Stell dir vor, du gehst zum Arzt. Keine große Sache, bloß eine fiese Erkältung. Aber der Husten hält sich hartnäckig, und du fühlst dich abgeschlagen. Der Arzt überprüft die Lungengeräusche mit einem Stethoskop, verordnet Schleimlöser und schreibt ein Mittel zum Inhalieren auf. Wenn sich die Beschwerden nicht bessern, sollst du einen Allergietest machen. Doch bald sind die Symptome verschwunden und die Sache vergessen.
Vermutlich hättest du nie wieder daran gedacht, wärst du nicht beim Ausfüllen von Unterlagen für eine Versicherung über eine Zahlenfolge gestolpert, hinter der sich die Diagnose „Asthma bronchiale“ verbirgt. Eben noch warst du eine Person ohne nennenswerte Vorerkrankungen. Jetzt hast du auf dem Papier eine chronische Krankheit, die für den Abschluss der Versicherung zum Problem werden kann.
Diese Geschichte gibt es in vielen Varianten. Da ist die Mutter, deren Kind mit einer Salbe gegen einen Insektenstich behandelt wurde, bei dem aber auch die Behandlung einer Angststörung abgerechnet wurde. Da ist der Mann mit den Kopfschmerzen, der vor Gericht gegen eine Depressions-Diagnose vorgeht, weil er davon zum ersten Mal beim Abschluss einer Versicherung erfahren hat. Da ist die Frau mit der Verspannung im unteren Rücken, die zwar nach einigen Stunden Krankengymnastik verschwand, aber trotzdem als Verdacht auf Bandscheibenvorfall in ihrer Krankenakte landete.
Seit einiger Zeit häufen sich solche Fälle bei Beratungsstellen für Patienten, wo Betroffene in den meisten Fällen landen. Sie haben eine absurde Gemeinsamkeit: Alle sind zum Opfer einer eigentlich sehr guten Idee geworden.
Der Betrug der Krankenkassen beginnt in den Arztpraxen der Republik
Um den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen fairer zu gestalten, wurde 2009 der sogenannte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eingeführt. Hinter diesem sperrigen Wortungetüm verbirgt sich ein Stück Gesundheitsreform, das auf die Entlastung der Krankenkassen abzielt. Denn: Bei manchen Kassen sind mehr alte und kranke Menschen versichert als bei anderen. Das kostet viel Geld, weil in dieser Gruppe höhere Arztrechnungen anfallen als bei einer jungen und gesunden Klientel. Auf ihren Kundenstamm haben die Krankenkassen dabei wenig Einfluss: Oft ist er historisch gewachsen, außerdem dürfen die meisten Deutschen frei wählen, wo sie sich versichern wollen. Die Kassen wiederum dürfen aus gutem Grund keinen Bürger ablehnen – schließlich soll am Ende niemand ohne Krankenversicherung dastehen.
Das Nachsehen haben in diesem System jene Krankenkassen, bei denen besonders viele alte Menschen oder solche mit schweren und chronischen Krankheiten versichert sind. Sie bleiben auf übermäßigen Kosten für Medikamente, Behandlungen, Operationen und Hilfsmittel sitzen. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden im Zuge der Reform zwei wichtige Änderungen beschlossen: Zum einen sollten künftig alle Kunden mit besonders teuren Krankheiten erfasst werden. Zum anderen sollten die Kassen für diese Kunden Finanzhilfen aus einem Gesundheitsfonds bekommen. Dieser Fonds wurde eigens eingerichtet und finanziert sich aus den Beiträgen der Versicherten und Steuergeldern. Zuletzt betrug er rund 200 Milliarden Euro, die zwischen den 113 gesetzlichen Krankenkassen verteilt wurden.
Aus diesem großen Topf finanzieren sich alle gesetzlichen Kassen. Sie erhalten für jeden Versicherten eine Grundpauschale, die je nach Krankheitsrisiko nach oben oder unten angepasst wird. Dabei gilt: Je älter und kränker die Versicherten einer Kasse sind, desto größer ihr Stück vom Kuchen. Das macht den Gesundheitsfonds zu einer gigantischen Umverteilungsmaschinerie, von der manche Kassen mehr und andere weniger profitieren. Im Jahr 2016 etwa hat die Debeka BKK mit 1.581,42 Euro je Versichertem am wenigsten erhalten, die AOK Sachsen-Anhalt mit 4.080,94 Euro dagegen am meisten. Die Debeka hatte also unter dem Strich die gesündesten Versicherten, die AOK die kränksten – was ihr große Summen aus dem Fonds beschert hat.
So funktioniert der Risikostrukturausgleich
Für jeden Patienten bekommen die Kassen eine Pauschale. Werden neue Krankheiten diagnostiziert, fließt entsprechend mehr Geld aus dem Ausgleichsfonds.
Mann, 64 Jahre
Tricksen bei den Diagnosen
Leider führen selbst gute Ideen manchmal zu schlechten Ergebnissen. Der Morbi-RSA stößt in der Praxis an seine Grenzen, weil er viel Spielraum für Missbrauch bietet. Dieses Problem prangerte der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung an. Darin bekannte er überraschend freimütig: „Wir Krankenkassen schummeln ständig“ – und belastete damit auch sein eigenes Unternehmen. Jedes Jahr, so Baas, würden Milliarden aus dem Gesundheitsfonds verloren gehen, weil zwischen den Kassen ein Wettbewerb darüber entstanden sei, wer das System am besten manipulieren könne.
Manipulieren heißt in diesem Fall: tricksen bei den Diagnosen. Weil die Kassen mehr Geld aus dem Fonds abschöpfen wollen, als sie tatsächlich für ihre Versicherten brauchen, buhlen sie auf einmal um kranke Patienten – zumindest auf dem Papier. Mit Blick auf die eigene Bilanz sind sie schlicht mehr wert als Gesunde. Der Betrug der Krankenkassen beginnt in den Arztpraxen der Republik. Hier diagnostizieren Ärzte ihre Patienten kränker, als sie sind.
Da wird aus einem leichten Bluthochdruck auf einmal ein schwerer, aus einer Erkältung Asthma, aus einem Stimmungstief eine Depression oder aus einem Hexenschuss „chronischer Schmerz“. Die Statistik zeigt, dass Diagnosen wie diese seit der Einführung des Morbi-RSA stark angestiegen sind. „Chronische Schmerzen“ etwa wurden in den vergangenen vier Jahren doppelt so oft festgestellt, Patienten mit schweren Depressionen sind im gleichen Zeitraum um 60 Prozent gestiegen. Auch Adipositas wird deutlich häufiger diagnostiziert, seit die Krankheit als Kriterium für den Finanzausgleich eingeführt wurde. Experten sprechen von Upcoding, wenn Krankheiten in der Patientenakte verschlimmert werden.
Dazu muss man wissen: Es gibt eine Liste mit 80 Krankheitsgruppen, deren Behandlung als besonders teuer gilt. Sie ist die Grundlage für Extra-Gelder aus dem Fonds. Die Schummeleien zielen deshalb meist darauf ab, eine oder mehrere Diagnosen aus der Liste unterzubringen. In manchen Fällen ist das unproblematisch, etwa bei Krebs, Multipler Sklerose, Schlaganfällen, HIV, Parkinson oder einem Schädel-Hirn-Trauma. Diese Krankheiten lassen nicht viel Interpretationsspielraum zu, man hat sie oder eben nicht. Upcoding ist deshalb unwahrscheinlich.
Anders sieht es mit den großen Volkskrankheiten aus, bei denen die Grenzen zwischen schweren und leichten Fällen fließend sind: Bluthochdruck, Diabetes, Asthma, Osteoporose, Arthrose, Adipositas und Depressionen zum Beispiel. Für diese Krankheiten – die extrem viele Menschen betreffen – existiert eine Grauzone, in der Ärzte ihre Diagnosen unterschiedlich kodieren können. Genau an diesem Punkt besteht die Gefahr eines Missbrauchs. Bei den oben genannten Krankheiten machen kleine Unterschiede bei der Diagnose nämlich schnell 1.000 Euro mehr oder weniger pro Versichertem und Jahr aus. Sprich: Für die Kassen ist es lukrativ, wenn jemand auf dem Papier unter chronischem Asthma oder hohem Blutdruck leidet, in Wahrheit aber keine teuren Medikamente oder Therapien benötigt.
Laut TK-Chef Baas geht es genau um diese Grauzone: „Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten und psychische Krankheiten“, antwortet er im Interview auf die Frage, bei welchen Krankheiten die fehlerhaften Kodierungen am häufigsten vorkommen. Alleine bei der TK habe sich die Zahl der Depressionen in den letzten vier Jahren vervierfacht. „Und das sicher nicht nur, weil Leute kränker werden und das Problem weniger stigmatisiert wird“, so Baas.
So funktioniert der Gesundheitsfonds
Wie genau kodiert wird, erfahrt ihr in der Anmerkung rechts.
Die Krankenkassen zahlen Ärzten Prämien für bestimmte Diagnosen
Warum spielen Ärzte da mit? Vorneweg: Alle tun das sicher nicht. Aber dass Upcoding durchaus gängig ist, haben mittlerweile mehrere Gutachten, Studien, Patientenverbände und Ärzte bestätigt. Darunter auch der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. Direkt nach dem Baas-Interview sagt er dem Donaukurier: „Es ist gang und gäbe, dass die Kassen anrufen und versuchen, Ärzte dazu zu bringen, Diagnosen nachträglich zu beeinflussen.“ Ähnlich kritisch äußerte sich der Deutsche Hausärzteverband.
Da stellt sich die Frage: Wie genau bringen Kassen die Ärzte dazu, ihnen übertriebene Diagnosen zu liefern? Offenbar nutzen sie dafür unterschiedliche Strategien. Eine davon ist, Ärzten finanzielle Anreize zu bieten. Zum Beispiel über Bonuszahlungen oder pauschale Prämien für bestimmte Diagnosen, die drei bis zehn Euro mehr pro Patient bringen. Das klingt wenig, läppert sich mit der Zeit aber.
Ein anderes Mittel sind sogenannte Betreuungsstrukturverträge. Diese Verträge sehen für teilnehmende Ärzte zusätzliche Vergütungen vor, ohne dass sie dafür eine konkrete Leistung erbringen müssen. Offiziell ist darin schwammig von einer „erhöhten Betreuungsintensität“ oder „zusätzlichem Betreuungsaufwand“ die Rede. Doch letztlich geht es schlicht um lukrative Diagnosen. Dafür spricht, dass in den Verträgen oft ausschließlich die 80 Krankheiten aus der Liste aufgeführt sind, wie eine Studie des unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen (IGES) belegt. Die Forscher haben ausgerechnet, dass die Kassen jährlich wohl rund 291 Millionen Euro nur für solche Strukturverträge ausgeben. Geld, das in die Taschen der Ärzte fließt, obwohl es zur Patientenversorgung gedacht ist. Mittlerweile wurden solche Verträge als rechtswidrig eingestuft, sie existieren allerdings – mit leichten Anpassungen – weiterhin.
Abseits dieser zusätzlichen Vergütung forcieren die Kassen die gewünschten Diagnosen, indem sie die Ärzte anrufen oder besuchen, um über Patientenakten zu sprechen und Kodierungen „anzupassen“ und „zu optimieren“. Offenbar haben manche Kassen ganze Abteilungen, die auf das Thema spezialisiert sind, und beauftragen externe Dienstleister, die zu den Ärzten geschickt werden. Dort bieten sie „Kodierberatungen“ oder spezielle Praxis-Software an, um das „korrekte“ Kodieren zu erleichtern.
„Wir haben regelmäßig Leute von den Kassen in der Praxis, die über Fälle sprechen wollen“, bestätigt Maximilian Micka aus dem bayerischen Pfakofen. Der Hausarzt ist überzeugt, dass viele Ärzte der Aufforderung der Kassen nachkommen. Sei es, um den zeitraubenden Besuchen und Anrufen der Kassen zu entgehen, mehr Geld zu kassieren oder schlicht, weil sie auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen sind. „Niemand will es sich mit den Kassen verscherzen, weil es in vielen Fällen um den guten Willen geht“, sagt Micka.
Dazu muss man wissen: Die Kassen können von den Ärzten Regress fordern, wenn eine Behandlung nicht zur Diagnose passt. In diesem Fall müssen sie selbst für die Behandlungen aufkommen – was sehr teuer werden oder sogar zur Insolvenz der Praxis führen kann. „Das ist ein ebenso gutes wie dezentes Druckmittel, das die Kassen da in der Hinterhand haben“, sagt Micka. Explizite Drohungen oder Aufforderungen brauche es da nicht, alle sprächen hübsch und freundlich von einer „Optimierung der Kodierung“.
Vier von fünf Ärzten seien schon von den Kassen „kontaktiert“ worden
Zunächst wenig. Mehrfach haben wir die Kassenärztliche Bundesvereinigung für eine Stellungnahme kontaktiert – inklusive aller Landesverbände. Von manchen ist bekannt, dass sie heikle Betreuungsstrukturverträge mit den Kassen abgeschlossen haben. Wir wollten wissen, wie der Verband dazu steht und welche Erfahrungen seine Mitglieder mit den Krankenkassen gemacht haben. Statt Antworten bekamen wir abwiegelnde E-Mails. Darin heißt es pauschal: „Der Wettbewerb der Krankenkassen darf sich nicht in den Arztpraxen niederschlagen, weil bestimmte Kassenarten ein Interesse an bestimmten Diagnosegruppen haben. Mehr werden wir als Kassenärztliche Bundesvereinigung zu diesem Thema nicht beisteuern können.“
Also haben wir direkt in Praxen nachgefragt und doch einige Ärzte gefunden, die etwas beisteuern wollten. Die deutlichsten Worte findet auch hier Allgemeinmediziner Micka: „Die Damen und Herren der Kassen schicken uns regelmäßig ihre Angestellten ins Haus, um unser Kodierungsverhalten zu beeinflussen.“ Einmal pro Quartal stehe zum Beispiel der AOK-Vertreter auf der Matte. „Als er das erste Mal aufkreuzte, hatte er eine Liste mit etwa 200 Patienten dabei, über deren Diagnose er nochmal sprechen wollte.“ Anfangs sei seine Wut darüber groß gewesen – auch, weil ihm medizinische Laien in seine Arbeit hineinreden wollten. Mittlerweile nutze er aber die Vorteile des Kodierens aus, um sauber zu dokumentieren und seinen Patienten die beste Behandlung nach den Spielregeln der Kassen zu ermöglichen. Den Fehler sieht er nicht bei den Ärzten, sondern im System: „Wenn Kopfgelder für Kobras gezahlt werden, um einer Plage Herr zu werden, muss man sich nicht über Kobrazuchtfarmen wundern.“
Auch der in Heidelberg niedergelassene Arzt Gunter Frank hat Erfahrungen mit Upcoding gemacht. Ihm sei aufgefallen, dass immer mehr Patienten mit fragwürdigen Diagnosen und Verschreibungen in seinem Wartezimmer sitzen. „Wenn ich dann ihre Blutwerte und die Wechselwirkungen zwischen den Mitteln prüfte, stellte sich oft heraus, dass der Patient gar nicht alle Medikamente benötigt“, sagt er. Früher wären die Kassen daran interessiert gewesen, drastische Diagnosen anzuzweifeln, um unnötige und teure Therapien zu begrenzen. „Jetzt aber sind die ökonomischen Kräfte des Gesundheitsmarkts entfesselt“, erklärt Frank.
Einzelfälle sind das nicht. Einer von der TK beauftragten Studie zufolge gaben 82 Prozent der anonym befragten Ärzte an, schon mindestens einmal von der Kasse zur Beeinflussung einer Diagnose kontaktiert worden zu sein. Seit der Betrugsvorwurf öffentlich im Raum steht, melden sich immer mehr Mediziner kritisch zu Wort. Viele scheinen durchaus erleichtert, dass Upcoding in der öffentlichen Diskussion angekommen ist. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich nach dem Baas-Interview viele Ärzte bei der Staatsanwaltshaft meldeten, die mittlerweile wegen Betrugs gegen einige Kassen ermittelt.
Die Krankenkassen teilen sich in zwei Lager
Mit seinen Anschuldigungen hat TK-Chef Jens Baas eine große Diskussion angestoßen – und sich damit nicht nur Freunde gemacht. Vielen in der Branche gilt er als Nestbeschmutzer. Vor allem aus den Reihen der „großen regionalen Kassen“, die Baas explizit kritisiert hatte, hagelte es Kritik: „Dieser Rundumschlag gegen Ärzte, Aufsichten und Krankenkassen vom Chef der größten gesetzlichen Krankenkasse erstaunt alle“, sagte etwa Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Und fügt hinzu: „Wir fordern schon seit Langem, den Risikostrukturausgleich manipulationsresistenter zu machen.“ Ein verräterischer Satz, mit dem er die Vorwürfe indirekt bestätigt.
AOK-Mann Litsch unterstellt TK-Mann Baas blankes Kalkül: Jahrelang habe die Techniker Krankenkasse um junge und gesunde Menschen geworben – und sorge sich nun schlicht um ihre Finanzen. „Offenbar passt es ihm nicht, dass sich für seine Krankenkasse die Risikoselektion zulasten von chronisch Kranken nicht mehr lohnt. Aber anstelle das einzugestehen, stellt er lieber die Datengrundlage des RSA als hochgradig manipulationsanfällig dar“, meint Litsch. Gut möglich, dass Baas tatsächlich das Wohl der eigenen Kasse im Blick hatte, als er im Interview auspackte. Trotzdem ist ihm anzurechnen, dass er eine Debatte über eine Praxis entfacht hat, die letztlich vor allem den Patienten schadet.
Und: Während die AOK gegen Baas austeilte, sprangen ihm andere Kassen bei. Der Dachverband der Betriebskrankenkassen etwa kommt in einer Stellungnahme zu dem Schluss: „Die finanzielle Schieflage zwischen den Krankenkassen verschärft sich aufgrund massiver Fehlsteuerungen im GKV-Finanzierungsausgleich.“ Der Verband rechnet vor, dass 2016 mit rund 1,5 Milliarden Euro übermäßig viel Geld an die AOK-Kassen geflossen sei, wohingegen andere Kassen eine Unterdeckelung haben hinnehmen müssen. Sie müssen die fehlenden Gelder durch höhere Zusatzbeiträge wieder eintreiben. „Diese Fakten können nicht einfach wegdiskutiert werden“, heißt es in dem Papier, „es bestehe erheblicher Reformbedarf.“
Am Ende die Leidtragenden: die Patienten
Die Kassen teilen sich also in zwei Lager. Die einen bauschen das Problem möglicherweise auf, die anderen streiten es ab. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Dass die Manipulationen stattfinden, steht jedenfalls fest: Die Diagnosen bestimmter Krankheiten sind durch den Morbi-RSA sprunghaft angestiegen, die Betreuungsstrukturverträge zielen nachweislich auf Upcoding ab, Ärzte bestätigen das Vorgehen der Kassen auf breiter Front, und bei den Patientenverbänden suchen immer mehr Betroffene Hilfe.
Der Betrug geschieht auf Kosten der Patienten. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Es sind schließlich ihre Beiträge, die jedes Jahr für üppige Summen im Gesundheitsfonds sorgen. Da mehr Geld abgeschöpft wird als nötig und die Kassen, die bei der Verteilung zu kurz kommen das Geld auf andere Weise eintreiben müssen, steigen die Beiträge. Der Betrug macht die Versicherung also für jeden von uns teurer. Laut TK-Chef Baas geht es bei seiner Kasse dabei aktuell um bis zu 0,3 Prozentpunkte.
Noch härter trifft die Praxis Menschen, die beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung oder bei der Verbeamtung eine böse Überraschung erleben. Oft fliegen falsche Diagnosen dabei auf, weil Behörden und Versicherungsunternehmen den Gesundheitsstatus prüfen. Viele trifft die Ablehnung dann aus heiterem Himmel, weil sie nichts von den Diagnosen in ihren Akten wissen.
Wie können sich Patienten vor falschen Diagnosen schützen?
Sie müssen es selbst tun, denn aktuell tut es niemand für sie. Festgehaltene Diagnosen und abgerechnete Behandlungen sollte jeder Patient selbst prüfen. Er kann dies durch Einsicht in die Patientenakte oder durch Anfordern einer Patientenquittung vom Arzt oder der Kasse genau prüfen. Diese Quittung kann jeder bei seiner Krankenkasse beantragen – das funktioniert meist schnell und unkompliziert. Eine andere Möglichkeit ist die Zweitmeinung. Wer berechtigte Zweifel an einer Diagnose hat, sollte sich absichern, indem er einen anderen Arzt aufsucht und die Diagnosen vergleicht.
Heike Morris von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland kennt das gut: „Wir hatten in letzter Zeit erstmals Anfragen von Patienten, in denen es darum ging, eine Diagnose wieder loszuwerden“, sagt sie und schildert den Fall eines Patienten, der wegen starker Kopfschmerzen beim Arzt gewesen sei. Erst viel später kam bei der Beantragung einer Berufsunfähigkeitsversicherung heraus, dass bei ihm eine Depression diagnostiziert worden war.
„Er versucht nun, vor Gericht dagegen vorzugehen. Das ist aber extrem schwer, weil man seinen damaligen Zustand rückwirkend ja nicht mehr nachprüfen kann“, erklärt Morris. Noch hässlicher wird es, wenn ein bestehender Versicherungsschutz im Fall der Fälle nicht greift, weil die Versicherung Jahre später aufgrund einer fälschlich gestellten Diagnose davon ausgeht, dass der Patient diese wissentlich verschwiegen habe. In solchen Fällen die eigene Unschuld zu belegen, ist fast unmöglich.
Schwerwiegender als der volkswirtschaftliche Schaden ist aber das Spiel mit der Gesundheit der Patienten. Schließlich folgen aus Überdiagnosen möglicherweise unnötige Behandlungen oder Medikamente. Manchmal kommt das bei einem Arztwechsel raus: „Ich habe jahrelang zweimal täglich ein Asthmaspray genommen“, erzählt uns ein junger Patient aus Heidelberg, „und nachdem ich einen anderen Arzt aufgesucht habe, konnte ich es einfach absetzen. Er hat mir versichert, dass ich das Spray nicht brauche. Da fragt man sich schon, wie das sein kann.“
Manchmal nutzen die Überdiagnosen den Patienten allerdings auch. Gerade bei psychischen Krankheiten kann eine übertriebene Diagnose dafür sorgen, dass die Kosten für eine Therapie übernommen werden und der Betroffene schneller einen Therapieplatz bekommt. Manche Ärzte nutzen das gezielt, um ihren Patienten die bestmögliche Behandlung zu verschaffen und nicht erst abzuwarten, bis sich etwa eine Depression verschlimmert.
Eine andere Möglichkeit ist die Zweitmeinung. Wer berechtigte Zweifel an einer Diagnose hat, sollte sich absichern, indem er einen anderen Arzt aufsucht und die Diagnosen vergleicht. Denn was einmal in den Akten steht, ist nur schwer wieder loszuwerden, wie auch Patientenberaterin Edeltraud Paul-Bauer vom Gesundheitsladen Bremen bestätigt.
Wie Arzt und Krankenkasse abrechnen
Nach Bekanntwerden der Vorwürfe gab das Bundesgesundheitsministerium Ende 2016 ein Sondergutachten in Auftrag. Ein Wissenschaftlicher Beirat analysierte dafür die Kodierpraxis und legte im September 2017 erste Ergebnisse vor. Darin heißt es: „Auch wenn die empirischen Ergebnisse dieses Gutachtens keine eindeutigen Beweise liefern können, gibt es Belege für manipulative Aktivitäten der Krankenkassen zur Beeinflussung der Höhe der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds im Rahmen des Morbi-RSA.“ Der Beirat empfiehlt deshalb eine Stärkung der Manipulationsresistenz des Modells, beispielsweise durch die striktere Kopplung von Diagnosen und Therapien.
Noch während der Beirat an dem Gutachten arbeitete, stellte die Deutsche Stiftung Patientenschutz Strafanzeige gegen die Krankenkassen, Transparency International forderte Justiz und Politik auf, den Missbrauch öffentlicher Ressourcen zu unterbinden, und der Interessenverband kommunaler Krankenhäuser warf den Kassen „systematischen Abrechnungsbetrug vor. Vor diesem Hintergrund hat der Bundestag im April 2017 eine erste Gesetzesverschärfung beschlossen. „Krankenkassen oder Ärzte dürfen sich nicht durch unzulässige Beeinflussung von Diagnosen finanzielle Vorteile verschaffen“, heißt es in dem Beschluss. Das kommt einem Verbot von Upcoding gleich. Im Zuge dessen wurden außerdem die gezielte Vergütung von Diagnosen durch Betreuungsstrukturverträge sowie die Diagnosebeeinflussung durch Kodierberatung oder mit Hilfe bereitgestellter Praxissoftware verboten.
Das klingt gut, doch es bleibt ein großes „Aber“: Das schärfste Verbot greift nicht, wenn es nicht gut kontrolliert wird. Und aktuell fehlen die Ressourcen für eine grundlegende Überprüfung des Systems. Viele Experten kritisieren außerdem, dass die Verschärfung zu milde ausgefallen sei – wohl auch auf Druck der Kassen-Lobbyisten, die sich zahlreich in Berlin tummeln. Sie schlagen deshalb härtere Maßnahmen vor, um das Problem in den Griff zu bekommen: Volkskrankheiten ganz von der Liste streichen, jegliche Form von Ersatzverträgen zwischen Ärzten und Kassen verbieten, die Nutzung von Praxis-Software vor Ort überprüfen und bessere Kontrollen durchsetzen.
Dass ihre Sorge begründet ist, unterstreicht eine Studie des unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen. Die IGES-Experten kommen darin zu dem Schluss, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend sind. So führe etwa das Verbot von Betreuungsstrukturverträgen schlicht dazu, dass die Kassen auf andere Vertragsarten ausweichen, etwa solche zur „Hausarztzentrierten Versorgung“.
Diese Verträge heißen etwas anders, funktionieren etwas anders – aber am Ende fließt immer noch Geld für bestimmte Diagnosen. Sie zweifeln außerdem an, dass der Fehlgebrauch von Praxissoftware ausreichend kontrollierbar ist, und fordern, dass es Aufsichtsbehörden leichter gemacht werden sollte, Gesetzesverstöße schneller zu finden und zu sanktionieren. Dass das eine gute Idee wäre, zeigt eine andere Untersuchung: Bei einer anonymen Umfrage unter Ärzten, die nach der Gesetzesverschärfung durchgeführt wurde, kam heraus, dass noch immer jeder Fünfte in Sachen Diagnosen von den Kassen kontaktiert wird.
Das Problem ist also noch lange nicht vom Tisch. Wohl auch deshalb hat es Einzug in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung gefunden. Dort heißt es: „Unter Berücksichtigung der Gutachten des Expertenbeirats des Bundesversicherungsamtes werden wir den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterentwickeln und ihn vor Manipulation schützen. Es wird eine regelmäßige gutachterliche Überprüfung gesetzlich festgelegt.“
Noch ist aber nichts Konkretes passiert. Möglicherweise wird die Justiz schneller sein als die Politik: Im September 2017 fanden Razzien bei der AOK Rheinland in Düsseldorf und bei der AOK Hamburg statt, auch gegen Jens Baas, der die Schummelei öffentlich eingestand, ermittelt die Staatsanwaltschaft. „Wir gehen davon aus, dass die Kassen in Höhe von mehreren Millionen Euro von den verfahrensgegenständlichen Abrechnungen profitiert haben“, kommentiert Oberstaatsanwältin Nana Frombach die Beschlagnahmung von unzähligen Morbi-RSA-Unterlagen. Die Ermittler wollen herausfinden, ob die Kassen das Sozialsystem tatsächlich betrogen haben – und in welchem Umfang. Bis sie Ergebnisse liefern, wird der Morbi-RSA wohl weiterhin einer der größten Streitpunkte deutscher Gesundheitspolitik bleiben.
Dieser Artikel entstand mit Unterstützung des Wissenswerte-Recherchestipendiums, das jährlich von der Technischen Universität Dortmund gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung vergeben wird.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Vera Fröhlich, Grafiken: Sara Hesse/Gregory Igelmund, Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacher: iStock / Nikola Nastasic).