Wie deutsche Behörden behinderte Menschen um ihr Geld bringen

© iStock / nullplus

Psyche und Gesundheit

Wie deutsche Behörden behinderte Menschen um ihr Geld bringen

Behinderte Menschen sollen mehr über ihr eigenes Leben bestimmen können. Dafür wurde das Persönliche Budget eingeführt. Aber am Ende sind sie damit doch wieder nur abhängig – von den Sachbearbeitern in den Behörden.

Profilbild von Nina Himmer

Es klang nach einer guten Idee. Nach etwas Freiheit, eigenen Entscheidungen und der Aussicht, dass der den Alltag endlich wieder etwas leichter werden könnte. Jetzt, nach dem Tod seiner Frau. Also beantragte Gerhard Bartz im September 2008 beim Sozialamt das sogenannte Persönliche Budget. Das ist ein Geldbetrag, den behinderte oder chronisch kranke Menschen für ihre Belange ausgeben können. Weil sie, so die Idee, selbst am besten wissen, was sie brauchen.

Meist geht es um Beträge zwischen 200 und 800 Euro im Monat. Geld, das zum Beispiel in einen neuen Sprachcomputer oder eine berufliche Fortbildung investiert werden kann, in eine Begleitperson für ein Konzert, einen Fahrservice zum Arzt, eine Einkaufs- oder Haushaltshilfe. Das Leben als Behinderter braucht viel Planung – und ist nicht billig. Um es zu erleichtern, wurde 2008 ein Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget im Sozialgesetzbuch festgeschrieben. Seitdem dient es als Alternative zu den festgelegten Sach- und Dienstleistungen, auf die Behinderte sonst Anspruch haben.

Doch was gut klingt, trieb Gerhard Bartz fast in den Wahnsinn. Zwei Jahre bekam der 67-Jährige aus der Nähe von Heilbronn 1.100 Euro im Monat, dann zog er die Reißleine. Ständig wechselnde Sachbearbeiter, ein zermürbendes Hin und Her zwischen den zuständigen Stellen und der nicht enden wollende Papierkrieg wurden ihm zu viel.

„Um Behördenwahnsinn kommt man nicht herum”

Das will etwas heißen, denn mit Behörden kennt Bartz sich aus. Er gehört zu jenen Menschen, die das Leben unfreiwillig zum Experten gemacht hat: Seit einer Polio-Erkrankung sitzt er im Rollstuhl, seine Frau Elke ereilte nach einem Autounfall das gleiche Schicksal – vom Hals abwärts querschnittsgelähmt. „Um Behördenwahnsinn kommt man in einer solchen Situation nicht herum“, sagt Bartz.

Unterkriegen ließen sich die beiden trotzdem nicht: Elke Bartz gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Bundesverbandes zur selbstbestimmten Assistenz behinderter Menschen (ForseA), der sich für ein gleichberechtigtes Leben Behinderter einsetzt. Seit ihrem Tod führt Gerhard Bartz das Erbe seiner Frau als Vorsitzender weiter. Weil dazu auch die Beratung von Mitgliedern gehört, stellte er schnell fest: Ich bin nicht der Einzige, der an der neuen Leistungsform verzweifelt.

Tatsächlich gleicht das Persönliche Budget mehr einem Trauerspiel als der Möglichkeit zu mehr Teilhabe. Dafür nämlich war es ursprünglich gedacht: Teilhabe für Behinderte in allen Lebensbereichen, Stichwort Inklusion und UN-Behindertenrechtskonvention. Seitdem können behinderte Menschen zwischen Sach- und Dienstleistungen oder Geld und Gutscheinen wählen. Im ersten Fall entscheidet der Staat für sie, im zweiten sie selbst. Das Budget macht sie zu Käufern, Kunden und Arbeitgebern, die das Geld im Rahmen ihrer Bedürfnisse einsetzen können – und damit zu einer handelnden Person, die nicht nur passiv entgegennimmt.

Ihr Glück währte bis zum nächsten Sachbearbeiter

„Das kann man gar nicht hoch genug bewerten“, sagt die 56-jährige Susanne Weber aus München, die ihren echten Namen aufgrund eines laufenden Gerichtsverfahrens nicht in diesem Artikel lesen will. Sie leidet seit zwei schweren Infektionen unter Lähmungen in den Beinen und ist dauerhaft erwerbsunfähig. Ihr Behinderungsgrad beträgt 80 Prozent. „Ob jemand geschickt wurde oder ich selbst aussuchen kann, wer mich betreut, macht einen riesigen Unterschied. Der persönliche Bezug ist ein anderer, der Umgang respektvoller – man ist mehr Mensch als einfach nur Pflegesubjekt“, sagt sie.

Eine Zeit lang hat das Persönliche Budget ihr ermöglicht, neben professionellen Pflegekräften auch Laienhelfer in Anspruch zu nehmen. Zum Beispiel, um mal mit jemanden ins Kino zu gehen, einen Spaziergang zu machen oder einfach zu reden. Eine gute Zeit, denn den Gewinn an Lebensqualität hätte sie mit normalen Haushaltshilfen oder Krankenpflegern kaum erreichen können. Ihr Glück aber währte nur bis zum nächsten Sachbearbeiter.

Wo es um die Rechte von Behinderten geht, ist die Welt oft nur auf dem Papier in Ordnung. Die Paragraphen des Neunten Sozialgesetzbuchs, die Informationshefte des Ministeriums für Arbeit und Soziales oder der 19. Artikel der UN-Konvention – sie alle predigen Selbstbestimmung, gleiche Rechte und die weitreichende Teilhabe am beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Leben für behinderte Menschen. „Aber die Hochglanz-Broschüren und Versprechen der Politik haben wenig mit unserem Alltag zu tun“, sagt Gerhard Bartz.

Das Budget sei eine wunderbare Idee, komme aber nicht in der Praxis an. Seiner Meinung nach hapere es vor allem an zwei Dingen: Bekanntheit und Bürokratie. Viel zu wenige Menschen wüssten überhaupt von der Möglichkeit des Budgets. Es sei kein Thema, für das groß die Werbetrommel gerührt werde und die Behörden versäumten es oft, Betroffene darauf aufmerksam zu machen.

Bei den Beratungsstellen stapeln sich Anfragen

Fakt ist, dass laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahr 2014 tatsächlich nur 9.119 von 860.500 theoretisch berechtigen Empfängern das Budget genutzt haben. Die große Masse bezieht weiterhin lieber eine Grundsicherung plus festgelegte Sach- und Dienstleistungen. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, erst für 2019 ist laut Auskunft des Ministeriums ein bundesweiter Teilhabeverfahrensbericht geplant. Zwar ist die Tendenz steigend, doch noch sind die Zahlen kaum der Rede wert.

Das deckt sich mit den Ergebnissen eines Forschungsberichts zur Umsetzung und Akzeptanz des Persönlichen Budgets aus dem Jahr 2012. Darin heißt es: „Gemessen am gesamten Leistungsgeschehen weist das Persönliche Budget noch immer eine geringe Verbreitung auf.“

Möglicherweise liegt das daran, dass sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass es bei der Bewilligung oft zu Problemen kommt. Bei Beratungsstellen stapeln sich die Anfragen, an den Sozialgerichten laufen zahlreiche Verfahren, in Foren wird eifrig diskutiert und die Berichte von Betroffenen sind teils erschreckend: Manche Ämter wollen noch nie von der Leistung gehört haben, andere machen die Beantragung schwer oder brüsten sich damit, keine Budgets zu vergeben. Auch die Zuständigkeiten sind oft unklar. Betroffene werden zwischen Behörden hin- und hergeschoben, müssen sich mit wechselnden Ansprechpartnern arrangieren, jeden ausgegebenen Cent mühselig dokumentieren und ihre Ansprüche immer wieder neu belegen – selbst dann, wenn sich ihr Gesundheitszustand offensichtlich nicht mehr bessern wird, etwa bei einer Querschnittslähmung.

Doch die eigene Bedürftigkeit immer wieder mit Wildfremden zu verhandeln, fällt vielen schwer. Dass jedes Bundesland die Vergabe selbst regelt und die Behörden dabei einen großen Ermessensspielraum haben, verkompliziert die Situation zusätzlich. „Letztlich ist es einfach Glückssache, an wen man gerät“, sagt Bartz.

Dabei sind die Probleme nicht unbekannt, wie die oben genannte Studie zeigt. Darin werden auch mögliche Gründe aufgeführt, warum das Budget bisher kaum genutzt wird. Die Experten sehen zum Beispiel große Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Hilfsbedarfs und bemängeln die Lücke zwischen der bewilligten Hilfe und dem tatsächlichen Bedarf. So werde etwa der Stundenlohn für die persönliche Assistenz so niedrig angesetzt, dass damit oft keine arbeitsmarktgerechten Löhne bezahlt werden können – im freien Wettbewerb sind Behinderte damit also im Nachteil.

„Ich muss um jeden Cent kämpfen”

Ein weiteres Hindernis bei den Verhandlungen um die monatliche Unterstützung ist der sogenannte Mehrkostenvorbehalt. Er legt fest, dass die Höhe des Budgets die vorherigen Kosten der standardisierten Sachleistungen nicht überschreiten soll. Unterm Strich machen all diese Einschränkungen es kompliziert, gute Lösungen zu finden.

So erlebte es auch Susanne Weber, die Frau, die ihren wirklichen Namen nicht nennen will. Ein Jahr lang klappte mit ihrem Budget alles reibungslos, dann wechselte der Sachbearbeiter. „Seitdem muss ich um jeden Cent kämpfen“, sagt sie. Ihr Budget wurde ohne Absprache gekürzt, die Verwendung des Gelds anders geregelt. Statt, wie zuvor, vor allem Laienhelfer anzustellen, muss sie nun Fachkräfte beauftragen, von Entscheidungsfreiheit keine Spur. „Das ist das Gegenteil von dem, wie es gedacht war“, sagt sie.

Ein bedauerlicher Einzelfall? „Keineswegs“, sagt Gerhard Bartz. Er spricht jeden Tag mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich bei Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen sammeln. Ein Mann aus Bremen zum Beispiel musste vor Gericht um eine Umschulung zur Teilhabe am Arbeitsleben kämpfen, obwohl sein Behinderungsgrad 100 Prozent beträgt. Sabine Müller aus Berlin kämpft seit Jahren um das Budget für ihren Sohn, der seit einer Hirntumor-Erkrankung auf Unterstützung angewiesen ist.

„Drei Jahre ging alles gut, dann wechselte der Sachbearbeiter und wollte das Budget pauschal um 50 Prozent kürzen, obwohl sich an der Behinderung nichts geändert hatte“, sagt die alleinerziehende Mutter. Nur mit Hilfe eines Anwalts konnte sie die Kürzung verhindern. Trotz des Ärgers ist die 49-Jährige ein Fan des Budgets. „Mein Sohn hätte seine Ausbildung ohne diese sehr individuelle und selbstbestimmte Form der Hilfe nicht geschafft und könnte heute nicht so unabhängig leben.“

Oft scheitert die Idee schon an der ersten Bedarfsstelle

Grundsätzlich können alle behinderten Menschen einen Antrag auf das Persönliche Budget stellen, sofern ein Anspruch auf Teilhabeleistungen besteht. Entweder bei einer Servicestelle oder direkt bei einem der acht Leistungsträger nach Paragraf 6 SGB IX, zum Beispiel der Arbeitsagentur, der Krankenkasse oder dem Sozialamt. An wen sich Betroffene dabei zuerst wenden, spielt keine Rolle – jeder Träger ist verpflichtet, den Antrag im Zweifel an die richtige Stelle weiterzuleiten.

In der Theorie sollten Antrag und Zuständigkeit binnen zwei Wochen geprüft werden, meist dauert es aber länger. Wird der Antrag bewilligt, kommt es zu einer individuellen Bedarfsermittlung, an deren Ende eine Zielvereinbarung festgelegt wird. In solchen Vereinbarungen halten alle Beteiligten die bewilligten Leistungen und die zu erbringenden Nachweise für einen bestimmten Zeitraum fest.

Schon an dieser ersten Bedarfsermittlung scheitert die Idee oft. Die Verhandlungsphase erleben viele Betroffene als Schikane. „In der gesamten Budgetverhandlung ging es nie um mich, sondern immer nur um Geld. Es war unvorstellbar erniedrigend und demütigend“, schreibt eine schwerstbehinderte Frau im ForseA-Forum. Sie habe um jede Stunde Assistenz feilschen müssen und sei von den Sozialamtsvertretern immer wieder mit erfundenen Gesetzen und falschen Aussagen konfrontiert worden.

„Man versucht mir zum Beispiel einzureden, dass meine Familienangehörigen zur Pflege verpflichtet sind oder eine 24-Stunden-Assistenz nur für Patienten möglich ist, die künstlich beatmet werden. Dabei kenne ich selbst welche, die das Budget beziehen und bei denen das nicht der Fall ist.“ In anderen Fällen sollte das Budget auf einmal als Verdienst angerechnet und deshalb die Grundsicherung gestrichen werden.

Viele der Beschwerden legen den Schluss nahe, dass es den Sachbearbeitern mitunter an Wissen und Willen mangelt – und an Empathie für die Betroffenen. Unter vielen Behinderten hat sich deshalb die Meinung breitgemacht, der Staat habe gar kein Interesse an der Verbreitung des Persönlichen Budgets. Ein Umstand, der auch Reto Gericke aufgefallen ist. Der Jurist aus Berlin gründete eine Plattform für Betroffene. Nach seiner Erfahrung hat der behördliche Unwille nämlich viel damit zu tun, dass es so viele Unklarheiten gibt. Individuelle Lösungen ohne pauschale Vorgaben, das macht die Sache für beide Seiten kompliziert. „Wenn die Amtsmitarbeiter die Anträge auf den Tisch bekommen, wissen sie meistens nicht, was sie damit machen sollen.“

Es geht um ein Grundrecht – nicht um Luxus

Viel Hickhack also. Da wundert es nicht, dass viele Betroffene nach wenigen Monaten entnervt zu den normalen Sach- und Dienstleistungen zurückkehren oder vor Gericht ziehen. All das kostet Kraft und Nerven. „Aus meiner Sicht wird das Budget von den Behörden boykottiert“, sagt ForseA-Vorsitzender Gerhard Bartz dazu, der sich die undurchsichtigen Regelungen, den großen Ermessensspielraum der Behörden und die Willkür bei der Vergabe nicht anders erklären kann.

„Für die meisten behinderten Menschen mit Assistenzbedarf geht es nicht um Module, sondern um die verlässliche Anwesenheit von Unterstützungspersonen. Denn die wenigsten unserer Bedürfnisse sind fest terminierbar“, sagt er. Genau das aber werde den Betroffenen verwehrt, um die Kosten niedrig zu halten. „Damit nimmt man uns jedoch die Freiheit und unsere garantierten Grundrechte“, sagt Bartz und verweist auf ein Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom April 2016. Darin heißt es: „Der Teilhabebedarf besteht im Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile; maßgebliche Vergleichsgruppe ist der nichtbehinderte und nicht sozialhilfebedürftige Mensch vergleichbaren Alters. „Dieser ‚Referenzmensch’ führt ein freies Leben. Uns müsste dieses Recht also eigentlich auch eingeräumt werden“, sagt Bartz.

Susanne Weber bringt es auf den Punkt: „Das Leben mit einer Behinderung ist so schon schwer genug. Da braucht es nicht noch Behörden, die alles noch komplizierter machen.“ Allem Ärger zum Trotz hat sie einen überraschenden Rat für alle Betroffenen: „Beantragt das Budget, denn die Idee ist großartig. Jetzt müssen wir dafür kämpfen, dass sie in der Realität ankommt.“


Gesundheit hängt auch davon ab, ob man sie sich leisten kann. In ihrem Zusammenhang „Krankes System” will Nina Himmer Fälle zeigen, wo unser Gesundheitswesen ungerecht ist. Und wie mit Hilfsangeboten viel Geld verdient wird.

Redaktion Esther Göbel, Produktion Vera Fröhlich, Bildauswahl Martin Gommel (iStock / nullplus).