„Bist du auch so eine, die sich die Webcam zuklebt?”, neckt mich meine Freundin Tanja und schaut mich argwöhnisch an. Sie meint damit den großen gelben Punkt auf meinem Laptop. Der aber gleich neben der Kamera prangt, nicht darauf. Tanja weiß nicht, dass ich ihn von meiner Zahnärztin habe, und dass der knallgelbe Punkt einen simplen Zweck hat: „Mach deinen Kiefer locker!”, schreit er mich an. Jedes Mal, wenn ich ihn bemerke.
Und das ist oft, schließlich sitze ich ja mindestens acht Stunden am Tag vor dem Laptop. Dabei presse ich immer wieder unwillkürlich die Kiefer zusammen. Selbst beim Trinken berühren sich meine Zähne. „Bruxismus” lautet die Diagnose meiner Zahnärztin dafür.
Damit bin ich nicht allein. Jeder, mit dem ich darüber spreche, scheint das zu kennen, aus eigener Erfahrung oder weil ein Mensch im Umfeld knirscht. Wir Bruxisten pressen, knacken, zermalmen uns nachts die Zähne und beißen uns tagsüber durch den Job. Mit bis zu 480 Kilogramm pro Quadratzentimeter belasten wir dabei das Gebiss – das ist das Zehnfache des normalen Kaudrucks. Dafür, dass das Zähneknirschen so weit verbreitet ist, wissen wir aber erstaunlich wenig darüber. Zahnärzte, Psychologen und Physiotherapeuten fangen gerade erst an, die Ursachen zu verstehen – und Wege zu testen, die dagegen helfen können.
Es gibt nicht den Bruxismus
Einen Eindruck davon, wie vielen Menschen das Knirschen ernsthafte Probleme bereitet, geben die 500 Erfahrungsberichte, die ich bei meiner Umfrage zu diesem Thema erhalten habe. „Ich knirsche bereits seit frühesten Kindertagen. So stark, dass man mich durch die Wohnung durch geschlossene Türen gehört hat”, schreibt mir Anna. Das ist nicht einfach nur unangenehm, sondern kann für die Zähne ernsthafte Konsequenzen haben. Ihnen droht eine substanzielle Abnutzung. Anders gesagt: Die Zähne verschleißen. „Meine Zähne sehen laut Zahnärztin aus wie die einer Rentnerin, weil sie so weit abgerieben sind und bald abzusplittern drohen”, berichtet Ines.
Im Laufe seines Lebens knirscht fast jeder Zweite einmal, viele davon phasenweise, erklärt mir Bruno Imhoff, Spezialist der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie.
Es gibt eine primäre Form, bei der es um Stressverarbeitung geht, und eine sekundäre Form, die eine Folge von Medikamenteneinnahme, Koffein, Schlafstörungen, Kälteabwehr und ähnlichem ist. Unter regelmäßigem, chronischem Bruxismus leiden weltweit gut 20 Prozent der Bevölkerung, bei Kindern und Älteren ist der Prozentsatz geringer.
Ob Bruxismus in den vergangenen Jahren zugenommen hat, lässt sich nicht sagen – dazu gibt es bisher keine Statistiken. Was auch daran liegt, dass es sich um ein komplexes Phänomen handelt. Ob stark, schwach, physiologisch oder psychosomatisch, chronisch oder akut, pressen, kauen, knirschen, reiben – das alles ist Bruxismus, in verschiedenen Formen.
Das Problem mag auf den ersten Blick banal scheinen, kann aber extrem nervenaufreibend sein. Für die Knirscher ist es eine echte Belastung. So mancher Patient geht wortwörtlich auf dem Zahnfleisch. Das zeigen die Daten, die sich aus meiner Umfrage ergeben haben:
Der Großteil derer, die mitgemacht haben, nämlich 68 Prozent, knirscht seit mehr als drei Jahren, und jeder Dritte sogar seit über zehn Jahren. Das ist eine beachtliche Zeitspanne.
Betrachtet man die Art des Bruxismus, überwiegt klar das Knirschen als Symptom. Einige wenige leiden zudem an der bereits erwähnten Krankheit CMD. Das spiegelt sich auch in der Therapie wider: Die meisten benutzen eine Beißschiene, die verhindert, dass sie ihre Zähne in der Nacht zerknirschen. Andere bekämpfen das Knirschen mit Physiotherapie, Osteopathie, Entspannungs- und Achtsamkeitsmethoden.
Eine Konsequenz des Knirschens, auf die ich so nie gekommen wäre, ist, dass das Liebesleben darunter leidet kann. „Wenn der Kiefer erst einmal kurz knackt, bevor man jemanden küssen kann, ist das nicht besonders romantisch”, bemerkt Alisa. Und Chiara setzt ihre Schiene ganz pragmatisch ein: „Ich trage eine Schiene, die hilft aber nicht wirklich. Außer, wenn ich keine Lust auf Sex habe.”
Nur Wachbruxismus hat direkt was mit Stress zu tun
Dass man knirscht, bemerkt man selten selbst. Meist ist es der Zahnarzt, der beim Kontrolltermin die abgenutzten Zahnoberflächen entdeckt. Oder Partner, die sich über seltsame Geräusche in der Nacht beklagen.
So war es auch bei mir. Vor gut drei Jahren dachte mein damaliger Freund, dass ich mich über seine große Angst vor Zahnärzten lustig machte, weil ich nachts im Schlaf laut mit den Zähnen knirschte. Er hatte nämlich am nächsten Tag einen Termin, um seine Weisheitszähne entfernen zu lassen. Natürlich hatte ich nicht mit Absicht geknirscht.
Seither gab Phasen, in denen mein Kiefer ruhig war, und Phasen, in denen ich mit so viel Druck knirschte, dass ich mich nachts damit selbst aufweckte. Während der Bachelorarbeit zum Beispiel: Ich habe mich wortwörtlich durchgebissen. Muskelkater am Kiefer, schmerzende Zähne und Verspannungen bis in den Rücken waren die Folge.
In Extremsituationen, zum Beispiel bei wichtigen Examen oder Abschlussarbeiten, mutieren viele Menschen zu Bruxisten. Eine interne Studie belegt, dass fast alle Medizinstudenten kurz vor dem Staatsexamen unter Bruxismus leiden. Einige Monate später war er bei mehr als der Hälfte wieder verschwunden.
Ist also Stress der Auslöser dafür, dass wir unsere Zähne zermahlen? Das denken viele, es ist die alltagspsychologische Erklärung. Warum Stress das Zähneknirschen herbeiführen soll, will auch die Mehrheit der Teilnehmer meiner Umfrage wissen. Die Theorie geht leider nicht ganz auf: Nur Wachbruxismus lässt sich direkt mit Stress in Verbindung bringen, wie diese Studie zeigt. Allerdings sind Patienten, die an einen Zusammenhang zwischen Stress und nächtlichem Zähneknirschen glauben, tatsächlich oft viel Stress ausgesetzt – es ist schwierig zu sagen, was zuerst kam.
Woher genau Knirschen kommt, lässt sich bisher nicht sagen. Dazu gibt es noch zu wenige Studien, was eine eindeutige Aussage schwierig macht, wie der Zahnarzt Tobias Klur in einer Zusammenfassung verschiedener Studien schreibt. „Um das Zähneknirschen ranken sich viele Mythen”, bestätigt auch Spezialist Imhoff. „Es gibt vieles, das wir nicht wissen, aber einfach beobachten und beschreiben können. ”
So unspektakulär das auch klingen mag: Es muss von Fall zu Fall definiert werden, welche Art Zähneknirschen vorliegt. So unterschiedlich die Symptome, so unterschiedlich die Behandlung und eben auch die Entstehung.
Eine Heilung ist unmöglich
Klar ist, dass Zähneknirschen auf Dauer Spuren hinterlässt. „Die Zahnoberfläche wird regelrecht zermalmt”, sagt der Berliner Zahnarzt Stephan Ziegler. Bemerkt er eine Abnutzung, macht er eine kleine Analyse, schaut sich dafür das Kiefergelenk und die Eckzähne an, prüft das Schmerzempfinden und verordnet daraufhin fast immer eine Knirscherschiene. Diese sorgt dafür, dass die Zähne nicht direkt aufeinandertreffen.
Das schont zwar die Zähne, nicht aber die Schiene: Fleißige Knirscher können sie in kurzer Zeit durchbeißen. „Meine Knirschschienen sind nach einer Woche zerstört”, schreibt beispielsweise KR-Leserin Sandra. Und eine Lösung des Problems ist es auch nicht: Die Schiene muss für immer getragen werden. Das kostet Geld und Nerven.
Überhaupt ist die Therapie eine finanzielle Frage. Wer das Geld hat, kann sich beispielsweise vom Zahnarzt auch die Oberfläche der Zähne neu aufbauen lassen. Für ungefähr tausend Euro pro Zahn wird die Oberfläche mit Keramik bestückt. Durch die Nachkonstruktion mit einem härteren Material können die Zähne so langsamer abgerieben werden.
Selbst das löst das Problem nicht. „Eine Heilung vom Bruxismus ist unmöglich. Man kann lediglich versuchen, die Auswirkungen in den Griff zu bekommen und das Knirschen zu ‚managen‘”, sagt Spezialist Imhoff.
Beim Unternehmer Christoph Seidenstücker hat die Schiene die Probleme sogar verschlimmert. „Durch das viele Rumbeißen hat sich mein Kiefer noch mehr verspannt”, berichtet er. Mit der Physiotherapeutin und angehenden Osteopathin Klara Schneider hat er sich deshalb etwas Neues einfallen lassen: Ein Gerät namens „Relaxbogen”, das von außen einen leichten Druck auf die Kiefermuskulatur ausübt und dem Patienten helfen soll, den Kiefer zu entspannen. Seidenstücker war so begeistert davon, dass er vor drei Jahren eine GmbH gründete, um das Gerät auf den Markt zu bringen.
Er glaubt, dass nur eine Kombination aus Zahnmedizin und Physiotherapie langfristig gegen das Knirschen helfen könnte: „Wie bei den Kopfschmerzen, gibt es auch hier verschiedene Faktoren, die die Symptome auslösen können, und diese muss man gezielt angehen.”
Ein interdisziplinärer Ansatz ist gefragt
Heilen kann auch die Physiotherapie den Bruxismus nicht. Aber zumindest die Folgen, die er im Kieferbereich hinterlässt. Daher liegt der Hauptfokus auf der Wiederherstellung des muskulären Gleichgewichts, erklärt die Kiefergelenkstherapeutin Ruth Zoremba, die nach der Cranio Facial Therapie behandelt. Nicht nur die rein physische Ebene sei wichtig, sagt sie, sondern ein interdisziplinärer Ansatz. Sie setzt Wahrnehmungs- und koordinative Übungen für die Kiefermuskulatur ein, Triggerpunktbehandlungen, Massagen und Stressmanagementstrategien.
Auch tiefgreifende psychische Probleme können Zähneknirschen auslösen, beispielsweise Depressionen oder Traumata. In solchen Fällen kann eine Psychotherapie helfen. In der Therapie wird versucht, die Gründe zu erforschen, welche dazu führen, dass der Mensch sich unbewusst durch seinen Alltag, sein Leben, seine Arbeit „beißt”.
Idealerweise, findet Unternehmer Seidenstücker, müssten all diese Disziplinen zusammenarbeiten: „Wir würden es befürworten, wenn beispielsweise speziell ausgebildete HelferInnen beim Zahnarzt die Patienten nach einem bestimmten Schema anschauen und dann beurteilen, wo das Knirschen herkommt. Man muss sich die Patienten einfach viel genauer ansehen um sagen zu können: Okay, der muss zum Physiotherapeuten, der braucht eine Beißschiene, das ist jemand mit psychischen Problemen und sollte zum Psychologen.”
Auch wenn die Wissenschaft noch nicht genau sagen kann, woher der Bruxismus kommt: Es hilft schon viel, das eigene Verhalten zu beobachten, zu reflektieren und eben auch anzupassen. Auch positive Gedanken vor dem Schlafengehen und die üblichen Tricks für ein gesundes Leben wie Bewegung, Schlaf, gute Ernährung, wenig bis kein Koffein, Alkohol, Nikotin und andere Drogen sind hilfreich. Wer will, kann sich zusätzlich mit Meditation, Yoga und anderen Achtsamkeitsübungen zu mehr Ausgeglichenheit im Alltag verhelfen.
Bei vielen Menschen läuft das Knirschen so unbewusst ab, dass sie es gar nicht bemerken. Deshalb ist es gut, sich Erinnerungen im Alltag einzubauen, die daran erinnern, den Kiefer zu lösen. So wie ich das mit den gelben Punkten tue, die ich auf meinen Laptop und auch auf mein Handy geklebt habe.
Weiter hilft es, das eigene Verhalten akribisch zu überprüfen: Wann presse ich meine Lippen zusammen? Wann meine Zähne? Wie verhält sich mein Gebiss in welcher Situation? Wenn man die Verhaltensmuster versteht, kann man sie bewusst beeinflussen. So lässt sich das das Knirschen zumindest im Wachzustand minimieren.
Diese Erfahrung hat auch Kathi gemacht: „Seitdem ich in Behandlung bin und ich auch Achtsamkeit übe, stelle ich fest, dass ich bewusster durchs Leben gehe und weiß, in welchen Momenten ich knirsche. Das ist ein guter Anfang für mich.”
Das Gebiss als Spiegelbild unserer Emotionen
Das Prinzip funktioniert aber auch umgekehrt: Seit ich mich intensiv mit dem Thema beschäftige, fühlen sich meine Backen plötzlich dreimal so dick an. Welche Ironie, dass mein Kiefer genau dann verhärtet, wenn ich Interviews zur Therapie von Bruxismus führe. Selbst wenn ich einfach auf der Straße entlanggehe, presse ich mit aller Kraft.
Das hat Folgen. Essen ist nicht mehr so drin, selbst meine Frühstücksbanane macht mir das Leben schwer. Ich will reinbeißen, es geht aber irgendwie nicht. Ob mein Gebiss eingerostet ist? Viele Bruxismus-Patienten kennen das unangenehme Gefühl. „Zum Teil waren die Schmerzen so stark, dass ich nicht richtig kauen oder essen konnte,” sagt Miriam, und Anna erzählt mir, dass sie ohne Beißschiene morgens nichts essen kann.
Aber warum entlädt sich der Stress ausgerechnet im Gebiss? Seidenstücker erklärt es sich so: „Das Gebiss ist das Spiegelbild unserer Emotionen.” Weil alle unsere Emotionen über den Mund kommuniziert, runtergeschluckt oder sonst wie verarbeitet werden, sei es kein Wunder, dass wir auch an diesem Ort auf Unverarbeitetes reagieren: „Der Hauptnenner des Ganzen ist die Psyche.”
In der Zahnmedizin sieht man das etwas pragmatischer. „Manche Patienten haben eine Zahnreparatur, die stört, oder die beiden Kiefer liegen nicht richtig auf”, erklärt Zahnarzt Ziegler. Für ihn ist aber auch klar, dass das nur einen Teil der Fälle betrifft – bei sehr vielen sei es schon psychosomatisch.
Eine Pauschalantwort, was man gegen Bruxismus tun kann, habe ich nach dieser Recherche leider nicht zur Hand. Dafür die Erkenntnis, wie faszinierend das Zusammenspiel von Körper und Psyche ist und wie viel wir über unsere Natur noch nicht wissen.
Für mich selbst habe ich eine einfache Lösung des akuten Problems gefunden: Ich habe meinen Professor gebeten, die Abgabefrist meiner Hausarbeit auf Ende Januar zu verlängern. Er hat zugesagt. Seit dieser E-Mail hab ich keine Schmerzen im Kiefer mehr.
Beim Erarbeiten des Textes hat Theresa Bäuerlein geholfen; Martin Gommel hat das Aufmacherbild ausgesucht (iStock / nilapictures).