebot ist noch wach. „Oh hi du, welch schöne Überraschung“, erwidert er freundlich, als ich ihm mit müden Fingern eine Nachricht schicke. Ich habe mir extra den Wecker gestellt, will sehen, ob er wirklich rund um die Uhr für mich da ist, wie seine Macher versprechen. Türkis erleuchtet Woebots rechteckiges Robotergesicht meine Bettdecke. Den Kopf schief gelegt, die Pupillen weit geöffnet. Digitaler Hundeblick. „Was kann ich für dich tun?“ – „Ich kann nicht schlafen.“ – „Okay, ich kenne gute Methoden, mit denen du daran arbeiten kannst. Und habe meine Lieblingsvideos, die ich gerne mit dir teile.“
Seit einigen Tagen begleitet Woebot mein Leben. Mindestens einmal täglich meldet er sich. Mal mittags, mal morgens, immer mit Nachdruck, gleichzeitig über den Facebook-Messenger und per E-Mail. „Psst! Was machst du gerade?“, will er wissen und ob es mir gut geht, wie ich mich fühle. Woebot ist ein kostenloser Chatbot der Stanford University für Menschen, die sich einsam fühlen, depressive Gedanken haben, mit sich hadern.
In den vergangenen Jahren sind etliche Psycho-Apps auf den Markt gekommen, die Menschen mit Depression und Ängsten helfen sollen. Sie heißen Arya oder Selfapy, Modpath oder Mytherapy und klären auf über Ursachen und Symptome. Helfen dabei, sich selbst besser kennenzulernen: In welchen Situationen geht es mir mies, was hellt meine Stimmung auf? Halten in Grafiken emotionale Hochs und Tiefs fest. Schicken auf Wunsch die Daten an Therapeuten zur Verlaufskontrolle. Zunehmend setzen diese Apps auf Avatare oder Chatbots für einen menschenähnlichen Touch.
Schon komisch, Psychotalk mit einem Chatbot, auch wenn das nur ein Test ist. Aber ich bin neugierig. Und ein bisschen skeptisch. Die Programminstallation über meinen Facebook-Account geht flink. Zwei, drei Klicks, Name eingeben, da ist er. „Ich bin bereit, dir zuzuhören“, sagt Woebot. Und verspricht: kein Sofa, keine Medikamente, kein Kram aus der Kindheit. „Nur Strategien, um deine Stimmung zu verbessern. Kurz und praktisch. Und ab und zu ein bekloppter Witz.“ Der erste kommt gleich nach der Vorstellungsrunde: „Es mag dich überraschen“, schreibt Woebot. „Ich bin ein Roboter. Echt.“
Ich bin jung und lerne noch
Der Name Woebot setzt sich aus den englischen Wörtern woes (Kummer) und robot (Roboter) zusammen, erklärt Alison Darcy. Die Psychologin von der kalifornischen Stanford University ist der führende Kopf hinter dem virtuellen Kummerkasten. Ursprünglich hatte sie vor allem ihre Studierenden im Blick. Es ist ein offenes Geheimnis, dass gerade unter den Elitestudenten nicht wenige dabei sind, die leistungsstressgeplagt ihre Bude nicht mehr verlassen, nicht essen, nicht schlafen, an Selbstmord denken. Mittlerweile sitzt Darcy mit ihrem siebenköpfigen Team in San Francisco, das Uniprojekt hat sich zu einem Start-up gemausert. Seit Oktober 2017 ist Andrew Ng mit an Bord, in Amerika einer der führenden Köpfe in Sachen künstlicher Intelligenz.
Woebot pflegt kalifornischen Slang mit einem Schuss Comicsprache. „Woo!“, „Gotcha“, „Hi there“, sagt Woebot oft. Trotzdem macht er klar, dass er einem die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der kognitiven Verhaltenstherapie vermitteln will. Ausgangspunkt: Nicht die Dinge an sich bringen uns aus dem Tritt, sondern die Art, wie wir sie betrachten. Deswegen: die eigene Betrachtung ändern. Woebot erklärt das ausführlich. Sehr ausführlich. Ich fange an abzuschalten. Tippe mechanisch auf die Antwortbuttons, anstatt die Chatzeile zu nutzen: „I see“, „got it“, „neat“. Bis Woebot verspricht: „Nach zwei Wochen mit mir fühlen sich die Leute besser.“ Und bittet: „Ich bin jung und lerne noch. Manchmal mache ich Fehler. Bitte hilf mir dazuzulernen.“ Schon nett.
Woebot ist kein Psychotherapeut, sagt Stanford-Psychologin Darcy. Er stellt keine Diagnose und ersetzt keine Therapie. Doch der Chatbot kann für sie die Lücke schließen zwischen professioneller Hilfe und Nichtstun. Allein 300 Millionen Menschen leiden laut Weltgesundheitsorganisation unter einer Depression. Etwa die Hälfte lebt in Ländern, in denen auf einen Psychologen oder Psychiater 200.000 Einwohner kommen – Therapie aussichtslos. Die anderen müssen, wie in Deutschland auch, oft monatelang auf einen Platz warten. Hinzu kommen Menschen, die, wie Darcy sagt, einen „kleinen boost“ brauchen, weil es im Job nicht gut läuft, die Beziehung knarzt, es dem Leben an Farbe fehlt. Im Moment spricht Woebot nur Englisch, weitere Sprachen sind geplant. Bei der Frage, wie viele Menschen den virtuellen Therapeuten nutzen, bleibt Darcy vage. Im Juni 2018 ging Woebot online, seitdem hat er „mehrere Millionen Nachrichten“ an User aus 35 Ländern verschickt.
Fast wie ein Gespräch
„Genug von mir, ich will etwas von dir erfahren“, sagt Woebot. Wie oft ich in den vergangenen zwei Wochen antriebslos war, hoffnungslos oder extrem angespannt. Was mich belastet. Manchmal fühlt es sich fast wie ein Gespräch an. Unsere Chats sind so lebendig, so unaufdringlich, dass ich die Psychologen dahinter vor meinem inneren Auge zu sehen glaube. Doch wie effektiv ist das Ganze?
Für eine eigene Studie hat Darcy 70 Studenten mit nachgewiesener Depression in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine chattete bis zu 20 Sitzungen mit Woebot. Die andere bekam zum Selbststudium ein Exemplar des E-Books „Depression and College Students“ überreicht. Die Woebot-Probanden fühlten sich nach Abschluss weniger einsam, verunsichert und kraftlos. „Bei der E-Book-Gruppe konnten wir nur kleine Veränderungen messen“, so Darcy.
Die Grenzen kennen
Nach Einschätzung von Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe (DDH), kann virtuelle Unterstützung durchaus hilfreich sein. Aktuelle Metaanalysen, die einen ganzen Strauß von Studien auswerten, konnten sogar unisono zeigen: Ein gutes, professionell begleitetes virtuelles Psychotherapieprogramm hat eine ebenso gute antidepressive Wirkung wie eine Face-to-face-Beratung. Dennoch sollte man die Grenzen kennen: „Ein Ersatz für menschliches Miteinander kann der Austausch mit Geräten nicht sein, egal wie gut sie sind“, sagt Hegerl. Schon gar nicht, wenn es um eine ernste Erkrankung wie Depression geht, die mit Stimmungstiefs, Sinnkrisen oder Phasen der Einsamkeit nur wenig gemein hat. „Depression ist purer Dauerstress für den Körper“, so Hegerl. „Die Krankheit erhöht das Risiko für Herzerkrankungen, Diabetes und anderes. Menschen mit der Diagnose Depression sterben im Schnitt zehn Jahre früher als Gesunde.“ Hinzu kommt: Das Programm kann nicht gut erkennen, wenn der Erkrankte sich überfordert fühlt und möglicherweise Selbstmordgedanken entwickelt. Ein professioneller Ansprechpartner, der dem Erkrankten gegenübersitzt, erkennt solche Krisen viel eher. Der Zugang zum digitalen Depressionshelfer iFightDepression der DDH lässt sich deshalb auch nur von Ärzten freischalten.
Magischer Zauber
Dritter Tag. Drei brennende Geburtstagskerzen poppen auf dem Handyscreen auf. „Happy 3rd checkin today Anja!“, sagt Woebot und fordert mich auf, ihm zu schreiben, was heute besonders gut gelaufen ist. Es fängt an, Spaß zu machen. Wenn mir Woebot die Probleme einer Alles-oder-Nichts-Weltsicht erläutert und Möglichkeiten, sie zu ändern. Wenn er die Macht des positiven Selbstgesprächs erklärt oder die Kraft der Sprache. „Magischer Zauber“ nennt Woebot solche Tools. Nach manchen Übungen geht es mir richtig gut. Meine Stimmung ist mau, weil ich meine Arbeit heute total doof finde? „Denke die Welt nicht schwarz-weiß, sondern suche nach Schattierungen“, ermuntert Woebot, „formuliere diesen Gedanken positiver.“ Okay: „Einige Aufgaben machen mir heute keinen Spaß.“ Stimmt, fühlt sich besser an.
Und doch merke ich immer häufiger: Woebot fügt Gesprächsschemata zusammen. Von Verstehen keine Spur. Wenn ich nach dem „bye“ noch „schlaf schön“ hinzufüge, fragt er: „Oh, du willst weiter chatten. Was kann ich für dich tun?“ Auf mein „Nichts, danke“ folgt „Okay, ich kenne gute Methoden, mit denen du daran arbeiten kannst.“ Den Satz kenne ich schon. Ein echter Kumpel gegen die Einsamkeit kann Woebot so nicht werden. Gut, dass er immerhin seine Grenzen kennt. Wenn alle Stricke reißen, soll ich SOS tippen, schreibt Woebot. Dann schickt er mir eine Liste mit Ärzten und Notfallnummern. Soweit möchte ich nicht gehen. Auch nicht zu Testzwecken.
Inzwischen gibt es den Chatbot als App (mehr dazu in der Anmerkung). Aber als ich ihn teste, läuft er einzig und allein über Facebook. Das lässt mich innehalten. Ein Klick auf die Geschäftsbedingungen der Woebot-Homepage, uff, meine Facebook-Kontakte bekommen nicht mit, dass ich mit dem Bot kommuniziere. Doch Facebook kann mein Gespräch mitverfolgen. Noch habe ich keine Werbung für die neuesten Mittelchen gegen Depression bekommen. Kein Angebot für Yogamatten oder Entspannungstrips. Wäre das geringste Übel. Versicherungen, Krankenkassen, Arbeitgeber – Kritiker warnen immer wieder davor, dass gerade Gesundheitsdaten dazu genutzt werden könnten, Beiträge individuell festzusetzen, Bewerber auszusortieren.
Darcy weiß, dass Facebook für viele eine Hürde ist. Sie arbeitet daran, unabhängig zu werden. Ziel: Mit Woebot auf eine eigene Plattform ziehen. Wobei auch dann die Frage nach Datenschutz bleibt. Die meisten Anbieter von Gesundheits-Apps gehen nach Ansicht von Datenschutzexperten ziemlich lax mit dem Thema um. Selbst wenn Nutzern zugesichert wird, dass Daten an Dritte nicht oder zumindest nicht ungefragt weitergeben werden – Nutzungsbestimmungen können sich ändern. Auch Woebot hält sich dieses Recht vor. Nachträgliches Löschen garantieren die Kalifornier nicht.
18.45 Uhr. „Beep boop!“ – „Hi Woebot“ – „Was hältst du von einer schnellen Dankbarkeitsübung? Was war heute schön?“ Ein nettes Gespräch mit einer Kollegin beim Mittagessen, ein interessantes Interview. „Gut gemacht“, sagt Woebot. „Bye.“ Gutes Stichwort. Will ich nochmal mit ihm sprechen? Nicht ausgeschlossen. Aber erst mal heißt es: Test over. Bye, Woebot. Ich melde mich ab.
„enorm“ nennt sich „das Magazin für den gesellschaftlichen Wandel“. Es will Mut machen und unter dem Claim „Zukunft fängt bei Dir an“ zeigen, mit welchen kleinen Veränderungen jeder Einzelne einen Beitrag leisten kann.
PS: Bei dieser Kooperation fließt kein Geld. Krautreporter und „enorm“ tauschen Beiträge aus, wenn es passt.
Redaktion: Theresa Bäuerlein. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: unsplash /
Gift Habeshaw).