Gespielte Empathie

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Psyche und Gesundheit

Gespielte Empathie

Leslie Jamison simuliert Krankheiten für Medizinstudenten. Die künftigen Ärzte müssen in Prüfungen herausfinden, woran sie erkrankt ist und dabei Einfühlungsvermögen zeigen. Doch eines Tages wird Leslie selbst wirklich krank, trifft auf eine kaltschnäuzige Ärztin und lernt, wie schwierig echtes Mitgefühl ist. Ein Buchauszug.

Profilbild von Leslie Jamison

Ich jobbe als Patienten-Darstellerin. Das heißt: Ich spiele Kranke. Ich bekomme einen Stundenlohn. Medizinstudenten müssen erraten, was ich habe. Ich werde als Normpatientin eingesetzt. Das bedeutet, dass ich mich den Regeln meiner Krankheitsbilder entsprechend verhalte. Im Fachjargon nennt man mich „SP“, Abkürzung für „standardized patient“. Die Symptome von Schwangerschaftsgestose, Asthma und Blinddarmentzündung kann ich aus dem Effeff. Ich spiele auch eine Mutter, die ein Baby mit blauen Lippen hat.

Konkret funktioniert das so: Man bekommt einen Krankenhauskittel aus Papier, ein Skript und dreizehn Dollar fünfzig die Stunde. Das Skript ist zehn bis zwölf Seiten lang. Darin steht, was mit einem nicht stimmt – und zwar nicht nur, was einem weh tut, sondern auch, wie man diesem Schmerz Ausdruck zu verleihen hat. Es schreibt einem vor, wie viel man wann preisgeben darf. Man soll immer nur nach einem ganz bestimmten Muster antworten. Die fiktiven Leben von uns Simulationspatienten sind detailliert beschrieben: wie alt unsere Kinder sind, welche Krankheiten unsere Eltern haben, wie die Immobilien- und Grafikdesign-Firmen unserer Ehemänner heißen, wie viel wir im vergangenen Jahr abgenommen haben und wie viel Alkohol wir pro Woche trinken.

Meine Spezialität ist der Fall von Stephanie Phillips, einer Dreiundzwanzigjährigen, die an einer sogenannten Konversionsstörung leidet. Die Trauer über den Tod ihres Bruders äußert sich bei ihr in Krampfanfällen. Diese Art von Störung kannte ich vorher nicht. Ich wusste nicht, dass man aus Trauer Zuckungen bekommen kann. Stephanie selbst soll das laut Skript auch nicht wissen. Sie soll noch nicht auf den Gedanken gekommen sein, dass die Anfälle irgendwas mit ihrem Verlust zu tun haben könnten.

Stephanie Phillips – Psychiatrie – Materialien für Patienten-Darsteller

Der Fall: Sie sind dreiundzwanzig Jahre alt und haben ohne erkennbare neurologische Ursache Krampfanfälle. An die Anfälle selbst können Sie sich nicht erinnern, man hat Ihnen aber gesagt, dass Sie währenddessen Schaum vor dem Mund haben und laut Obszönitäten von sich geben. Im Normalfall merken Sie, wenn ein Krampf sich ankündigt. Die Anfälle haben vor zwei Jahren begonnen, kurz nachdem Ihr älterer Bruder unterhalb der Bennington Avenue Bridge ertrunken ist. Er war nach einer Parkplatzparty mit seinen Football-Kumpels betrunken schwimmen gegangen. Sie haben beide auf demselben Minigolfplatz gearbeitet. Zurzeit arbeiten Sie gar nicht mehr. Sie haben Angst davor, in aller Öffentlichkeit einen Anfall zu erleiden. Bislang hat Ihnen kein Arzt helfen können. Ihr Bruder hieß Will.

Behandlungsgeschichte: Sie nehmen keinerlei Medikamente. Sie haben noch nie Antidepressiva genommen. Bislang sind Sie nicht davon ausgegangen, dass Sie welche brauchen.

Krankheitsgeschichte: Probleme mit Ihrer Gesundheit sind Ihnen so gut wie unbekannt. Sie hatten noch nie etwas Schlimmeres als einen gebrochenen Arm. Will war dabei, als Sie sich diesen Arm gebrochen haben. Er war derjenige, der den Notarzt gerufen und Sie beruhigt hat, bis die Sanitäter da waren.

Unsere simulierten Sprechstunden finden in drei nebeneinanderliegenden, extra zu diesem Zweck eingerichteten Räumen statt. Jeder Raum ist mit einer Untersuchungsliege und einer Überwachungskamera ausgestattet. Wir prüfen Medizinstudentinnen und -studenten im zweiten und dritten Studienjahr in thematisch wechselnder Folge: in Kinderheilkunde, Chirurgie und Psychiatrie. An einem normalen Testtag müssen die Studierenden drei oder vier „Begegnungen“ absolvieren, jede mit einem anderen Schauspieler und einem anders gelagerten Fall.

Die Studierenden tasten beispielsweise eine Frau mit Unterleibsschmerzen ab (Selbstauskunft: Stärke zehn auf einer Skala von eins bis zehn), erklären dann einem von Wahnvorstellungen heimgesuchten jungen Anwalt, dass sein Empfinden, ein sich windendes Knäuel Würmer im Dünndarm zu haben, wahrscheinlich eine andere Ursache hat, und kommen im Anschluss in meinen Raum, wo sie mir mit unbewegter Miene mitteilen, dass ich vorzeitige Wehen habe und demnächst mit dem um meinen Bauch gebundenen Kissen niederkommen werde – oder sie nicken ernst, während ich meiner Sorge um mein kränkliches Plastikbaby Ausdruck verleihe: „Er ist immer so still.“

Nach der viertelstündigen Begegnung gehen die Studierenden wieder aus dem Zimmer, und ich fülle einen Evaluationsbogen über ihre jeweiligen Performances aus. Der erste Teil ist eine Checkliste: Welche zentralen Informationen hat er/sie aus mir herausgeholt? Welche blieben unberücksichtigt? Im zweiten Teil der Evaluation geht es ums Zwischenmenschliche. Unterpunkt 31 auf der Checkliste – „laut geäußerte Anteilnahme an meiner Situation/meinem Problem“ – wird von allen Seiten als der wichtigste eingeschätzt. Über die zentrale Bedeutung der beiden ersten Wörter – laut geäußert – hat man uns aufgeklärt. Es reicht nicht, ein verständnisvolles Gebaren an den Tag zu legen oder sich eines einfühlsamen Tonfalls zu befleißigen. Die Studenten müssen die richtigen Worte aussprechen, um Mitgefühlspunkte zu bekommen.

Wir Simulationspatienten haben ein eigenes Zimmer, in dem wir uns vorbereiten und Druck ablassen können. Wir kommen in Kleingrüppchen zusammen: alte Männer in zerknitterten blauen Morgenröcken, medizinische Fachangestellte mit für unsere papiernen Kittel viel zu coolen Stiefeln und ortsansässige Teenager in weiten Krankenhausumhängen und knallengen Jogginghosen. Wir helfen uns gegenseitig dabei, uns Kissen vor den Bauch zu schnallen. Doug, das kleine, aufblasbare, in eine billige Baumwolldecke gewickelte Baby, wird wie ein Staffelstab von Frau zu Frau weitergereicht. Unsere Reihen sind gefüllt mit den Mitgliedern lokaler Laientheatergruppen, Schauspielschülern auf der Suche nach der großen Bühne, Highschool-Kids, die sich Geld zum Versaufen verdienen, und Rentnern mit viel freier Zeit. Ich bin Autorin, und das bedeutet: Ich versuche, nicht ständig pleite zu sein.

Was wir aufführen, ist eine demographische Menagerie: Da gibt es die Sportskanone mit dem Kreuzbandriss und den Manager mit dem Koksproblem. Die Tripper-Oma hat gerade ihren Ehemann betrogen, mit dem sie seit vierzig Jahren verheiratet ist, und versteckt sich jetzt hinter ihrer Scham wie hinter einem Schleier. Die Studierenden sollen es schaffen, diesen Schleier zur Seite zu ziehen. Wenn sie die richtigen Fragen stellen, wird Tripper-Oma nach der Hälfte der Begegnung einen gespielten Heulkrampf erleiden.

Der Amnesie-Mann bekommt ein Make-up: einen tiefen Schnitt im Kinn, ein blaues Auge und mit grünem Lidschatten aufgetragene blaue Flecken auf den Wangenknochen. Er hat einen leichten Autounfall gehabt, an den er sich nicht erinnern kann. Vor der Sitzung sprüht sich der Darsteller mit Alkohol ein wie mit Parfüm. Hin und wieder soll er eine Anspielung auf seine Alkoholabhängigkeit fallenlassen, aber nur „ungeplant“, denn eigentlich hütet er die Details seines Geheimnisses, so gut es geht.

In unseren Skripten wimmelt es vor blumigen Ausschmückungen: Der Mann der schwangeren Lila segelt als Jacht-Kapitän vor Kroatien herum. Blinddarm-Angela hat einen toten Onkel, der seinerzeit Gitarrist war und dessen Tourbus von einem Tornado erfasst wurde. Jede Figur hat in der weiteren Verwandtschaft den einen oder anderen Fall, wo jemand auf gewaltsame, für den Mittleren Westen typische Art und Weise zu Tode gekommen ist: Menschen wurden bei Traktor oder Getreidesilounfällen zerfleischt oder auf der Heimfahrt vom Supermarkt von einem Betrunkenen am Steuer überfahren; sie wurden von Unwettern, Schlachtenbummler-Partys nach College-Footballspielen (Unfall mit Schusswaffen) oder, wie mein Bruder Will, von leiseren Nachwirkungen des Alkoholkonsums dahingerafft.

Zwischen den Begegnungen bekommen wir Wasser, Obst und Müsliriegel, außerdem gibt es einen unendlichen Vorrat an Pfefferminzbonbons. Wir sollen die Studierenden nicht mit den Nebenwirkungen unserer echten Körper behelligen, mit unserem Mundgeruch und unserem knurrenden Magen.

Manche der Studenten werden im Laufe der Sitzungen nervös, was sich dann anfühlt wie ein schlecht laufendes Date – mal davon abgesehen, dass die Hälfte von ihnen Eheringe aus Platin am Finger hat. Ich habe häufig das Bedürfnis, ihnen mitzuteilen, dass ich mehr bin als eine unverheiratete Frau, die für ein Taschengeld Krampfanfälle simuliert. Auch ich tue etwas!, will ich ihnen sagen. Wahrscheinlich schreibe ich hierüber irgend wann mal ein Buch! Wir machen Smalltalk über das Bauernkaff in Iowa, aus dem ich angeblich stamme. Uns beiden ist klar, dass wir uns dieses vor sich hin plätschernde Gespräch nur ausdenken, aber wir sind entschlossen, die Erfindungen des jeweils anderen als authentischen Ausdruck unserer Persönlichkeit zu behandeln. Wie ein Springseil halten wir die Fiktion zwischen uns fest.

Einmal vergaß einer der Studenten, dass wir nur so tun, als ob. Er fing an, mir detailgenaue Fragen zu meiner vorgeblichen Heimatstadt zu stellen – die zufälligerweise tatsächlich seine Heimatstadt war. Seine Fragen überstiegen das, was in meinem Skript stand oder was ich beantworten konnte, denn in Wirklichkeit weiß ich nicht viel über die Person, die ich spiele, oder den Ort, aus dem ich angeblich stamme. Der Student hatte unseren Vertrag aus dem Blick verloren. Beherzt saugte ich mir allen möglichen Quatsch aus den Fingern. „Stimmt, der Park in Muscatine!“, rief ich und schlug mir wie ein Großväterchen die Hand aufs Knie. „Da bin ich als Kind immer Schlitten gefahren.“

Andere sind ganz die Profis. Sie rattern ihre Abhakliste für Depressionssymptome runter wie einen Einkaufszettel im Supermarkt: Schlafstörungen, Appetitschwankungen, Konzentrationsschwierigkeiten? Manche von ihnen reagieren gereizt, wenn ich mich an mein Skript halte und mich weigere, Blickkontakt zu ihnen aufzunehmen. Aber ich soll ja in mich gekehrt und wie in einem Kokon sein. Diese nervösen Studenten interpretieren meine niedergeschlagenen Augen als Herausforderung. Pausenlos suchen sie meinen Blick. Das ist ihre Art, Kontrolle über die Situation zu behalten – sie nötigen mich dazu, die ihnen abverlangte Zurschaustellung von Fürsorglichkeit auch wirklich zur Kenntnis zu nehmen.

An die in ihrer beharrlichen Floskelhaftigkeit geradezu aggressiv erscheinenden Bemerkungen habe ich mich gewöhnt: Es ist sicher nicht einfach für Sie (ein sterbendes Baby zu haben), es ist sicher nicht einfach für Sie (Angst davor zu haben, den nächsten epileptischen Anfall mitten in einem Supermarkt zu bekommen), es ist sicher nicht einfach für Sie (in der Gebärmutter den bakteriologischen Nachweis für den Betrug am eigenen Ehemann zu tragen). Niemand sagt je: Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für Sie ist – warum eigentlich nicht?

Andere scheinen zu ahnen, dass Mitgefühl etwas ist, das stets auch gefährlich nah an der Kippe zur Übergriffigkeit steht. Sie drücken mir noch nicht mal das Stethoskop auf die Haut, ohne vorher zu fragen, ob das für mich okay sei. Sie brauchen eine Erlaubnis. Sie wollen sich nicht zu viel herausnehmen. Ihr Stammeln zollt – eher unabsichtlich – meiner Privatsphäre Respekt:

„Darf ich … dürfte ich … Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mir – einmal Ihr Herz anhöre?“ „Nein“, sage ich dann zu ihnen, „das macht mir nichts aus.“ Es ist schließlich mein Job, dass mir das nichts ausmacht. Ihre Demut ist eine Form von Anteilnahme. Ihre Demut bedeutet, dass sie mir Fragen stellen, und Fragen bedeuten, dass sie Antworten bekommen, und Antworten wiederum bedeuten, dass sie Punkte auf der Checkliste kriegen: einen Punkt dafür, dass sie herausbekommen, dass meine Mutter Antidepressiva nimmt, einen Punkt dafür, dass ich zugebe, die vergangenen beiden Jahre damit zugebracht zu haben, mich zu ritzen, und einen Punkt dafür, dass ich ihnen erzähle, dass mein Vater in einem Getreidesilo gestorben ist, als ich zwei war. Sie erhalten Punkte dafür, dass sie begreifen: Unter der Landschaft meines Lebens erstreckt sich ein radial-rhizomatisches Wurzelwerk aus Unglück.

In diesem Sinne lässt sich Empathie nicht nur durch Checklistenpunkt 31 bemessen – die „laut geäußerte Anteilnahme an meiner Situation/meinem Problem“ –, sondern durch jede Kleinigkeit, die erkennen lässt, dass mein Erfahrungshintergrund gründlich reflektiert worden ist. Einfühlung erschöpft sich nicht darin, brav daran zu denken, es ist sicher nicht einfach für Sie zu sagen. Empathisch zu sein bedeutet herauszufinden, wie man die Probleme anderer ans Licht befördert und so überhaupt erst sichtbar macht. Empathisch zu sein bedeutet nicht nur, zuzuhören, sondern auch, überhaupt erst die Fragen zu stellen, die dann Antworten hervorbringen, die man anhören muss. Empathie bedarf des beharrlichen Nachfragens genauso wie des Vorstellungsvermögens. Empathie bedarf des Wissens um die eigene Unwissenheit. Empathie heißt, dass man sich klarmacht: Es gibt immer einen Kontext, dessen Umriss mehr umfasst als das, was gerade noch sichtbar ist. Denn der Tripper der alten Frau hängt mit ihren Schuldgefühlen zusammen, die wiederum mit ihrer Ehe zusammenhängen, die wiederum mit ihren Kindern zusammenhängt, die wiederum mit ihrer eigenen Kindheit zusammenhängen. Und all das hängt dann wieder zusammen mit der häuslich unterdrückten Mutter und umgekehrt mit der nie geschiedenen Ehe der Eltern. Vielleicht lässt sich alles sogar zurückverfolgen bis zur allerersten Periode dieser Frau – und ihrer Scham und Erregung darüber.

Fähigkeit zur Empathie heißt begreifen, dass kein Trauma autonome Randbereiche hat, die nicht von ihm betroffen sind. Traumata suppen aus. Sie bluten aus Wunden und schwappen über Grenzen. Aus Trauer werden epileptische Anfälle. Und als Reaktion darauf erfordert auch Empathie eine Art von Durchlässigkeit. Mein Stephanie-Skript ist zwölf Seiten lang. Ich denke vor allem über die Dinge nach, die nicht darin stehen.

Das Wort Empathie kommt von dem griechischen Wort empatheia – zusammengesetzt aus en („hinein“) und pathos („Gefühl“). Es steht also für ein Eindringen, für eine Art Reise. Es tut so, als begebe man sich in den Schmerz eines anderen so hinein wie in ein fremdes Land, als durchlaufe man Grenzkontrollen und Zoll, als würde man eine Grenze qua Fragenstellen passieren: Was wächst da, wo du bist? Welche Gesetze gelten? Was für Tiere grasen dort?

Ich habe über Stephanie Phillips’ Anfälle unter dem Aspekt von Besitz und Privatsphäre nachgedacht: Dadurch, dass sie ihrer Trauer keinen direkten Ausdruck verleiht, sondern sie zu etwas anderem werden lässt, kann sie sie für sich behalten. Die Weigerung, Blickkontakt zu jemandem herzustellen, der Widerwille, ihre emotionale Befindlichkeit zu erklären, und die Tatsache, dass sie während ihrer Trauerbekundungen ohnmächtig wird und sich hinterher nicht daran erinnern kann – all das könnte doch einfach ein Weg sein, ihre Verlusterfahrung rein zu halten, zu beschützen und nicht durch das Mitleid anderer verfälschen oder verletzen zu lassen.

„Was rufen Sie denn bei einem solchen Anfall?“, fragt einer der Studenten.
„Keine Ahnung“, gebe ich zurück und will hinzufügen:
Aber ich meine es genau so.

Ich weiß, dass es gegen die Regeln verstoßen würde, das zu sagen. Schließlich spiele ich eine junge Frau, die ihre Trauer so tief vergraben hat, dass sie sie noch nicht mal selbst sehen kann. So einfach darf ich es meinen Studenten nicht machen.

Leslie Jamison – Frauenheilkunde – Materialien für Patienten-Darstellerin

Der Fall: Sie sind eine Frau von fünfundzwanzig Jahren und wollen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Sie waren noch nie zuvor schwanger. Sie sind in der sechsten Schwangerschaftswoche, haben aber bislang weder Blähungen noch Bauchkrämpfe gehabt. Stimmungsschwankungen dagegen haben Sie schon an sich beobachtet, können aber nicht sicher sagen, ob das im Zusammenhang steht mit der Schwangerschaft oder mit dem Wissen um diese Schwangerschaft. Äußerlich ist Ihnen keine Aufgeregtheit wegen der Schwangerschaft anzumerken. Inwieweit Sie innerlich aus der Fassung sind, wissen Sie nicht so genau.

Behandlungsgeschichte: Sie nehmen keinerlei Medikamente. Deswegen sind Sie ja auch schwanger geworden.

Krankheitsgeschichte: Sie sind in der Vergangenheit mehrfach operiert worden, was Sie dem Arzt gegenüber aber nicht erwähnen, weil Sie es für unwichtig halten. Demnächst sollen Sie erneut operiert werden, um Ihre Tachykardie in den Griff zu bekommen, Ihren viel zu schnellen, unregelmäßigen Herzschlag. Ihre Mutter hat Ihnen das Versprechen abgenommen, dass Sie die bevorstehende Operation in dem Beratungsgespräch zum Schwangerschaftsabbruch ansprechen, obwohl Sie dazu eigentlich gar keine Lust haben. Ihre Mutter möchte aber, dass der Arzt über Ihre Herzprobleme Bescheid weiß – womöglich hat es ja Auswirkungen auf die Art und Weise des Abbruchs oder der Narkose während des Eingriffs.

Ich könnte ihnen erzählen, dass ich im Februar eine Abtreibung hatte und im März eine Herz-OP. Ich könnte die Geschichte so erzählen, als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun, als wären es zwei unterschiedliche Skripte ohne jeden Zusammenhang. Aber ohne die jeweils andere wäre keine der beiden Darstellungen vollständig. Ein einziger Monat hat sie miteinander verknüpft. Gleich zwei Mal hintereinander bin ich morgens nüchtern aufgestanden und in einen Kittel aus Papier geschlüpft. Die eine OP hing von einem winzigen Sauger ab, die andere von einem Katheter, der Teile meines Herzgewebes abladieren sollte. Abladieren? Ich fragte bei den Ärzten nach. Sie erklärten mir, dass abladieren wegbrennen bedeutet.

Der eine Eingriff führte bei mir zu Blutungen, der andere verlief fast gänzlich unblutig; für den einen hatte ich mich entschieden, für den anderen nicht; beide ließen mich im selben Moment die unfassbare Zerbrechlichkeit und das unglaubliche Vermögen meines Körpers spüren; beide kamen im fahlen Winter; beide hatten zur Folge, dass ich lang hingestreckt unter Männerhänden lag und abhängig war von der Fürsorge eines Mannes, den ich gerade erst zu lieben begonnen hatte.

Dave und ich küssten uns zum ersten Mal um drei Uhr morgens in einem Keller in Maryland, auf unserer Fahrt nach Newport News, wo wir 2008 Wahlwerbung für Obama machten. Unsere Kampagne hatte ein Verein namens Unite Here organisiert. Unite Here! Noch Jahre später hing das Plakat über unserem Bett. In diesem allerersten Herbst wanderten wir die mit zerbrochenen Muschelschalen übersäten Strände von Connecticut entlang. Zum Schutz gegen den salzigen Wind hielten wir uns an den Händen. Für das Wochenende nahmen wir uns ein Hotelzimmer und ließen so viel Schaumbad in die Wanne laufen, dass die Schaumblasen über den Fußboden liefen. Wir machten Fotos davon. Wir machten Fotos von allem.

Im strömenden Regen liefen wir einmal quer durch Williamsburg zu einem Konzert. Wir waren frisch verliebte Schriftsteller. Mein Chef zog mich damit auf, dass wir nachts, eng aneinandergekuschelt, vermutlich Bestandsaufnahmen unserer Befindlichkeiten machten. Wie ging es dir heute, als wir auf der Straße die verletzte Taube gesehen haben? Tatsächlich haben wir einmal, nachdem wir auf einem kargen Rasenstück zwei verkrüppelte Kaninchen beim Versuch beobachtet hatten, sich zu paaren, darüber gesprochen, wie traurig und gleichzeitig rührend dieser Anblick gewesen war.

Als ich schwanger wurde, waren wir ungefähr zwei Monate zusammen. Ich sah die beiden Striche auf dem Teststäbchen und rief Dave an. In bitterer Kälte drehten wir auf dem Campus unsere Runden und redeten darüber, was wir tun sollten. Ich dachte an den kleinen Fötus, der da zusammengerollt mit mir unter meiner Jacke steckte, und fragte mich vollkommen ernsthaft, ob ich schon eine Bindung zu ihm fühlte. Ich war mir nicht sicher. Ich weiß noch, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich weiß, dass ich mich nach einem Drink sehnte. Ich weiß, ich wollte, dass Dave und ich gemeinsam eine Entscheidung trafen, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, niemand außer mir könne Besitzansprüche auf das Geschehene erheben. Dave sollte unbedingt begreifen, dass ihn die Konsequenzen dieser Entscheidung niemals so betreffen würden wie mich. Wie bei allem, was für mich schmerzlich war, wünschte ich mir, dass jemand meine Empfindungen teilte, beanspruchte sie aber gleichzeitig ganz für mich allein.

Wir legten die Abtreibung auf einen Freitag, was mir im Vorfeld eine Woche voller ganz normaler Wochentage bescherte. Mir wurde klar, dass dieses Tun ganz normaler Dinge genau das war, was von mir erwartet wurde. An einem Nachmittag verkroch ich mich in die Bibliothek und las einen sehr persönlichen Bericht über eine Schwangerschaft. Die Autorin beschrieb, wie sie ihr ganzes Leben lang eine pochende Faust aus Angst und Einsamkeit in sich getragen hatte, die sie lange mit Alkohol und Sex zum Schweigen gebracht hatte, bis die Schwangerschaft diese Faust durch die winzige Knospe ihres Fötus ersetzt hatte – durch die Bewegung eines Lebens.

Ich schrieb Dave eine SMS. Ich wollte ihm von der Angstfaust und von dem Babyherzen erzählen und wie traurig es für mich war zu lesen, dass eine andere Frau von ihrer Schwangerschaft umgekrempelt worden war, während ich wusste, dass mir das mit meiner nicht passieren würde – zumindest nicht in dem Maße, wie sie umgekrempelt worden war. Stundenlang bekam ich keine Antwort. Ich ärgerte mich. Ich fühlte mich schuldig, weil ich angesichts der Abtreibung keine größeren Gefühle hatte, und ich war sauer auf Dave, weil er irgendwo anders war und beschlossen hatte, nicht das kleinste Fitzelchen beizutragen, während ich den ganzen Rest zu erledigen hatte. Ich spürte den Erwartungsdruck, der auf jedem einzelnen Augenblick lastete: das Gefühl, dass das bevorstehende Ende der Schwangerschaft mich traurig stimmen sollte; die lauernde Angst davor, dass mich nie das traurig stimmte, was mich eigentlich traurig zu stimmen hatte; die Erinnerungen an die Beerdigungen, die ich trockenen Auges miterlebt hatte; die latente Vermutung, dass mein Innenleben verdorrt war und allein vom kontinuierlichen Bedürfnis nach Bestätigung angeregt wurde. Ich wünschte mir, dass Dave exakt in dem Augenblick, in dem ich ein Bedürfnis verspürte, von allein erriet, was für ein Bedürfnis ich hatte. Ich wollte, dass er eine Vorstellung davon hatte, wie viel mir selbst kleinste Zeichen seiner Anwesenheit bedeuteten.

An jenem Abend brieten wir Gemüse und aßen es an meinem Küchentisch. Einige Wochen zuvor hatte ich genau auf diesen Tisch Zitrusfrüchte gehäuft und an unsere Freunde aus Beeren gemachte Kügelchen verfüttert, die alles süß machten: Pampelmusen schmeckten wie Bonbons, Bier wie Schokolade, trockener Shiraz wie gezuckerter Erdbeerwein. Eigentlich schmeckte alles nach Erdbeerwein. Will sagen: In meiner Küche schwebten noch die Geister ungezählter Tage, die unbeschwerter gewesen waren als der, den wir gerade durchlebten. Wir tranken Wein, und ich glaube – ich weiß –, ich trank eine Menge. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass ich dem Fötus Schaden zufügte, denn das bedeutete, dass ich ihn überhaupt für schadensanfällig hielt, was den Fötus lebendiger werden ließ, was wiederum mir – beschwipst von billigem Cabernet und streitlustig – das Gefühl gab, noch egoistischer zu sein.

Erst als ich an jenem Tag merkte, dass Dave auf Abstand ging, wurde mir klar, wie sehr ich das Gefühl brauchte, dass er diese Schwangerschaft genauso hautnah miterlebte wie ich – ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ich fand, er könnte die tiefe Kluft zwischen unserem Erleben und unseren Körpern zumindest mit einer SMS überbrücken. Was ich ihm auch sagte. Na ja, wahrscheinlich wartete ich eher beleidigt darauf, dass er nachfragte, und sagte es ihm erst dann. Ein anderer Freund hat mir gegenüber mal geäußert: Deine Gefühle zu erraten ist, wie eine Kobra mit einem Stethoskop zu beschwören. Was, glaube ich, mehreres zugleich bedeuten sollte: Dass Schmerz mich aggressiv werden lässt, dass es, um mir eine Diagnose zu stellen, einer sehr präzisen Form von Beschwörung bedarf, und dass ich meine Gefühle einerseits offen zur Schau stelle, andererseits aber ihre Ursache nicht preisgebe.

Als ich am Abend dieses Tages mit Dave in meinem Wohnzimmer unterm Dach zusammensaß, informierte ich ihn: „Ich habe mich heute sehr allein gefühlt. Ich hätte mich gefreut, etwas von dir zu hören.“

Ich würde lügen, wenn ich schriebe, dass ich mich daran erinnere, was er antwortete. Denn ich erinnere mich nicht. Das ist das traurige Halbleben von Streitigkeiten – dass wir uns meistens besser an unsere Hälfte erinnern. Ich glaube, er hat gesagt, er habe den ganzen Tag an mich gedacht. Und dieser Aussage konnte ich nicht trauen? Warum brauchte ich Beweise?

Laut geäußerte Anteilnahme an meiner Situation/meinem Problem. Warum brauchte ich Beweise? Ich brauchte sie eben.

Er sagte zu mir: „Ich glaube, du redest dir da etwas ein.“

Ich redete mir etwas ein? Was denn? Meine Wut? Meine Wut auf ihn?

Ich sagte ihm, ich wisse nicht, was ich fühle. Ob er mir nicht einfach abnehmen könne, dass ich etwas fühle und dass ich etwas von ihm gewollt habe? Ich brauchte seine Anteilnahme nicht nur, um die von mir beschriebenen Emotionen zu verstehen, sondern auch, um herauszufinden, was für Emotionen tatsächlich da waren.

Wir saßen unter einem Dachfenster. Hinter der Glasscheibe waren der Mond und der Februar. Es war kurz vor Valentinstag. Ich lag zusammengerollt auf einem billigen Futon, der mir mit den Krümeln in seinen Falten das Gefühl gab, immer noch auf dem College zu sein. Die Abtreibung war etwas Erwachsenes. Mitten darin fühlte ich mich nicht erwachsen.

Ich verstand du redest dir da etwas ein als einen Vorwurf, dass ich mir Gefühle ausdachte, die gar nicht da waren. In Wirklichkeit wollte Dave mir wohl sagen, dass ich meine Gefühle nicht richtig interpretierte – dass ich eine seit längerem in mir schwelende Unzufriedenheit und Unsicherheit ausschließlich mit der Abtreibung in Verbindung brachte und meine Emotionen dieses spezifische Ereignis betreffend übertrieb, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Dieser Vorwurf tat nicht deshalb weh, weil er vollkommen falsch war, sondern weil er in Teilen berechtigt war – und weil er mit einer derartigen Gefühlskälte vorgebracht wurde. Dave äußerte etwas Wahres über mich, aber nicht, damit es mir besserging, sondern zu seiner Verteidigung.

Und doch hatte er recht. Dave begriff, dass mein Schmerz etwas gleichermaßen Reales wie Konstruiertes war. Und er begriff auch, dass er notwendig beides zugleich war – dass meine Gefühle auch eine Konsequenz dessen waren, wie ich über sie sprach. Als er zu mir sagte, ich würde mir etwas einreden, meinte er nicht, dass ich eigentlich überhaupt nichts fühlte. Er meinte, dass ein Gefühl nie einfach nur im Zustand ergebener Passivität entsteht, sondern immer auch ein Prozess der Konstruktion ist. Rückblickend leuchtet mir das ein.

Und doch hätte er behutsamer mit mir umgehen können. Wir hätten beide behutsamer miteinander umgehen können.

An einem klirrend kalten Morgen gingen wir zu Planned Parenthood. Während ich darauf wartete, dass mein Name aufgerufen wurde, stöberten wir in einer Kiste mit Kinderbüchern. Keine Ahnung, warum es dort überhaupt Kinderbücher gab. Vielleicht waren sie für Kinder, die warteten, während ihre Mütter sich beraten ließen. Aber an jenem Morgen, an einem Freitag, an dem hier allwöchentlich die Abtreibungen vorgenommen wurden, wirkten sie wie eine Perversion. Wir entdeckten ein Buch, das Alexander hieß und von einem Jungen handelte, der seinem Vater all seine Missetaten gestand, indem er sie einem ausgedachten rot-grün gestreiften Pferd zuschrieb. „Alexander war heute ein böses Pferd.“ Alles, was wir selbst nicht halten können, hängen wir an einen Haken, der es hält. Das Buch gehörte einem gewissen Michael aus Branford. Ich fragte mich, warum Michael zu Planned Parenthood gekommen war und warum er das Buch hier liegengelassen hatte.

Es gibt Dinge, die ich der Version meiner selbst, die da im Wartezimmer von Planned Parenthood hockte, gern sagen würde, dieser Frau, die so beflissen fröhliche Unbesorgtheit zur Schau stellte. Ich würde ihr sagen, dass sie gerade dabei war, etwas so Gewaltiges zu durchleben, dass sie sich ruhig trauen sollte, sich diese Gewaltigkeit einzugestehen. Genauso wenig sollte sie Angst davor haben, „zu viel Theater“ darum zu machen. Sie sollte keine Angst davor haben, nicht genug zu empfinden, denn die Gefühle werden sich schon noch von ganz allein einstellen, und zwar gänzlich andere als erwartet. Sie werden jahrelang immer wieder kommen. Ich würde ihr sagen, dass auch die Tatsache, dass etwas allgemein üblich ist, einen nicht gegen den Schmerz immunisiert. Dass die ganzen Frauen im Wartezimmer dasselbe taten wie ich, machte es schlichtweg nicht einfacher.

Ich würde mir heute sagen: Möglicherweise spielen deine vorausgegangenen Operationen in dieser Situation keine Rolle, vielleicht aber eben auch doch. Dein gebrochener Kiefer und dein gebrochener Arm haben nichts mit deiner Schwangerschaft zu tun – außer, dass eben auch da etwas in dir zerbrochen ist. Um diese beiden Brüche wieder gerichtet zu bekommen, musste jeweils noch einmal in dich eingebrochen werden. Die Reparatur deines Herzens wird der nächste Einbruch sein, auch wenn dir da, außer dem, was weggebrannt wird, nichts weggenommen wird. Vielleicht beschwörst du jedes Mal, wenn du in einen Papierkittel steigst, die Geister all der anderen Male herauf, als du in einen Papierkittel gestiegen bist. Vielleicht ist die Narkosedunkelheit, in die du hinabgleitest, jedes Mal dieselbe. Vielleicht hat diese Dunkelheit die ganze Zeit auf dich gewartet.

Stefanie Phillips – Psychiatrie – Materialien für die Patienten-Darstellerin (Fortsetzung)

Erster Satz: „Ich habe so Krampfanfälle, und niemand kann mir sagen, warum.“

Aussehen, Auftreten, Tonfall: Sie tragen Jeans und Sweatshirt, vorzugsweise fleckig oder zerknittert. Sie sind niemand, der dem äußeren Erscheinungsbild allzu viel Bedeutung beimisst. Im Laufe der Begegnung könnten Sie an beliebiger Stelle erwähnen, dass Sie keinen Wert mehr darauf legen, sich hübsch anzuziehen, da Sie ja sowieso kaum noch das Haus verlassen. Es ist von zentraler Bedeutung, dass Sie jeglichen Blickkontakt vermeiden und dass Ihre Stimme während der gesamten Begegnung vollkommen emotionslos klingt.

Beim Spielen von Stephanie Phillips ist es mit am schwierigsten, ihre grundsätzliche Gemütsverfassung richtig rüberzubringen – la belle indifférence, ein Auftreten, das laut Skript die „Ausstrahlung der Unbeteiligtheit“ verlangt, „die manche Patienten ihren Symptomen gegenüber an den Tag legen“. Dieser vor sich hergetragene Schild der Gleichgültigkeit, hinter dem „die möglicherweise Angst machenden, oft durch sekundäre Ziele wie Mitleid oder Aufmerksamkeit von anderen ersetzten“ körperlichen Symptome versteckt werden, ist ein häufig anzutreffendes Zeichen einer Konversionsstörung. La belle indifférence – also das Auslagern emotionaler Substanz auf körperliche Ausdrucksformen – ist eine Methode, Empathie zu bekommen, ohne aktiv darum zu bitten. In dieser Hinsicht sind Begegnungen mit Stephanie sozusagen Empathie-Grenzfälle:

Der Arzt oder die Ärztin muss eine Traurigkeit freilegen, die der Patientin selbst noch nicht bewusst ist, er oder sie muss sich einen Schmerz vorstellen, den Stephanie selbst noch nicht zur Gänze spüren kann.

In anderen Fällen sollen wir unsere Pein offener zur Schau tragen – so wie ein qualvolles, siedend heißes Gewand. Als ich zum ersten Mal testweise Blinddarm-Angela spiele, bekomme ich gesagt, dass ich „genau die richtige Menge Schmerz“ hinkriege. In Embryonalstellung stöhne ich vor mich hin und mache es offenbar genau richtig so. Die Ärzte wissen, wie sie da rauf zu reagieren haben. „Es tut mir leid zu hören, dass Sie so schlimme Unterleibsschmerzen haben“, sagt einer. „Das muss sehr unangenehm sein.“

Ein Teil von mir hat sich schon immer nach einem derart sichtbaren Schmerz gesehnt – einem unbestreitbaren, unentrinnbaren physischen Schmerz, den niemand ignorieren kann. Aber die Trauer über die Abtreibung kam nie als konvulsivische Zuckung. Ich hatte keinen Nervenzusammenbruch und keinen Heulkrampf. Keinen Schaum vor dem Mund. Als ich drei Tage nach dem Eingriff Schmerzen bekam, war ich fast erleichtert. Am schlimmsten war es mit den Bauchkrämpfen nachts. Aber immerhin war ich mir sicher über das, was ich da empfand. Ich musste mir nicht erst überlegen, wie ich es erklären sollte – so wie Stephanie, die über ihre Trauer nicht sprach, weil die Anfälle dieser Trauer – wenn auch nur stückweise und in einer Privatsprache, aber immerhin – schon Ausdruck, Substanz und Dramaturgie verliehen.

Stephanie Phillips – Psychiatrie – Materialien für Patienten-Darstellerin (Fortsetzung)

Begegnungsdynamik: Persönliche Details geben Sie nur preis, wenn Sie direkt dazu aufgefordert werden. Sie würden sich selbst nicht als glücklich bezeichnen. Als unglücklich würden Sie sich aber auch nicht bezeichnen. In manchen Nächten überkommt Sie die Trauer wegen Ihres Bruders.

Das sagen Sie aber nicht. Genauso wenig erzählen Sie, dass Sie eine Schildkröte haben, die Sie möglicherweise überleben wird, und ein Paar grüne Turnschuhe von Ihrem Job bei der Minigolfanlage. Sie erzählen nicht, wie oft Sie sich daran erinnern, wie Sie Golfschläger aufeinanderstapelten. Auf Nachfrage erzählen Sie, dass Sie noch einen Bruder haben, aber Sie sagen nicht, dass dieser Bruder nicht Will ist, denn das ist offensichtlich – obwohl Sie die Wahrheit hinter dieser Aussage oft noch heftig erwischt. Ihnen ist nicht klar, ob diese Dinge wichtig sind. Für Sie sind das einfach Tatsachen. Tatsachen wie die getrocknete Spucke auf Ihren Wangen, wenn Sie auf dem Sofa aufwachen und sich nicht daran erinnern können, zu Ihrer Mutter gesagt zu haben, sie solle sich ficken. Fick dich sagt auch Ihr Arm, wenn er so heftig zuckt, dass er vielleicht in Stücke bricht. Fick dich fick dich fick dich – so lange, bis die Kiefersperre einsetzt und nichts mehr kommt.

Sie leben in einer Welt unterhalb der Wörter, die Sie in diesem weißen Zimmer von sich geben: Alles okay, mir geht’s gut, wahrscheinlich bin ich noch ein bisschen traurig. In der anderen Welt sind Sie blind. Es ist dunkel dort. Sie bewegen sich nur krampfhaft vorwärts – mit zuckenden Gliedmaßen, linkisch – und versuchen zu ertasten, woraus die Wände gemacht sind.

Bevor er derart auf die Barrikaden gegangen ist, war Ihr Körper alles andere als auffällig. Vielleicht haben Sie Ihre Schenkel für dick gehalten, vielleicht aber auch nicht; vielleicht hatten Sie beste Freundinnen, die Ihnen, wenn Sie bei ihnen übernachtet haben, Geheimnisse ins Ohr flüsterten; vielleicht waren Sie schon häufig liiert, vielleicht haben Sie aber auch noch auf den Ersten gewartet; vielleicht mochten Sie Einhörner, als Sie klein waren, vielleicht waren Ihnen aber normale Pferde auch lieber. Ich entwerfe Sie in jede nur denkbare Richtung, dann verwische ich meine Spuren und denke Sie mir noch einmal ganz neu aus. Manchmal finde ich es schrecklich, wie viel ich über Sie nicht weiß.

Dass die Herz-OP so kurz auf die Abtreibung folgte, war nicht geplant gewesen. Eigentlich war die Herz-OP als solche nicht geplant gewesen. Dass überhaupt etwas nicht in Ordnung war, kam überraschend. Im Behandlungszimmer des Arztes hatte sich mein Pulsschlag als zu schnell erwiesen. Ich bekam ein Langzeit-EKG: ein kleines Plastikkästchen, das mir mit Sensoren auf die Brust geklebt wurde und das ich vierundzwanzig Stunden lang um den Hals zu tragen hatte. Es zeigte den Ärzten, dass mein Herz nicht richtig schlug. Die Ärzte stellten mir die Diagnose SVT – supraventrikuläre Tachykardie – und sagten, sie glaubten, ich hätte da einen zusätzlichen elektrischen Knoten, der Extra-Impulse aussandte, die nicht sein sollten: Herzschlag, Herzschlag, Herzschlag.

Sie erklärten mir, wie das in den Griff zu bekommen sei: Man würde oberhalb der Hüfte zwei Schnitte in die Haut machen und von dort aus Katheterröhrchen bis hinauf zu meinem Herzen schieben. Dann würde man so lange Gewebeschicht für Gewebeschicht abtragen, bis man meine winzige widerspenstige Beatbox los wäre.

Meine Kardiologin war eine kleine Frau, die sich überaus flink durch die Behandlungszimmer und Flure ihrer Welt bewegte. Nennen wir sie Dr. M. Sie redete sehr barsch mit einem. Immer. Das Problem dabei war nicht, dass ihre brüske Art irgendeine Bedeutung hatte – ich habe sie auch nie persönlich genommen –, sondern gerade, dass sie überhaupt keine Bedeutung hatte, dass sie eben nicht persönlich gemeint war.

Meine Mutter bestand darauf, dass ich Dr. M. anrief und ihr von der bevorstehenden Abtreibung erzählte. Was, wenn es doch etwas gab, das die operierenden Ärzte im Vorfeld wissen sollten? Ich schob den Anruf vor mir her, bis ich ihn nicht mehr länger hinauszögern konnte. Die Vorstellung, einer beinahe Fremden am Telefon und ohne danach gefragt worden zu sein von meiner Abtreibung zu erzählen, empfand ich als demütigend. So, als würde ich vor ihren Augen den Verband von einer Wunde wickeln, die sie gar nicht sehen wollte.

Als ich sie schließlich am Apparat hatte, klang sie abgehetzt und ungeduldig. Ich erzählte es ihr schnell. Mit eisiger Stimme fragte sie: „Und was wollen Sie jetzt von mir wissen?“

Diese Frage brachte mich komplett aus dem Konzept. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar gewesen, dass ich eigentlich etwas Mitfühlendes von ihr hören wollte: Oh, das tut mir leid für Sie. Ich wollte, dass sie irgendwas zu der Abtreibung sagte. Ich fing an zu weinen. Ich fühlte mich wie ein Kind. Wie eine Idiotin. Warum weinte ich denn ausgerechnet jetzt? Wo ich doch vorher überhaupt noch nicht geweint hatte – nicht, als ich von der Schwangerschaft erfahren, nicht, als ich Dave davon berichtet, nicht, als ich das Beratungsgespräch vereinbart hatte, und auch nicht, als ich hingegangen war.

„Ich höre?“, sagte sie.

Endlich fiel mir meine Frage wieder ein: Musste der Arzt irgendetwas über meine Tachykardie wissen?

„Nein“, sagte sie. Es entstand eine Pause, dann fragte sie:
„War’s das?“ Sie klang so unfassbar teilnahmslos. Ich konnte in ihrer Stimme nur eines hören: Warum machen Sie denn so einen Aufstand? Nicht mehr. Ich hatte gleichzeitig das Gefühl, nicht genug zu empfinden und aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Vielleicht machte ich auch aus einer Mücke einen Elefanten, *weil+ ich nicht genug empfand. Vielleicht waren meine Tränen ein Überlaufventil für ganz andere Aspekte der Abtreibung, über die ich gerade nicht weinte. Ich spürte eine Unsicherheit in mir, die nicht wusste, wie sie sich Ausdruck verschaffen sollte, und die sich deswegen sowohl an den Tränen als auch an der Tränenlosigkeit festmachen konnte. Alexander war heute ein böses Pferd. Obwohl das Pferd natürlich gar nicht das Problem war. Dr. M. wurde zur Übeltäterin, weil in meiner Geschichte der Übeltäter fehlte. Ich hatte es mit der Art Schmerz zu tun, die ohne Verursacher von außen auftritt. Alles, was geschah, geschah wegen meines Körpers oder wegen einer Entscheidung, die ich selbst getroffen hatte. Ich brauchte etwas von der Welt, um das ich nicht bitten konnte, weil ich nicht wusste, wie ich hätte bitten sollen. Ich brauchte Menschen – Dave, die Ärztin, egal wen –, die mir meine Gefühle in einer für mich lesbaren Form zurückspiegelten. Ich wollte also eine Form der Empathie, wie man sie anspruchsvoller nicht suchen oder geben kann: eine Empathie, die etwas eindeutig zum Ausdruck bringt, das sie nur sehr undeutlich, uneindeutig, gezeigt bekommt.


Hilft Empathie oder steht sie uns nur gut zu Gesicht? Leslie Jamison schreibt in ihrem Buch über das Verhältnis von Ärzten und Patienten, über Elendstourismus, über weiblichen Schmerz. Und sie stellt dabei die Frage nach den Möglichkeiten und den Grenzen der Einfühlung. (Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann.)

2015 Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag

Redaktion: Theresa Bäuerlein. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacher: unsplash / Daria Nepriakhina).