Als ich zwölf war, passierte es zum ersten Mal. Es war ein Hochsommertag, gerade war ich nach einem weiteren beschissenen Tag als Schul-Depp (dazu später mehr) nach Hause gehetzt, und die Hitze hatte mich noch zusätzlich fertiggemacht. Kalter Schweiß tropfte mir von der Stirn, als ich die Treppen ins Wohnzimmer hinaufstieg, den Schulranzen in die Ecke knallte und aufs Sofa fiel.
Ich weiß nicht mehr, warum meine Eltern und ich uns als nächstes heftig zu streiten begannen. Wir stritten uns oft. Was ich noch weiß, ist, dass auf einmal alles zu viel für mich war. Etwas in mir kippte auf eine gefährliche Weise.
Heute weiß ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits Symptome einer Depression hatte. Und die wirkten sich auch auf meine Eltern aus und vergrößerten den Stress, den sie sowieso schon hatten – womit Erwachsene eben täglich kämpfen, mit ihren Finanzen, dem Beruf, der eigenen Psyche, mit Konflikten in ihrem sozialen Umfeld. Sie fühlten sich sicher hilflos und wussten nicht, wie sie mit mir umgehen, geschweige denn, mir helfen sollten.
Ich bin überzeugt, dass es gut gewesen wäre, wenn wir zu diesem Zeitpunkt Hilfe bekommen hätten, alle zusammen. Es gibt Studien, die zeigen, dass es sich sowohl auf die betroffenen Jugendlichen als auch auf die anderen Familienmitglieder positiv auswirkt, wenn die Betreuungspersonen an sogenannten psychoedukativen Maßnahmen teilnehmen. Das sind Schulungsprogramme, in denen man mehr über die Krankheit und den Umgang mit den Jugendlichen erfährt, wenn sie in schwierigen Phasen stecken.
Aus dieser Studie weiß man, dass Jugendliche, deren Eltern an solchen Programmen teilgenommen haben, ein deutlich geringeres Risiko für eine weitere Depressionsepisode haben. Das wird auch durch die Ergebnisse einer Übersichtsarbeit bestätigt. Die hebt auch hervor, wie wichtig diese Programme für die betroffenen Jugendlichen sind: Ihre Prognose verbessert sich dadurch nachweislich.
Meine Eltern wussten das alles nicht, sie waren mit mir genau so überfordert, wie ich mit mir selbst.
Ich riss das Telefonkabel aus der Wand
Zurück zum Streit: Ich riss das Telefonkabel aus der Wand, sah meine Eltern an und schrie: „Ich will nicht mehr leben! Und ich hänge mich jetzt auf!” Ich zitterte am ganzen Körper, mein Kopf schien zu platzen, ein unfassbar lautes Fiepen kreischte in meinen Ohren.
Ab diesem Moment habe ich einen Filmriss und erinnere mich nur noch an den drängenden Gedanken: MACH ES NICHT. Es war das erste Mal, dass ich konkrete suizidale Gedanken hatte, bereit war, danach zu handeln. Und ich weiß heute, dass es nicht ganz ungefährlich war.
Du stehst im Weg
Warum wird ein Mensch depressiv? Es gibt für mich zwei Arten, diese Frage zu stellen. Die erste Form ist anklagend und an das Leben, das Schicksal oder an ein höheres Wesen wie Gott gerichtet. Warum nur ich? Warum immer ich?
Die Frage nach Gott und dem Schicksal hat mich nie beschäftigt – vielleicht, weil es darauf keine Antwort gibt, auf jeden Fall keine, die lösungsorientiert oder befriedigend ist.
Die zweite Art ist die Frage nach den persönlichen Gründen. Warum bin ich heute, wer ich bin? Welche Menschen und welche Erfahrungen haben dazu beigetragen und mich geprägt? Die Antworten auf diese Fragen interessieren mich sehr.
Um es vorwegzunehmen: Ich habe nie herausgefunden, warum genau ich depressiv geworden bin. Aber ich habe Spuren gefunden, Hinweise darauf, was die Gründe sein könnten.
Was ich aber heute weiß, ist, dass es viele Einflüsse gibt, die Depressionen begünstigen können – oder auch verhindern. Vor Depressionen schützen zum Beispiel gute Beziehungen, die durch Vertrauen geprägt sind: zum Partner, zu Familienangehörigen, zu Kolleginnen und Kollegen. Außerdem hilft es, wenn man keine finanziellen Sorgen hat.
Was aber genau dazu führt, dass ein Mensch depressiv wird, weiß man bis heute nicht ganz genau. Welchen Anteil jeweils biologische Abläufe, psychische Faktoren, die persönliche Situation und besondere Ereignisse daran haben, lässt sich nur im Einzelfall ergründen. Zu den biologischen Ursachen kann zum Beispiel ein Mangel an Botenstoffen im Gehirn gehören, den man dann mit Antidepressiva zu bessern versucht.
Außerdem gibt es Vermutungen, dass für negative Gedankenkreisläufe, die durch Minderwertigkeits- und Schuldgefühle verstärkt werden, eine Denkverzerrung verantwortlich ist. Diese Vermutungen werden als kognitionspsychologische Hypothesen bezeichnet. Depressiven Menschen fällt es demnach in ihrer Depressionsphase schwer, die Realität mit dem eigenen Erleben in Übereinstimmung zu bringen. Die Lücke füllen sie mit negativen Erklärungsmustern.
Es ist wie eine Brille, die man abnehmen und aufsetzen kann und mit der man alles, was man sieht und wahrnimmt, in einer bestimmten Weise deutet. Wenn man zum Beispiel gerade verliebt ist, ist diese Brille rosa, wenn man depressiv ist, eher schwarz. In einer depressiven Phase fällt es einem schwer, Freude zu fühlen, selbst bei den Handlungen und Erlebnissen, die man normalerweise gerne hat. Man deutet also die eigene Realität um und nutzt dazu Gedanken (Grübelei), die genau jene Gefühle nähren, die bei Depressionen überhandnehmen.
Einen wichtigen Faktor für meine Depression habe ich schon erwähnt: In meiner Realschule in Sinzheim, die damals etwa 200 Schüler fasste, war ich jahrelang der klassische Schul-Depp. Kein einziger Tag verging, an dem ich nicht fertiggemacht wurde.
Der Grund dafür war wohl, dass ich manche sozialen Fähigkeiten einfach nicht hatte. Da mir keine lockeren Sprüche einfielen, lachte ich aus Unsicherheit über die Späße anderer. Ich konnte nicht locker sein, da ich ständig Angst hatte, fertiggemacht zu werden.
„Gommel, du bist so dumm!” – Wenn man das jeden Tag zu hören bekommt, glaubt man es irgendwann. Und wenn dieser Spruch dann auch noch von einem Mädchen kam, lief ich rot an und versank im Boden.
Einen Grund dafür, dass ich ein Außenseiter war, verstehe ich bis heute nicht: meine Hautfarbe.
Nein, ich bin nicht schwarz, sondern das Gegenteil. Ich bin weiß wie Papier. Wenn meine Haut dunkler wird, dann liegt das daran, dass ich mir einen Sonnenbrand eingefangen habe.
Auf dem Weg stellten meine Mitschüler mir ein Bein, ich wurde von hinten geschubst, so dass ich nach vorne fiel. Ich erinnere mich noch gut an das brennende Gefühl meiner aufgeschürften Hände. Auf dem Pausenhof lief jeden Tag der große Sven auf mich zu und sagte mit tiefer Stimme: „Gommel, du stehst im Weg.” Ich versuchte, rückwärts wegzulaufen, fiel zu Boden und bekam anschließend Tritte von Sven und dann auch noch von anderen zu spüren, die dazugekommen waren. Statt mir zu helfen, lachten mich die anderen Schüler und Schülerinnen aus. Dieses Lachen war schlimmer als die Schläge von Sven und ich begann, mich selbst zu verabscheuen. Ich fühlte mich wie ein Tier. Und obendrauf: Das grelle Fiepen im Ohr und die damit verknüpften Gefühle permanenter Ohnmacht.
Eine Studie aus den USA konnte vor wenigen Jahren zeigen, dass Jugendliche, die für längere Zeit Schikanen ausgesetzt sind und dann Seuizidversuche unternehmen, zu einem großen Anteil zuerst depressiv werden. Männliche Jugendliche mit dieser Geschichte haben demnach ein Risiko von 60 Prozent für einen Suizidversuch, das heißt 60 von 100 schikanierten Jungen versuchen, sich das Leben zu nehmen.
Dass Menschen nach anhaltenden Schikanen depressiv werden, verwundert kaum. Das Ziel von Mobbingattacken ist, das Opfer zu demütigen, es traurig zu machen, es zu quälen, Freundschaften zu zerstören, seinen sozialen Status zu senken und es zu isolieren. Menschen, die Opfer solcher Attacken werden, haben zudem häufig ein gestörtes Körperbild, neigen dazu, in anderen sozialen Zusammenhängen wieder Opfer von Mobbingattacken zu werden und auch selbst andere zu schikanieren.
Auch von Erwachsenen bin ich als Kind körperlich misshandelt worden. Ich möchte nicht sagen, von wem, weil sonst Menschen, die mich kennen, Rückschlüsse ziehen könnten. Trotzdem will ich hier verdeutlichen, dass mich die Misshandlungen im Kindesalter sehr trafen und erschütterten. Körperliche Gewalt ist etwas sehr Bösartiges, doch der zwischenmenschliche Hass, der damit einhergeht, fügten mir schon in frühen Jahren Verletzungen in meiner Seele zu.
Misshandlungen an Kindern (körperliche und emotionale Misshandlungen, Vernachlässigung) werden mit einer ganzen Reihe von psychischen Problemen in Verbindung gebracht, zum Beispiel Depressionen, Angst, Essstörungen, Süchte und Suizid.
Satan
Ich war nirgendwo willkommen – und so fühlte ich mich auch. „Hahaha, der Gommel, weiß wie die Wand und unten rot”, riefen die Älteren und lachten, wenn ich im Handballverein duschen ging. Ich wehrte mich nicht, denn ich wusste schlicht und ergreifend nicht, wie. Ich entwickelte Ängste vor dem Duschen. „Gommel”, mein eigener Nachname, klang wie ein Schimpfwort, das ich irgendwann selbst als beleidigend empfand.
Eines Abends, ich war dreizehn, fragte mich meine Mutter: „Martin, warum trägst du eigentlich nur noch dunkle Kleidung?” Ich antwortete, ohne zu überlegen: „Weil ich mich so fühle.” Meine Kleidung war eine Nachricht an die Welt. Schwarze Springerstiefel, zerrissene, schwarze Jeans und schwarze Shirts. Ich las Black-Metal-Magazine, übersetzte die Texte der Bands und wurde Satanist. Nicht, weil es cool war – ich war der einzige im meinem süddeutschen Dorf. Sondern aus Überzeugung.
Der Hass auf die Welt gab mir auf seltsame Weise Kraft, und das schrille Geschrei von Bands wie Dimmu Borgir, Tiamat und Emperor drückten aus, was ich nicht ausdrücken konnte. In Skandinavien zündeten Satanisten Kirchen an, und ich konnte sie verstehen. Mit der Kirche verband ich alles Spießige, alles, was feindselig, einengend und in meinem Dorf normal war. Wenn es einen Gott gab, dachte ich, dann hieß er Luzifer, und er hasste die Welt so wie ich.
Als ich sechzehn war, passierte dann ein kleines Wunder: Ich stand auf dem Schulhof, der Himmel war bedeckt, und plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Ich bin genauso viel wert wie alle anderen. Es war das erste Mal, dass ich mich wertvoll fühlte, und es war ein Wendepunkt. Ich begann, mir selbstbewusste Menschen genauer anzusehen. Wie schaut jemand, der sicher ist? Wie spricht diese Person? Wie ist die Körperhaltung? Ich versuchte, mich zu verhalten wie jemand, der so viel wert war wie die anderen.
Es gelang mir, neue Freunde kennenzulernen, und weil ich musikalisch und ein guter Bassist war, wurde ich zu Bandproben eingeladen. Bands, die angesagt waren, die eigene Lieder schrieben und mich unbedingt haben wollten. Ich setzte durch, dass man mich mit Vornamen ansprach, nicht mehr „Gommel”, und unter den neuen Freunden waren keine, die sich über mich lustig machten. Komisch, dachte ich oft, das Leben ist vielleicht gar nicht so schlimm.
Äußerlich und innerlich hatte ich mich verändert. Jedoch waren die Wunden meiner Kindheit nur überdeckt und nicht geheilt. Die Euphorie über das neue Leben war stark, aber nicht stärker als mein inneres Bedürfnis nach Liebe, nach Sicherheit und Sinn. Ich hatte immer noch heftige Phasen, in denen ich mich grundlos traurig, alleine und ohnmächtig fühlte – und davon ausging, dass das alles einfach zu mir gehörte.
Es sollte ein langer Weg werden, bis ich mich davon befreien konnte. Und ein kleiner, aber entscheidender Stein, der mir selbst im Weg lag, war meine Wut. Auf meine Eltern, meine ehemaligen Schulkameraden, den Handballverein und überhaupt alle, die mich jahrelang fertiggemacht hatten. Am wütendsten war ich auf die, die schweigend zugesehen und mitgelacht hatten.
Gottes Liebe
Mit achtzehn lernte ich Menschen kennen, die an Gott glaubten. Nicht so, wie ich es bisher aus dem Religionsunterricht kannte, mit Beichtstuhl, Ave Maria und Kruzifixen. Es waren Menschen, die von sich sagten, dass sie eine „lebendige Beziehung zu Gott“ hatten. Es waren Freikirchler, heute sagt man dazu Evangelikale. Sie brachten mich zum Nachdenken. Es waren aufrichtige Menschen, die strahlten. Zumindest dann, wenn sie mir von Gott erzählten.
Eifrig besuchte ich ihre Gottesdienste, in denen mit erhobenen Händen gesungen wurde und der Teufel der Erzfeind war. Jetzt stand Luzifer auf einmal auf der anderen Seite des Lebens, und Jesus, Gottes Sohn, war derjenige, mit dem ich mich identifizieren wollte. Das tat ich auch – und verdrängte meine Zweifel, die manche „neugeborenen Christen“ (so nennen sich viele) die Stimme Satans nannten.
Ich war damals fasziniert von den Menschen, die immer lächelten, gut drauf waren und die Gott scheinbar persönlich kannten. Das wollte ich auch, unbedingt, es schien die Lösung für alle meine Probleme zu sein. Also übernahm ich sämtliche Ideologien und wurde einer von ihnen. Ein – aus meiner heutigen Sicht – furchtbar konservativer Mensch, der anscheinend den Sinn des Lebens gefunden hatte.
Doch die Liebe Gottes heilte mich nicht, so sehr ich das auch glauben wollte. Stundenlang flehte ich ihn in meinem Zimmer auf Knien an, dass er mich doch heilen möge. Mich und meine Ohnmacht, meine immer noch tiefsitzende Wut und das nicht weichen wollende Gefühl der Lebensmüdigkeit.
In einer Studie fanden Wissenschaftler heraus, dass Depressionen begünstigt werden können, wenn spirituelle Menschen das Gefühl haben, dass sie von Gott verlassen oder bestraft werden, oder wenn sie sich innerhalb der religiösen Gemeinschaft isoliert fühlen. Häufig fällt es diesen Menschen insgesamt schwer zu verzeihen – auch sich selbst.
Die sogenannte Liebe Gottes und die „Gemeinschaft der Christen” war mein erster Versuch, Heilung oder zumindest Linderung meiner Probleme zu finden, und ich scheiterte. Immer wieder. Es sollte 15 lange Jahre dauern, bis ich mir das eingestehen konnte.
Pfannkuchen
Ein paar Jahre nach meiner „Bekehrung” heiratete ich und … begann zu essen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt alle meine Probleme vergessen und verdrängt. Der Zucker und das damit einhergehende kurze Glücksgefühl wirkten schnell und fühlten sich an wie der Himmel auf Erden. Die Bäckerei um die Ecke kannte mich schon mit Vornamen, und ich kaufte jeden Tag mehrere Berliner (in Berlin sagt man dazu Pfannkuchen), die ich hinunterschlang. Es war also nur logisch, dass ich Monat für Monat zunahm, bis ich 130 Kilogramm wog, bei einer Größe von 1,86. Schon wieder verirrt.
Es gibt Studien, die eine Verbindung zwischen Depressionen und Übergewicht untersucht haben, aber da beide Phänomene durch viele unterschiedliche Faktoren begünstigt werden können, ist es schwierig, hier eindeutige Aussagen zu treffen. Die Nationale Versorgungsleitlinie Depression weist jedoch darauf hin, dass es viele Querverbindungen zwischen Essstörungen und Depressionen gibt, die noch näher erforscht werden müssen.
Mit 30 Jahren versuchte ich eine radikale Ernährungsumstellung und nahm in sechs Monaten 40 Kilogramm ab. Gegen Ende des Jahres landete ich im Krankenhaus. Gallensteine. Und auch der Jo-Jo-Effekt ließ nicht lange auf sich warten. Schon ein Jahr später war ich wieder bei 130 Kilo. Dies setzte mir zu. Und weil ich nicht anders konnte, fraß ich weiter meinen Frust in mich hinein und wurde depressiv.
Ich hatte nie gelernt, mit meinen Problemen meiner Kindheit umzugehen und fühlte mich tief im Innern wie ein kleiner Schwächling. Als die ersten kleinen Krisen in meiner Ehe auftauchten, war meine Kraft am Ende. Tagelang lag ich im Bett, wollte alleine sein und hatte jeden Antrieb verloren.
Bewusst sein
In dieser Zeit begann ich, buddhistische Podcasts zu hören und lernte Achtsamkeits-Meditation und MBSR kennen (Mindfulness–based Stress-Reduction, auf Deutsch: achtsamkeitsbasierte Stressreduktion). Ich begann, jeden Tag eine Stunde lang aufrecht zu sitzen und meine Konzentration auf den Atem zu lenken. Wochen und Monate vergingen, und ich zwang mich dazu, weiter zu meditieren, denn ich hoffte auf meine Erleuchtung, wie ich zuvor schon auf die Liebe Gottes gehofft hatte.
Das fühlte sich gut an, denn ich hatte den Eindruck, wenigstens etwas im Griff zu haben. Sitzen, atmen, sitzen, atmen. Das erforderte nur ein Minimum an menschlicher Leistung, und die konnte ich erbringen. Wenn ich mit der Bahn unterwegs war, hörte ich ganz genau auf die Geräusche und versuchte festzuhalten, wie es war, Bahn zu fahren. Saß ich mit Freunden bei einem Kaffee zusammen, versuchte ich ganz im Hier und Jetzt zu sein, dem Kaffee nachzuschmecken und alle Eindrücke bewusst zu erfahren.
Falsch lag ich damit nicht: Die Fähigkeit, achtsam wahrzunehmen, was in der Umgebung passiert und wie man sich im Innersten fühlt – also genau das, was durch regelmäßiges Meditieren geschult wird –, ist inzwischen auch Teil von anerkannten Therapiekonzepten geworden. Ein Ziel der achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (MBCT, Mindfulness Based Cognitive Therapy) ist es, die Fähigkeit zu trainieren, Dinge, Wahrnehmungen und psychische Vorgänge wertfrei beobachten zu können. Mit dieser Haltung fällt es Menschen leichter, mit Angst, Trauer und Sorgen umzugehen. Diese Gefühle werden gemeinhin als „schwierige” Gefühle wahrgenommen und können Depressionen begünstigen. Wer wahrnimmt, dass ihn Gefühle, Gedanken oder Körperempfindungen belasten, ist eher in der Lage, sich rechtzeitig um Unterstützung zu kümmern – ein wichtiger Schritt für Menschen mit Depressionen. Besonders die „erfahrenen” Depressionspatienten profitieren davon. Man hat festgestellt, dass die MBCT das Risiko eines Rückfalls bei Menschen, die bereits drei oder mehr depressive Episoden erlebt haben, reduzieren konnte.
Ich disziplinierte mich weiter, meditierte auch nach meinem ersten Klinikaufenthalt weiter. Leider hatten die Übungen nicht die Wirkung, die ich mir erhoffte: Obwohl ich nun wusste, dass ich an Depressionen litt, dachte ich trotzdem, dass ich einfach ein schwacher Mensch sei, dass ich selbst Schuld an meinem Gefühlschaos hatte.
Die Tage der Antriebslosigkeit kamen zurück und wurden zu Wochen, in denen ich nichts, aber auch gar nichts auf die Reihe bekam.
Hypnose
2012 machte ich eine neue Entdeckung: Hypnose-CDs. Ich guckte mir Youtube–Videos an, in denen eine tiefe Entspannung versprochen wurde und las jede Menge Bücher zum Thema. Der Vorteil war, dass ich einfach im Bett liegen bleiben, eine CD einwerfen und mich berieseln lassen konnte. Der Sprecher zählte von 10 bis 0 und erzählte dann, wie ich an einem wunderbaren Bach im Wald stand, während der Wind durch die Blätter rauschte. Dann sollte ich mir vorstellen, dass ich in diesem kühlen Bach badete und mich dabei tausend Strahlen des Glückes durchströmten.
Eine Grundannahme in Hypno–Kreisen ist, dass viele Probleme im Unterbewussten liegen, also unter der Oberfläche dessen, was wir bewusst wahrnehmen können. Und eine weitere Annahme ist, dass somit auch Depressionen durch Hypnotherapie geheilt werden können. Und man sich auch ohne Therapeuten hypnotisieren kann.
Also lernte ich, mich auf der Couch selbst in Trance zu versetzen, tief in mein Unterbewusstes einzutauchen. Mit Suggestionen, die sich ins Innerste meiner Psyche eingraben sollten, versuchte ich, meine Depressionen zu heilen. In meinen Trancen sah ich mich als körperlich vollständig gesunden und psychisch starken Menschen, der lachte und vor lauter Glück nur so strahlte.
Mein Körper reagierte auf diese Vorstellungen positiv, mein Herz pochte spürbar, meine Arme wurden leicht, und tatsächlich erlebte ich so etwas wie Freiheit, wenn auch nur in Trance. Und ich beließ es nicht bei nur einem Versuch; wochenlang versetzte ich mich jeden Tag mitten ins Glück. Und das Gute war – wie beim Meditieren – dass ich niemandem davon erzählen oder irgendwelchen Gruppen beitreten musste.
Eine Untersuchung konnte zeigen, dass Hypnose bei Patienten mit schweren Depressionen eine Verlangsamung des Herzschlags bewirken konnte. Ein langsamerer Herzschlag wird mit Entspannung in Verbindung gebracht, so dass man davon ausgeht, dass die Hypnose einen positiven Effekt auf die Patienten hatte. Allerdings dürfte die Aussagekraft dieser Untersuchung nicht besonders groß sein, denn zum einen war die Anzahl der Patienten sehr klein (21) und zum anderen fehlte die Kontrollgruppe, die man für eine vergleichende Untersuchung zwingend braucht. Außerdem ist völlig unklar, ob die Verlangsamung des Herzschlags einen therapeutischen Nutzen für die Depressionspatienten hatte.
Bei Studien, die so konzipiert sind, lässt sich nicht ausschließen, dass der gefundene Effekt dem von Placebo-Gaben entspricht. Wie genau Placebos wirken, weiß man noch nicht sicher, aber es herrscht Einigkeit darüber, dass die Erwartungshaltung der Patienten dabei eine große Rolle spielt. Besser konzipierte Studien zum Thema Hypnose bei Depressionen lassen sich zurzeit nicht finden.
Das Problem bei allem Hypno-Kram war für mich, dass die Trance-Sessions keinerlei Wirkung auf meinen Alltag hatten. Spätestens zehn Minuten nach der Hypnose war ich wieder der Alte. Geblieben waren ein paar glückliche Momente – jedoch begriff ich schnell, dass ich schon wieder nicht die Lösung gefunden hatte. Waren meine Depressionen zu stark? Oder saßen sie so tief, dass sie niemals geheilt werden konnten?
Knallrot
Ein halbes Jahr später. Ich warf eine 500-Milligramm-Niacin-Tablette ein, setzte mich im Büro vor den Rechner und begann zu arbeiten. Keine zehn Minuten später stand ich im Unterhemd vor der Tür – mein ganzer Oberkörper brannte und mein Gesicht wurde röter als beim stärksten Sonnenbrand. Dabei war Januar, und die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt. Und: Ich strahlte. Neben dem Gefühl, dass meine Haut brannte, durchzog meinen Brustkorb ein Schauer tausender Glücksgefühle, und ich fragte mich, ob ich statt Niacin irgendeine Droge eingeworfen hatte. Was war da los?
Niacin ist ein Vitamin, und zwar Vitamin B3, das auch Nicotinsäure genannt wird. In Internetforen war ich auf Andrew Saul gestoßen, einem selbsternannten Ernährungsberater, der darüber schrieb und berichtete, wie Depressionen, die von einem Vitamin-B3-Defizit ausgelöst werden, mit Vitamin B3 geheilt werden könnten: „1.000 mg Vitamin B3, dreimal am Tag genommen, kann häufig milde bis mittelstarke Depressionen heilen”, schrieb er in einem Bericht aus dem Jahre 2005.
Ich googelte wie verrückt und suchte wissenschaftliche Belege für die Erfolgsgeschichten Sauls. Ich fand damals nichts, das mir glaubwürdig erschien, beschloss aber, es trotzdem einfach auszuprobieren. Was hatte ich zu verlieren? Tja, und da stand ich eines Morgens draußen im Unterhemd, mitten im Winter, strahlte und lachte. Konnte das die Lösung sein? Es schien die Lösung zu sein, denn alle Probleme waren weggeblasen – und das mit einer einzigen Pille. Einem Vitamin!
Im Nachhinein weiß ich, dass ich Glück hatte, weil dieses Experiment mir durchaus hätte schaden können. Zwar stimmt es, dass Vitamin-B3-Mangel Depressionen begünstigen kann, aber der Umkehrschluss, dass Depressionen verschwinden, wenn man B3 in großen Mengen einnimmt, stimmt so nicht. Depressionen werden durch viele Faktoren begünstigt, und deswegen muss man bei Versprechungen, es gebe ein Wundermittel dagegen, besonders hellhörig werden. Tatsache ist: Die Behörden warnen davor, Niacin in hohen Dosen zu nehmen. Patienten haben ein Recht darauf, Vor- und Nachteile einer Therapie erklärt zu bekommen.
Leider hört und liest man nichts über die möglichen negativen Nebenwirkungen in den Kreisen, die sich rund um Andrew Saul gebildet haben. Auch, weil er die Warnungen selbst ignoriert und ausschließlich beeindruckende Erfolgsgeschichten verbreitet. Leider fehlen dafür wissenschaftliche Belege. Schlimmer noch: Die US–amerikanischen Gesundheitsinstitute raten sogar davon ab, Niacin bei bestimmten Vorschädigungen zu nehmen, und weisen darauf hin, dass es schwere Leberschäden hervorrufen kann. Auch das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnt eindrücklich vor Niacin-Überdosierung.
Da ich das nicht wusste, nahm ich jeden Morgen Niacin und wurde etwa 20 Minuten später knallrot. Diese Wirkung nennt man den „Flush–Effekt”, ein Wärmegefühl, das vom Erröten der Haut begleitet wird, ausgelöst durch die Erweiterung der Blutgefäße durch das Vitamin. Das führte zu durchaus unangenehmen Situationen, denn ich konnte nicht immer genau abschätzen, wann die Wirkung eintreffen würde. Etliche Male wurde ich genau dann rot, als ich meine Tochter in den Kindergarten brachte. Was wohl die Erzieherinnen und Eltern dachten? Das innere Glück, dass ich dabei spürte, ließ mich das aber alles ignorieren.
Heute weiß ich, dass die Röte eine Nebenwirkung der massiven Überdosierung war. Man braucht pro Tag eigentlich nur etwa 13 bis 20 Milligramm Vitamin B3, je nachdem, ob man ein Mann ist oder eine Frau, und abhängig davon, wie viel man wiegt. Ich nahm mehr als 1.000 Milligramm pro Tag. Bei täglich 500 Milligramm Niacin beginnt der Körper mit dem Flush, der auch ein Zeichen für eine allergische Reaktion sein kann. Nimmt man mehr als 2.500 Milligramm fällt der Blutdruck ab, man bekommt Schwindelgefühle, der Harnsäuregehalt im Blut steigt. Außerdem kann man Durchfall bekommen, Übelkeit und Erbrechen. Eine ernste Folge kann eine Leberschädigung sein, das Ergebnis: Gelbsucht
Zu meinem Glück habe ich diese Megadosis nicht dauerhaft genommen, denn nach etwa einem Monat hatte sich der Effekt abgenutzt. Ich musste die Dosis Woche für Woche erhöhen, um überhaupt noch ein kleines bisschen Freude zu spüren. Irgendwann wurde ich nur noch rot, aber innerlich passierte nichts mehr, und langsam schlichen sich meine unbegründete Trauer und das Gefühl der grenzenlosen Leere wieder ein. Auch Niacin war also nicht das Wundermittel, das mich erlösen würde – ich war wieder mal enttäuscht.
Im dritten und letzten Teil dieser Serie geht es darum, wie ich mich mit einem Klinik-Macho anlegte, im Blümchensessel einer smarten Therapeutin landete und in der Gruppentherapie Strategien lernte, die mein Leben für immer veränderten.
Bitte sprecht mit anderen Menschen darüber, wenn ihr an Suizid denkt. Wenn ihr nicht möchtet, dass eure Familie oder eure Freunde merken, dass es euch schlecht geht, könnt ihr anonym mit Menschen sprechen.
Hier könnt ihr anrufen:
Bei der Telefonseelsorge unter den Nummer 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222
Der Anruf ist kostenlos und die Nummer erscheint nicht auf der Telefonrechnung.
Wenn ihr lieber schriftlich kommunizieren möchtet, könnt ihr das mit der Chat-Beratung oder der E-Mail-Beratung der Telefonseelsorge tun.
Für Kinder und Jugendliche gibt es auch spezielle Angebote, zum Beispiel die Youth-Life-Line, bei der man mit geschulten Peers sprechen kann. Oder U25, eine Mailberatung der Caritas.
Ihr könnt in Krisen auch zum Arzt gehen oder in die Notfallambulanzen der örtlichen Psychiatrie. Hilfsangebote in eurer Nähe findet ihr auch, wenn ihr in die Suchmaschine die nächstgrößere Stadt eingebt und mit den Worten Hilfe und Suizid beziehungsweise Selbstmord kombiniert.
Wissenschaftliche Redaktion: Silke Jäger. Redaktion: Theresa Bäuerlein. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel. Fotos: Rico Grimm.