Eine Notaufnahme wird ja von vielen besucht. Da ist alles dabei vom Zeckenbiss bis zum Schlaganfall, von der Hautabschürfung bis zum Knochenbruch, von Verstopfungen bis zum Darmverschluss. Aber nicht alle, die sich todsterbenskrank fühlen, sind es auch. Die Frage ist also: Woran erkennen wir die echten Kranken und woran die „Lappen“, die ich hier in Folge 1 beschrieben habe?
Aber der Reihe nach.
Schon einmal von Profiling gehört? Das gibt es nicht nur in der Kriminalistik, im Marketing oder in der Psychologie. Der Duden übersetzt diesen Fachbegriff so: „für bestimmte Zwecke nutzbare Erstellung des Gesamtbildes einer Persönlichkeit.”
In der Krankenpflege wird ein anderer Begriff verwendet, der etwas ganz Ähnliches beschreibt. Für manche klingt er wahrscheinlich viel langweiliger c da nicht so spektakulär. Wir nennen es: Krankenbeobachtung. Gesundheits- und Krankenpfleger lernen das viele, viele Stunden lang in ihrer Ausbildung.
Ich kann mich noch erinnern, wie ich vor einigen Jahren mit meiner Freundin durch eine kleine Stadt lief und gar nicht anders konnte, als bei den Menschen genauer hinzusehen.
„Schau mal, wie der läuft! Ich tippe auf Schlaganfall.“ – „Siehst du diese roten geplätzten Äderchen in dem Gesicht? Scheint mir ein Blutdruckproblem zu sein!“ An der Kasse im Supermarkt fielen uns operationswürdige Krampfadern an Frauen- und Männerbeinen auf und besonders schöne Venen an Armen, die selbst uns Anfängerinnen „machbar und punktabel“ erschienen.
Der menschliche Körper sendet fortwährend Botschaften aus, die nur darauf warten, von uns entschlüsselt zu werden. Später gesellt sich eine gewisse Menschenkenntnis dazu. Sie ist im Krankenhaus genauso wichtig wie das Fachwissen, weil sie uns hilft, Zusammenhänge zu erkennen und richtig zu deuten. Die richtigen Fragen zu stellen. Oder auch Fragen wegzulassen. Zuzuhören. Sich im besten Fall nicht sofort ein Bild zu machen, sondern erst mal abzuwarten, wie die Dinge sich entwickeln.
Das lernt man nicht von heute auf morgen, diese Kenntnis kommt mit der Erfahrung. Es hört nie auf. Auch wenn du meinst, alles schon gesehen zu haben – immer kommt ein neuer Patient, eine andere Art im Umgang mit Krankheit, eine Torheit, die ihresgleichen sucht, um die Ecke und lehrt dich. Und so frage ich oft die Schüler, die in der Notaufnahme eingesetzt sind, wenn wir gemeinsam ein Zimmer betreten:
Was siehst du?
Was riechst du?
Was spürst du?
Was hörst du?
Was fühlst du?
Was ist komisch?
Und vor allem: Was siehst du nicht?
Die meisten schauen dann ein bisschen ratlos, weil sie zunächst keine Ahnung haben, worauf ich hinauswill. „Wie – was soll ich sehen? Die rosa Kacheln an der Wand? Den blauen Bademantel, den der Patient trägt?“ (Vielleicht haben sie auch Angst, dass es wieder eines meiner Späßchen sein könnte, auf das sie gerade hereinfallen.)
Aber tatsächlich ist mir selten etwas ernster.
Denn noch bevor ich zu den üblichen Messmethoden greife und Blutdruck, Puls, Temperatur, Sauerstoffgehalt im Blut und die Atemfrequenz messe, setzt sich ein Bild des Patienten zusammen, der vor mir liegt. Nach knapp 30 Jahren Berufserfahrung geht das bei mir automatisch, läuft los wie ein Scanner:
Was siehst du?
Wie ist der Patient angezogen – das gibt uns einen Hinweis auf den sozialen Status eines Menschen. Trägt er saubere Kleidung oder ist er verlottert, wirkt er insgesamt gepflegt oder eher nicht? Welche Farbe und Beschaffenheit hat die Haut: fahl, blass, gerötet, bläulich verfärbt, schweißig oder trocken? All das gibt einen Rahmen.
Weiter beobachte ich, wie sich der Patient bewegt: schleppend, beschwingt, eingeschränkt, hinkend oder gar nicht, weil er schon liegt oder nicht mehr kann.
Stellen wir uns vor, die Polizei bricht eine Wohnungstür auf. Seit drei Tagen hat keiner mehr etwas von der älteren Frau gesehen oder gehört, die dahinter wohnt. Die Polizei rückt mit Feuerwehr und Rettungsdienst an. Die Retter stellen fest, dass die Patientin in der Badewanne liegt, sie war ausgerutscht, gestürzt und konnte sich nicht mehr selbst helfen. Ihre Haut ist an vielen Stellen aufgequollen, denn an den Badewannenstöpsel kam die Frau auch nicht mehr ran. Überall am Körper hat sie blaue Flecken – ein Trauma vom langen, bewegungslosen Liegen. Sie ist unterkühlt. Ihr Allgemeinzustand ist erstaunlich stabil. Sie scheint eine Kämpfernatur zu sein.
Anhand der Fingernägel sieht man, dass sie eigentlich viel mehr Hilfe im Leben gebraucht hätte. Sie sind gelblich verfärbt, rissig, und unter den Nägeln haben sich Schmutzreste angesammelt. Das Haar ist stellenweise rötlich gefärbt, aber einen Friseur scheint sie schon länger nicht mehr besucht zu haben. Es ist ein trauriges Schicksal. Nicht nur, dass sie drei Tage in einer kalten Wanne lag – auch der Rest der kleinen, ausgemergelten Person ist ein Bild sozialer Verwahrlosung. Von Traurigkeit, Armut und fehlender menschlicher Nähe.
Was riechst du?
Es ist erstaunlich, wie fein eine Nase sein kann. Ich rieche einen Harnwegsinfekt gefühlt zehn Meter gegen den Wind. Ein Geruch, der sich – einmal geschnuppert – festsetzt für immer. Ein Pipigeruch, der leicht säuerlich aus Hosen emporwabert. Ebenso ist es bei Wundgeschwüren aller Art. Dieser süßliche, alles zersetzende Geruch. Ein Geruch, den man besser nicht in seinem Leben riechen sollte. Denn ihn vergisst man ebenso wenig, wie den Mundgeruch von Patienten mit Leberschäden, der metallisch riecht mit einer ordentlichen Portion Metzgerei: Abteilung Innereien. Auch Schweißgerüche kann ich auseinanderhalten. Die meisten würden das einfach pauschal „nicht gewaschen“ nennen – ich unterscheide Fieber, Zuckerentgleisung, Verwahrlosung und manchmal auch Angst. Oft sind es Nuancen. Diese Dinge lernt man nicht, weil man es einmal im Unterricht gehört hat: Sie sind die Summe aus Beobachtungen und Erfahrungen, die man sich über die Jahre antrainiert hat.
Blut hat einen wahnsinnigen Eigengeruch. Es ist wie der metallische Geschmack, wenn du dich auf die Zunge beißt und es blutet.
Einmal stand ein Mann an Silvester auf seinem Balkon und wollte einen Kracher in die Nacht werfen. Er schaute vorschriftsmäßig nach unten, denn er wollte damit keinen Passanten treffen. In diesem Augenblick kam von unten eine Rakete hochgeschossen. Er erschrak, taumelte rückwärts und fiel durch die geschlossene Balkontür. Als die Sanitäter mit ihm in der Notaufnahme eintrafen, tropfte das Blut von der Trage. Sie hatten die Blutungen unterwegs nicht stoppen können. Es waren unzählige, tiefe Schnittwunden. Diesen Geruch bekommt man nie wieder aus der Nase.
Was hörst du?
Die Stimme ist ein weiterer Hinweis darauf, wie es einem Menschen geht. Mit der Begrüßung fängt es an: Ist die Stimme des Patienten fröhlich, gepresst, depressiv eingefärbt, hauchend oder stöhnend, atemlos, verlangsamt oder am Ende gar nicht vorhanden? Das wäre dann sehr schlecht. Redet der Patient komische und wahllose Sachen, die keinen Sinn ergeben? Verwechselt er Wörter? Kann er einen Kugelschreiber nicht benennen und weiß seinen Namen nicht mehr? All das gibt Aufschluss auf akute Erkrankungen, einen Schlaganfall zum Beispiel.
Ich höre den Pulsschlag, den die Monitore anzeigen. Ist er zu schnell oder zu langsam? Rhythmisch oder nicht? Ich höre den Alarm, wenn der Blutdruck zu hoch ist.
Wenn man fünf Zimmer weiter einen Besoffenen krakeelen hört, ist mit ihm alles soweit noch in Ordnung. Dann ist er wach und ansprechbar, vielleicht nicht mehr recht orientiert – aber man weiß: Wer schreit, lebt noch. Die Stillen sind es, die uns Sorgen machen. Die, die an der Sprechanlage kaum einen Ton herausbekommen. Und das nicht, weil sie eine Mandelentzündung haben, sondern weil sie – aus welchen Gründen auch immer – kaum noch Luft bekommen, psychisch instabil sind. Oder weil sie unfassbar starke Schmerzen haben, so dass sie kaum noch in der Lage sind, einen Ton herauszubekommen.
Die Art und Weise, wie ein Mensch atmet, gibt Hinweise auf viele Krankheiten. „Giemen“ oder „Pfeifen“ versteht man erst, wenn man einen Menschen damit gehört hat. Wenn man einmal verstanden hat, warum ein Mensch die Luft nicht abatmen kann oder warum er so schlecht Luft kriegt, wird man nie wieder zu jemandem sagen: „Jetzt atmen sie halt einfach mal durch!“ Der Patient kann es nicht, weil beim Einatmen irgendetwas seine oberen Luftwege verengt, ein Fremdkörper zum Beispiel, Keuchhusten oder eine Herzschwäche. Dann „pfeift“ es beim Einatmen. Oder beim Ausatmen. Das kann ein Hinweis auf eine Verengung der Bronchien sein wie bei Asthma bronchiale oder ein Lungenemphysem.
Beim Giemen hingegen hört der Patient sich an, als japse er und könne überhaupt schlecht Luft holen. Was daran liegt, dass die Bronchien kurzzeitig verschlossen sind. Es gibt unzählige unterschiedliche Arten, wie einer Luft holt. Und jeder Atemzug kann etwas bedeuten.
Was fühlst du?
Eine Kollegin sagte mir einmal: Im Laufe eines Berufslebens verfügst du irgendwann über 80 Prozent Erfahrung – der Rest ist Wissen. Vielleicht hat sie recht. Tatsächlich merkt man, noch bevor man irgendwas vermessen oder sonst irgendwelche Fakten erhoben hat, wenn irgendetwas nicht stimmt. Du stehst mit dem Rücken zum Patienten und auf einmal hörst oder siehst du eine kleine Bewegung, die neu zu sein scheint. Einen Atemzug, der anders ist. Und du weißt: Jetzt los! Leben retten. Dafür braucht man manchmal keine Monitore oder dergleichen. Man fühlt es einfach. Das ist Erfahrung.
Manchmal können wir schon anhand der Sprechanlage Diagnosen stellen. Wir hören am Klang der Stimme, ob sich der Patient selbst verletzt hat und manchmal auch schon, wie viel oder wie tief. Ebenfalls an der Stimmfärbung und an Stimmschwankungen hören wir Verletzungen „untenherum“, die nicht freiwillig entstanden sind.
Was ist komisch?
Der Patient ist besoffen, obwohl er beteuert, nur ein Bier getrunken zu haben? Na klar. War halt ein besonders großes Bier. „3,5 Promille? Ist ja nicht zu fassen! Völlig unerklärlich!“ Möglicherweise hat sich der eine oder andere seinen Alkoholkonsum auch einfach schön „gesoffen“ und das gnädige Vergessen hat sich in seinem Hirn breitgemacht. Denn wer will schon die Wahrheit in Form einer schlichten Zahl wissen? Dann lieber noch ein Kaltgetränk der Wahl. Lieber eiskaltes Bier als eiskalte Wahrheit.
Früher – also vor längerer Zeit, als es noch üblich war, auf Baustellen Bier zu trinken (heute ist das nicht mehr üblich) - kamen viele Bauarbeiter mit Krampfanfällen in die Notaufnahme. Aus irgendwelchen Gründen hatten sie nicht – wie sonst üblich – ihre vielen Biere gekippt und waren in den Alkoholentzug gerutscht. Das kannte ich nicht. Zwar wusste ich, dass (damals) immer ein Kasten Bier auf dem Bau parat stand – aber was daraus entstehen kann, wenn einer nicht trinkt – darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Ich konnte mich nicht erinnern, dass so etwas jemals in meiner Ausbildung besprochen wurde. Aber auch das macht Erfahrung aus: Das Wissen, dass man manche Vorstellungen ganz neu denken muss.
Und vor allem: Was siehst du nicht?
Angehörige, die nicht kommen und sehnsüchtig erwartet werden. Kein Wunder, wenn das Herz in der Not so schwer ist. Körperteile, die nicht mehr da sind: Von Kettensägen abgetrennt, vom Rasenmäher zerschreddert. (Das kam früher oft vor. Heute gibt es unzählige Schutzvorrichtungen an den Geräten. Wenn heute einer mit einem zerschredderten Körperteil kommt, hat entweder die Technik grob versagt, oder der Mensch hatte fürchterliches Pech). Wenn einer von unfassbaren Schmerzen redet, aber offensichtlich keine hat. Oft sehe ich Menschen den Flur entlanglaufen, die geradezu tänzeln, weil sie die schrecklichsten Rückenschmerzen der Welt zu haben meinen. Auf einer Schmerzskala von 1 bis 10 eine glatte 14! „Schwester. Schnell einen Arzt. Ich sterbe!“ (Das sagen sie mir, die sich gerade ganz vorsichtig und hinkend bewegt, weil ich eben einen 100 Kilo schweren Kerl in seinen Rollstuhl gehievt habe. Aber gut. Schmerzwahrnehmung ist eben auch immer individuell).
Es gibt Wunden, die man nicht sieht, die aber dennoch tödlich sein können. Es lag eine wunderschöne, blonde Frau vor uns. Ein Autounfall. Genickbruch. Äußerlich keine einzige Verletzung. Und trotzdem zog irgendwann der Oberarzt die Handschuhe aus und murmelte: „Das ist mit dem Leben nicht vereinbar! Mit dieser Verletzung hat man keine Chance mehr.“ Das habe ich bis heute nicht vergessen. Niemals vergisst man solche Geschichten – auch wenn sie Jahre zurückliegen.
Und, ja, selten kommt es auch mal vor, dass man sich verschätzt hat.
Eines Tages war morgens um fünf Uhr mal wieder dieser eine Patient da, den wir schon kannten. Wie immer war er weit weg im Schlummer-Alkohol-Drogen-Modus. Unter einer Parkbank hatte man ihn gefunden. Zerbrochene Flaschen um ihn herum. Vielleicht war er auch vermöbelt worden. Die Nase war jedenfalls ein bisschen blutig – der Rest wie immer. Schnarchend und stinkend. Nicht ansprechbar.
Tags zuvor meinte ich ihn in der Stadt gesehen zu haben. Da pöbelte er Frauen „du blöde Fotze“ hinterher. Aber sicher war ich mir nicht. Ich hätte ihn nackt sehen müssen. Eben so, wie ich ihn immer sehe. Horizontal und ohne Hose. Ich hatte ihm wegen all der Drogentests schon so viele Katheter gelegt, dass ich ihn am Penis erkannt hätte.
So lag er also mal wieder da. Wir hielten uns die Nase zu, als wir die verschimmelte feuchte Hose quietschend vom Leib pellten und die Stinkesocken von den Füßen.
Der Arzt, der ihn – oh Wunder – noch nie gesehen hatte, ordnete eine Computertomographie des Hirns an. Der Standard bei unklaren Geschehnissen.
Die Kollegin und ich gähnten. „Na , wenn es sein muss! “, dachten wir.
Wir fanden es eher unnötig. Es war ja genauso wie die gefühlt fünf Millionen Male davor auch. In drei Stunden würde er wie Dornröschen aufwachen, alle ein bisschen beschimpfen, sich alle Schläuche abreißen, jede Menge Sauerei dabei machen und wild zeternd das Krankenhaus mit seinem „beschissenen Personal“ verlassen und zu seiner Parkbank/zu seinen Kumpels/ in seine Höhle zurückkehren.
Wir hatten uns geirrt. Die Computertomographie zeigte, dass er eine große Blutung im Hirn hatte. Ganz schnell wurde er in die Neurochirurgie verlegt. Seitdem haben wir ihn nicht wieder gesehen. Und ganz heimlich machen wir uns Gedanken über ihn, was wohl aus ihm geworden ist.
Dass man sich irren kann, ist schlimm. Es lässt dich nicht los – und in Zukunft noch wachsamer und aufmerksamer werden.
Bisher habe ich es immer wieder erlebt, dass es Rettungsanker gibt.
Die Kollegen, das System, die Technik.
Das ist mir ein Trost, wenn ich daran denke, dass ich selbst jederzeit in eine brenzliche Situation kommen kann.
Ich hoffe dann auf die Erfahrung derer, die mich einschätzen und behandeln. Und wenn das nicht der Fall sein sollte: Auf ein Team, dass sich miteinander bespricht und aufeinander hört. Auf das geballte Wissen einer Notaufnahme.
Wer mehr über die Notaufnahmeschwester erfahren will: Sie hat den „Goldenen Blogger für den Blogtext des Jahres“ 2017 gewonnen. Hier findet ihr ihren persönlichen Bericht von der Preisverleihung.
Schlussredaktion Susan Mücke; Fotoredaktion Martin Gommel; Aufmacherbild: iStock / Cn0ra