Warum Sterbehilfe für mich normal ist

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Psyche und Gesundheit

Warum Sterbehilfe für mich normal ist

Ich bin Schweizerin und möchte zeigen, wie Sterbehilfe funktioniert, was sie leistet und warum sie in meinem Land so viel Unterstützung findet.

Profilbild von Sonja Gambon

Ich muss gestehen, dass ich mich noch nicht oft mit dem Thema Sterbehilfe beschäftigt habe, obwohl ich in einem Land lebe, in dem es nichts Unübliches ist, dass Menschen anderen beim Freitod helfen. Es gab dazu keine Aufklärungsstunde mit meinen Eltern, in der Schule wurde dieser besondere Freitod auch nicht thematisiert. Auf jeden Fall war mir der Begriff „EXIT” schon geläufig, als mein Großvater als Folge einer Operation mit Nebenwirkungen zu kämpfen hatte, lebensmüde wurde und sich überlegte, dieser Sterbehilfe-Organisation beizutreten. Ganz beiläufig erwähnte er immer wieder: „So lässt es sich doch nicht leben, ich geh jetzt zu EXIT.” Doch da niemand seine Andeutung ernst nahm, dachte ich nicht weiter darüber nach.

Das Recht auf Selbstbestimmung bis zum Lebensende, inklusive des eigenen Todestags: In den meisten Ländern ist das alles andere selbstverständlich. In der Schweiz schon, und ich will in diesem Text erklären, warum. Kleiner Disclaimer: Ich kann natürlich nicht stellvertretend für die ganze Schweiz sprechen, aber ich kann meine eigene Perspektive wiedergeben. Da in diesem Zusammenhang meine Nationalität von Bedeutung ist, mache ich das eben als Schweizerin.

Wir kennen es nicht anders

Zuerst ist es wichtig, die Begrifflichkeiten zu definieren. Denn der „begleitete Freitod“ ist von der „aktiven Sterbehilfe“ und der „passiven Sterbehilfe“ zu unterscheiden. Ersteres umschreibt den assistierten Suizid, bei dem der Sterbewillige Unterstützung bekommt, das tödliche Mittel aber selbst nehmen muss. Bei der aktiven Sterbehilfe hingegen verabreicht eine andere Person das tödliche Mittel, bei der passiven Sterbehilfe werden jegliche lebenserhaltenden Massnahmen eingestellt. Anders als in Deutschland ist der begleitete Freitod eine anerkannte Möglichkeit, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen. Wie kommt das?

Die banalste und gleichzeitig wichtigste Antwort: Gewohnheit. Seit 1942 ist es legal, jemandem beim Freitod beizustehen, solange die Hilfeleistung nicht aus selbstsüchtigen Gründen erfolgt. Die meisten Menschen nehmen Gesetze, die schon bei ihrer Geburt galten, als normal wahr. Wir Schweizer denken also kaum über Sterbehilfe nach. Außer natürlich, jemand in unserem Umfeld kommt damit in Berührung.

Bei meiner Recherche treffe ich auf Olivia und Martin, die mir erzählen, wie es war, eine nahestehende Person in den Freitod zu begleiten.

Olivia ist 24 Jahre alt und hat soeben ihre dreimonatige Reise durch Südamerika angetreten, als ihre Großmutter beschließt, nach einer Brustkrebsdiagnose den Freitod mit EXIT zu gehen. Mehr als ein Jahr dauerte es, bis der Todestag feststand. „Der administrative Aufwand war enorm. All die Formulare, Bescheinigungen, Konsultationen, Termine und Abgaben nahmen kein Ende”, berichtet sie. Sie findet das aber gut, und auch, dass die Familie so sehr einbezogen wurde. Ein Seelsorger hat sich in der Zeit um sie gekümmert, war da bei Fragen und Sorgen.

Als der Todestag der Großmutter dann feststand, wollte sie nicht dabei sein, das wäre zu schwer gewesen. „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wieso will sie denn gerade jetzt gehen, wo es ihr doch noch so gut geht?” Anders geht es aber nicht, denn eine Freitodbegleitung ist ja nur möglich, solange die Person noch einigermaßen gesund ist. Wut oder Ohnmacht habe Olivia aber nie gespürt, auch ihre Mutter nicht. Die Familie hatte schon den Leidensweg des Opas mitgemacht, der auch an Krebs litt und lange im Krankenhaus lag, nichts tun konnte und wartete. „Ohne diese Erfahrung hätten wir bestimmt alle anders reagiert”, da ist Olivia sich sicher. Nichtsdestotrotz sei der Freitod ihrer Oma keine Erlösung gewesen, sondern „einfach ein Ende”.

Im Nachhinein macht Olivia das Gerede im Dorf zu schaffen; das Thema Sterbehilfe ist sehr tabuisiert, gerade auf dem Land. Dass die Polizei aufkreuzte, sorgte für Gerüchte. Olivia erinnert sich: „All die Leute, die nach dem Freitod meiner Oma getratscht haben, sie hätte sich umgebracht. Aber direkt wollte niemand darüber reden”.

Das war unfassbar schwierig. Wenn man jemanden liebt, dann will man für ihn doch nur das Beste. Doch der eigene Egoismus kommt immer wieder dazwischen, man will doch nicht seinen eigenen Vater in den Tod begleiten.
Martin, Angehöriger

Martin war 37 Jahre alt, als bei seinem Vater Parkinson diagnostiziert wurde. Er stand mitten im Leben, hatte eine kleine Familie, arbeitete als Jurist. Der Befund über die Krankheit veränderte alles: Er stürzte den Vater in eine große Krise, wurde tieftraurig, verlor den Willen, zu kämpfen. „Früher oder später werde ich eh daran sterben”, dachte er. Dieser Gedanke nistete sich in seinem Kopf ein. Er beschloss, dem langsamen Tode zuvorzukommen und sich bei EXIT anzumelden, so lange er noch fit genug war, sich um die bürokratische Seite zu kümmern. Für Martin und seine jüngere Schwester war es eine schreckliche Zeit.

Vom Prozess selbst haben sie wenig mitbekommen, da es dem Vater schwerfiel, darüber zu sprechen. Erst spät weihte er seine Kinder ein.

„Das war unfassbar schwierig. Wenn man jemanden liebt, dann will man für ihn doch nur das Beste. Doch der eigene Egoismus kommt immer wieder dazwischen, man will doch nicht seinen eigenen Vater in den Tod begleiten”, erzählt Martin.

Den Wunsch eines Angehörigen respektieren, aber daran nicht selbst verzweifeln, wie geht das? Er habe es nicht ausgehalten, sei weggefahren, nachdem er sich vom Vater persönlich verabschiedet hatte. „Ich war einfach unendlich traurig”. Noch heute, viele Jahre später, hat er die Entscheidung seines Vaters nicht ganz verkraftet.

Die Gesetzgebung zum Freitod beschreibt Artikel 115 des Schweizer Strafgesetzbuches. Beim begleiteten Freitod handelt es sich nicht um eine Fremd-, sondern um eine Selbsttötung, was nach Schweizer Recht nicht strafbar ist. Die „Verleitung und die Beihilfe zum Selbstmord”, wie das Gesetz heißt, ist aus selbstsüchtigen Gründen hingegen nicht erlaubt und wird als Tötungsdelikt verurteilt. Das Gesetz ist negativ formuliert: Das heißt, dass nur geklärt ist, was verboten ist – und nicht, was erlaubt ist. Und das ist eigentlich nur: Die Begleitung eines Suizids. Ganz neutral, ohne Interessen.

Nebst der Schweiz ist Sterbehilfe in Europa noch in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg erlaubt. In diesen Ländern ist teilweise auch aktive Sterbehilfe legal, währenddessen in der Schweiz diese nicht erlaubt ist. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn in der aktiven Sterbehilfe injiziert der Arzt das tödliche Mittel, währenddessen das in der passiven Sterbehilfe und dem begleiteten Freitod nicht der Fall ist.

In Deutschland wurde am 6. November 2015 ein Gesetz zur „Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung” beschlossen. § 217 des Strafgesetzbuches verbietet demnach die Geschäftsmäßigkeit jeglicher Beteiligten eines Suizides – ob Patient, Arzt oder Angehörige. Der Terminus „geschäftsmäßig” ist jedoch sehr unbestimmt gefasst und wird von verschiedenen Seiten kritisiert. Rein juristisch deutet der Begriff auf eine Wiederholung des Tuns hin. Sobald also eine Regelmäßigkeit vorliegt, wird das als Geschäftsmäßigkeit gewertet.

Das Gesetz geht sogar noch weiter: Bereits der erste Versuch kann als geschäftsmäßig gelten, wenn die Intention einer Fortführung vorliegt. Damit will der Gesetzgeber verhindern, dass der begleitete Freitod zu einem Regelangebot wird. Auch in Deutschland gibt es Vereine, die sich für Sterbehilfe einsetzen, zum Beispiel „Dignitas Deutschland“. Jene Vereine sind durch dieses Gesetz in ihrem Handeln weitgehend beschränkt und fokussieren sich auf Aufklärungs- und Lobbyarbeit. Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen, die sich lediglich als nicht geschäftsmäßig handelnde Teilnehmer an der Tat beteiligen, bleiben von der Strafandrohung ausgenommen. Mehr Informationen zu diesem Gesetz gibt es hier.

Wir haben Vertrauen

Wenn wir Schweizer uns wirklich mit der Sterbehilfe auseinandersetzen müssen, weil ein Mensch, der uns nahe steht, sein Leben so beenden will, dann nehmen wir das natürlich sehr ernst. Da ist es uns wichtig, dass alles mit rechten Dingen vonstattengeht. Erstmal muss garantiert sein, dass die Person von niemandem in ihrer Entscheidung beeinflusst wird, der dabei eigene Interessen verfolgen könnte. Doch haben wir dabei großes Vertrauen in die ausführenden Vereine und die Philosophie dahinter. Das haben mir viele Schweizer, mit denen ich über dieses Thema gesprochen habe, bestätigt.
Selbst der „Tatort: Freitod” zum Thema konnte an unserem Vertrauen nicht rütteln. In der erwähnten Episode fungiert eine Freitodbegleiterin als Todesengel – eine Situation, vor der sich viele Skeptiker fürchten. Auch eine Reportage von SRF zum Freitod des beliebten SVP-Politikers This Jenny, der 2014 an Krebs erkrankte und daraufhin selbstbestimmt aus dem Leben schied, bekam positives Feedback. Viele wurden damals durch den Film auf das Konzept aufmerksam. Der Verein EXIT konnte daraufhin viele Interessierte und Neumitglieder vermelden: Nur ein paar Tage nach seinem Tod bekam EXIT fast 600 Neumitglieder.

Warum wir vertrauen? Es ist bisher kein Fall bekannt, der von Missbrauch, Todesengeln oder dergleichen zeugen würde. Und vielleicht gehört das einfach zur Schweizer Mentalität. Wir mögen zwar viel jammern und kritisch gegenüber Unbekanntem sein, doch schlussendlich vertrauen wir der Politik, dem Gesetz und dessen korrekter Ausführung. Eine Freundin aus Deutschland bemerkte mir gegenüber einmal, dass in der Schweiz auffallend oft der Begriff des „Urvertrauens” verwendet werde. Der passt hier wohl ganz gut. Natürlich vertrauen wir nicht grundlos. Das Gesetz ist dabei äußerst wichtig. Dieses ist streng und lässt nicht viel Freiraum für Missbrauch. Sowas mögen wir.

Es ist ein langer Weg

Das heißt natürlich nicht, dass der Staat oder wir uns selbst die Sache leicht machen würden. Es ist verdammt schwierig, eine Freitodbegleitung durchzuziehen. Der administrative Aufwand ist enorm, die emotionale Belastung schwierig, die ganzen Konsultationen aufwändig. Spielen wir das ganze Prozedere einmal von Anfang an durch:

Wer den begleiteten Freitod in Anspruch nehmen will, muss erst einmal dafür in Frage kommen. Dafür stellt die sterbewillige Person einen Antrag bei der gewünschten Organisation (ja, es gibt mehrere).

EXIT und Dignitas sind die größten Vereine, die Freitodbegleitung anbieten und transparent kommunizieren. Sie unterscheiden sich vor allem in einem Punkt: EXIT kümmert sich nur um Schweizer Mitglieder, währenddessen Dignitas für Sterbewillige aus aller Welt zur Verfügung steht. Daneben gibt es noch Life Circle, Ex International und Associazione Liberty Life, die viel kleiner sind und wenig über sich preisgeben.

Die beiden großen Vereine stellen viele Bedingungen, die eine Person erfüllen muss, um für die Freitodbegleitung in Frage zu kommen:

  • Mitgliedschaft
  • Urteilsfähigkeit
  • Tatherrschaft
  • Wohlerwogenheit
  • Konstanz
  • Autonomie

Das Wichtigste ist dabei die „Tatherrschaft”: Der Mensch, der sterben will, muss das tödliche Mittel selbst einnehmen, die FreitodbegleiterInnen dürfen es ihm nicht verabreichen. Das wäre aktive Sterbehilfe und diese ist in der Schweiz verboten. Daneben legen die Vereine viel Wert darauf, dass die Sterbewilligen wissen, was der Freitod für Konsequenzen hat (auch wenn das selbstverständlich klingen mag) und welche Alternativen es in der spezifischen Situation gäbe – je nachdem könnten Therapien, Palliativmedizin, Altenpflege, psychologische Unterstützung und ähnliche Maßnahmen helfen. Besonders bei EXIT legt man viel Wert auf einen langfristigen Sterbewunsch. Der Verein zieht langjährige, insbesondere lebenslange Mitglieder den kurzfristigen Mitgliedern bei Anträgen vor. Die Mitgliedschaft ist zwingend.

  • hoffnungslose Prognose
  • unerträgliche Beschwerden
  • unzumutbare Behinderung

Zudem muss eine medizinische Beurteilung vorliegen, die bezeugt, dass das Leben so nicht mehr zumutbar ist. Dafür braucht es eine oder mehrere Konsultationen bei einem Arzt. Junge, lebensmüde Menschen können keine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen – es sei denn, sie leiden unter einer tödlichen Krankheit.

Kontakt aufnehmen

Ein Mensch, der einen Sterbewunsch hat, muss sich zunächst sich an die Geschäftsstelle wenden. Um sich anzumelden, muss er eine Reihe von Dokumenten einreichen. Dignitas will nebst den medizinischen auch insbesondere persönliche Unterlagen sehen, die bezeugen, dass man sich schon länger mit dem Gedanken befasst und keine andere Lösung sieht. Konkret beinhaltet dies ein persönliches Schreiben, einen Lebensbericht zur allgemeinen Situation, dem Umfeld und der eigenen Historie wie auch Angaben dazu, wie Angehörige das Vorhaben beurteilen – und natürlich die medizinischen Befunde.

Das erste Gespräch

Nachdem sie die persönlichen und medizinischen Unterlagen bekommen hat, trifft sich eine FreitodbegleiterIn mit dem Mitglied. Bei Sterbewilligen aus dem Ausland, wie das bei Dignitas meist der Fall ist, findet dieser Dialog auf schriftlicher Basis statt. Sie sprechen über die Situation und über mögliche Alternativen, meistens sind die Angehörigen dabei. Für dieses Gespräch nehmen sich alle Beteiligten viel Zeit, um Fragen und Sorgen zu bereden. Warum wünscht sich diese Person zu sterben? Wie lange hat sie diesen Wunsch schon? Wie ist das Verhältnis in der Familie? Was sind Ängste? Was für andere Möglichkeiten gibt es?

Das Rezept für das Sterbemittel

Wenn das Mitglied sich nach der Beratung weiterhin die Freitodbegleitung wünscht, nimmt der Verein den Kontakt zum betreuenden Arzt auf. Dabei ist bei EXIT in 50 Prozent der Fälle der Hausarzt zuständig, bei Dignitas wird über den Verein der Kontakt zum Arzt hergestellt. Dieser beurteilt die Unterlagen und entscheidet nach einer persönlichen Konsultation. Bei einem positiven Entscheid stellt er das Rezept für das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital (NaP) aus.

Wenn der Verein das Rezept hat, bewahrt er es auf und das Mitglied kann frei wählen, ob und wann es die Freitodbegleitung in Anspruch nehmen will. Das Mitglied wählt einen Termin und definiert den Rahmen, meist sind Angehörige oder Freunde dabei. An dem Termin bringt der Freitodbegleiter das Mittel zu der Person, die sterben will. Wichtig: Diese kann immer noch zu jedem Moment den Vorgang abbrechen.

Der Todestag

Am Todestag selbst treffen sich der oder die Sterbewillige, die Freitodbegleitung und die Angehörigen an einem ruhigen Ort – meist bei der Person zuhause, wo sie sich am wohlsten fühlt. In einem letzten intimen Moment kann sie sich so von ihren Liebsten verabschieden. Die Begleitung fragt nochmals nach dem Befinden, wie es um die Urteilsfähigkeit steht und ob das Mitglied auch ganz sicher den Freitod will. Bis zu diesem Zeitpunkt kann immer noch alles abgebrochen werden. Nachdem die Person das Medikament genommen hat, fällt sie schnell in einen Tiefschlaf. Im Schlaf setzen die Atemimpulse dann langsam aus, bis das Herz stehen bleibt.

Nachdem der Tod festgestellt wurde, wird die Familie verabschiedet und die Sterbebegleitung kümmert sich um den administrativen, etwas unangenehmen Prozess. Denn auch beim begleiteten Freitod muss man die Polizei benachrichtigen, da diese Art des Sterbens als „außergewöhnlicher Todesfall”eingestuft wird. Die Angehörigen und die Begleitung müssen nun für sich selbst einen Weg finden, mit dem Tod umzugehen.

Dieser ganze Prozess kann Monate, ja Jahre dauern. So lange eben, wie die Person braucht, aber auch die Familie, die Angehörigen, das Umfeld.

Den Wunsch eines Angehörigen respektieren, aber daran nicht selbst verzweifeln, wie geht das?

Martin und Olivia haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, aber für beide war es schwer, einen geliebten Menschen bei der Entscheidung für den Tod zu begleiten. Beide wünschen sich einen offeneren Diskurs. „Natürlich geht das nicht mit allen. Viele reagieren verstört oder halten die Anwesenheit dieses heiklen Themas nicht aus”, erklärte mir auch EXIT-Mitglied Tamara Michel. Sie findet, der Tod sollte nicht mehr so tabuisiert, sondern als Teil des Lebens und somit als völlig normal betrachtet werden.

Eine aktive Auseinandersetzung mit dem Tod und Sterbehilfe macht vielen Menschen Angst, das ist normal. Doch die wenigstens Menschen, die Mitglieder bei Exit oder Dignitas sind oder diese Organisationen gut finden, wollen eines Tages den Freitod wählen. Es geht ihnen lediglich um die Absicherung oder die Unterstützung des Konzepts.

Dass aber eigentlich viele Menschen dringend darüber reden möchten, erzählt mir Silvan Luley von Dignitas: „Dignitas erhält täglich 60 bis 100 Mails und Anrufe von Menschen, die nicht weiterleben wollen, und aus irgendwelchen Gründen nicht mit anderen darüber reden können.” Einige würden nach Tipps fragen, andere brauchen einfach eine Ansprechperson. „Vielen hilft es schon, dass sie mit den Mitarbeitern von Dignitas ohne Tabus über ihr Leiden, den Tod und das Sterben sprechen können.” Dafür sei Dignitas aber eigentlich nicht immer die richtige Anlaufstelle, so dass je nach Situation die Anrufer an Psychologen und Sozialarbeiter weiter verwiesen werden.

Trotz allem: Normal ist der begleitete Freitod auch in der Schweiz keineswegs. Das zeigt die Statistik.

In einer Studie des Bundesamtes für Statistik in der Schweiz wurden die Zahlen der sogenannten „Assistierten Suizide“ betrachtet. Diese zeigen zwar einen Anstieg in der Anzahl von Freitodbegleitungen, sind im Vergleich zu allen Todesfällen aber marginal: Die 742 Todesfälle durch Freitodbegleitung machen gerade mal 1,2 Prozent aller Verstorbenen aus. Auf die Suizide hat das keinen Einfluss: Bis 2003 lässt sich eine Abnahme von Suizidfällen wahrnehmen, seit 2008 steigen die Fälle von Freitodbegleitung aber extrem.

Es ist also immer noch ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft, der sich für den begleiteten Freitod entscheidet. Und das ist auch gut so, denn der Sinn der Sterbehilfe ist es ja nicht, dass möglichst viele Menschen den begleiteten Freitod wählen. Sie soll eine Stütze in Fragen rund um den Tod zu bieten und bei einem vorhandenen Sterbewunsch helfen zu können, einen sicheren Raum zu bieten.


Beim Erarbeiten des Textes hat Christian Gesellmann geholfen; Theresa Bäuerlein hat gegengelesen; das Foto hat Martin Gommel ausgesucht.