Der große Mann im weißen Kittel schüttelt mir so heftig die Hand, dass ich denke, sie fällt jeden Moment ab. Als ich meine Hand wegziehe, sind weiße Stellen daran zu sehen, die erst langsam wieder an Farbe gewinnen. Dass dieser Mann mit den großen Händen meinen Kopf und Bauch aufgeschnippelt hat, als ich 39 Zentimeter groß war, macht mir ein bisschen Angst.
Aber das ist nicht schlimm, damit hat er mir nämlich das Leben gerettet. Das weiß ich, weil meine Mutter mir das immer erzählt. Der Arzt wirft mir einen Blick zu. Seine Haut an der Stirn wird ganz runzelig und seine Augenbrauen schieben sich zusammen. Er sagt etwas zu meiner Mama. Überforderung in der Schule. Ergotherapie, Krankengymnastik. Ich tue so, als würde ich nicht zuhören und konzentriere mich auf das Wippen meiner Beine. Vor, zurück, vor, zurück.
Ich bin zehn Jahre alt und ich glaube, ich bin nicht so, wie andere Mädchen mit zehn Jahren sind. Ich bin fast drei Monate zu früh auf die Welt gekommen. Mein ausgerechneter Geburtstermin war der 28.11.1994. Mein Geburtstag ist der 09.09.1994. Ich bin ein Fan von Schnapszahlen.
Als meine Mutter schwanger war, hat sie mehrere schwere Schocks erlebt. Vielleicht habe ich mich so unwohl gefühlt in ihrem Bauch, dass ich dachte, ich will hier so schnell wie möglich raus. Beim ersten Schock war sie mit dem Auto auf dem Weg zum Einkaufen und hat einen Unfall gesehen, bei dem eine Motorradfahrerin quer über die Straße geflogen ist. Das zweite Mal war sie auch im Auto, diesmal auf dem Weg zur Hochzeit ihres Bruders. Der Vater der Braut bekam auf der Fahrt einen Herzinfarkt und starb. Meine Mutter ist sowieso sensibel, aber als Schwangere war sie es noch mehr. Ihre Stresshormone habe ich als Ungeborenes sicher mitbekommen. Jedenfalls habe ich mich so gedreht, dass ich quer im Bauch lag.
Niemand hat es gemerkt, bis meine Mutter schon Presswehen hatte und im Krankenhaus war. Jede Frau, die schon ein Kind hat, weiß, welche Kräfte bei einer Geburt auf den Körper der Mutter einwirken. Ich lag also quer, mein Kopf wurde ziemlich zusammengedrückt und meine Mutter hatte wahnsinnige Schmerzen, weil sie mich nicht herauspressen konnte.
Als die Ärzte und Krankenschwestern endlich verstanden hatten, was los war, haben alle „Scheiße!“ geschrien. Meine Mutter wurde mit Schmerzmitteln vollgepumpt, in ein anderes Krankenhaus gefahren und bekam einen Notkaiserschnitt. Erst zwei Tage nach meiner Geburt hatte sie wieder genug Kraft, um aufzustehen und mich auf der Frühchenstation zu besuchen. Die Schwestern waren ganz erschrocken.
Sie dachten, die Mutter wäre tot, so wie ihr Kind aussah. Ich war grün, blau, schwarz und überall verkabelt, eine Schwester hatte mir noch aus Versehen den Arm gebrochen. Meine Stimmbänder waren noch nicht entwickelt, also habe ich zwar gebrüllt, aber es kam kein Ton. Meine Mutter sagt, es war das Schlimmste, was sie je erlebt hat.
Scheiß drauf, das Leben gibt’s nur einmal
Durch den Druck auf meinen weichen Kopf war mein Gehirn so zerdrückt worden, dass ich Gehirnblutungen bekam. Vielleicht dachte sich mein Körper dann: „Na, wenn schon Scheiße, dann auch so richtig!“ Jedenfalls hat das Blut dann meinen Rückenmarkskanal verstopft.
Über den Rückenmarkskanal fließt bei gesunden Menschen das Gehirnwasser ab. Der Mensch besitzt vier Gehirnwasserkammern, Fachleute nennen sie Liquorkammern. Das ist sozusagen der Airbag fürs Gehirn. Dieses Gehirnwasser wird ständig erneuert. Während der Körper frisches Wasser produziert, muss das alte irgendwo hinfließen. Das passiert hauptsächlich über den Rückenmarkskanal.
Das Gehirnwasser tritt dann ins Blutsystem über und wird über die Venen abtransportiert. Täglich wird etwa ein halber Liter neues Liquor gebildet. Bei mir konnte das Liquor durch die Verstopfung nicht mehr abfließen. Es wurde aber weiterhin neues Liquor produziert. Dadurch schwollen meine Gehirnwasserkammern an.
Im Volksmund ist diese Krankheit unter dem Namen Wasserkopf bekannt. Auf medizinisch heißt das posthämorrhagischer Hydrozephalus. Glücklicherweise haben die Ärzte das Problem schnell bemerkt und meinen Kopf zwei Tage nach der Geburt durch ein sogenanntes „Shuntsystem“ wieder in den Normalzustand zurückversetzt.
Ein Shunt ist ein kleines Ventil im Kopf, daran ist ein Schlauch angeschlossen. Der Schlauch und das Ventil liegen unmittelbar unter meiner Haut. Der Schlauch führt entlang meines Brustkorbs, bis in meine Bauchhöhle. Da kommt dann mein Liquor an und wird weiter in das Blutsystem geleitet. Früher wurden solche Shunts nach außen gelegt, da lief man dann mit einem Beutel am Kopf rum. Ich sag immer: „Gut, dass ich nicht früher geboren bin.”
Die Blutungen in meiner linken Gehirnhälfte waren so stark, dass einige Areale meines Gehirns zerstört wurden. Die linke Gehirnhälfte ist für die Lenkung der rechten Körperseite zuständig, die rechte Gehirnhälfte lenkt die linke Seite. Durch die Blutung entstand bei mir eine rechtsseitige Lähmung, auch Spastik oder Hemiparese genannt. Hemi = altgriechisch, für „halb“ ; Parese = altgriechisch, für „Erschlaffen“. Eine Hemiparese bezeichnet also eine Lähmung der linken oder rechten Körperseite.
Bei dem Wort Lähmung denken viele zuerst an Menschen im Rollstuhl. Sie ist aber mehr so etwas wie ein permanenter Wadenkrampf. Ich kann laufen, sogar ziemlich normal. So wie jeder andere 23-jährige Mensch, der zwei gesunde Beine besitzt. Die besitze ich zwar nicht, aber scheiß drauf, das Leben gibt’s nur einmal. Man merkt mir die Lähmung nur an, wenn man darauf achtet. Außer an schlechten Tagen, wenn es zum Beispiel einen Temperatursturz gibt, da humpele ich mehr.
Dass auch mein rechter Arm gelähmt ist, fällt noch weniger auf. Ich hab es zwar nicht so mit der Feinmotorik, aber wann muss ich zum Beispiel schonmal irgendetwas ausschneiden? Sehr selten. Und wenn doch, dann ist das Herzchen oder was auch immer eben nicht sauber ausgeschnitten. Egal. Außerdem bin ich eh Linkshänderin. Mein Körper hat das einfach von sich aus so gedreht. Ziemlich ausgefuchst, wie ich finde.
Ein Orthopäde meinte mal zu mir, dass ich vielleicht sogar Sport machen könnte, wenn wir die Spastik behandeln. Ich habe ihm dann gesagt, dass ich regelmäßig 21 Kilometer jogge. Schwimmen kann ich aber nicht. Mein Gehirn bekommt es koordinationsmäßig nicht hin, dass ich Arme und Beine gleichzeitig bewegen muss, um mich im Wasser fortzubewegen. Ich mache auch keine Fahrradtour mit Freunden. Ich kann kein Fahrrad fahren. Mein Gehirn kriegt es gleichgewichtsmäßig nicht geregelt, dass ich mich auf ein Fahrrad setze.
Mein Mathelehrer hat geweint
Ich bin auf eine ganz normale Grundschule gegangen. Die Lehrer hatten keine Ahnung, wie sie mit mir umgehen sollten und sie haben mir auch nicht dabei geholfen, den anderen Kindern zu erklären, warum ich manche Dinge nicht kann. Ich bin deswegen viel gemobbt und ausgelacht worden, bei der Fahrradprüfung zum Beispiel. Manchmal habe ich mich so geschämt, dass ich stundenlang hätte heulen können.
Als ich in die Realschule kam, wurde es besser, weil die Lehrer besser waren – und weil ich begriffen hatte, dass ich offen mit meiner Behinderung umgehen und den Lehrern selbst sagen muss, was ich kann und was nicht.
Durch die Gehirnblutungen wurden noch einige andere Gehirnareale zerstört oder angefressen. Mein Zentrum für abstraktes Denken ist zum Beispiel nicht besonders ausgeprägt. Hiermit bedanke ich mich dann recht herzlich für die Sechsen in Mathe. Für manche Prozesse hat sich mein Gehirn einfach andere Synapsen gesucht. Aber erklär mal deinem Mathelehrer, der weinend vor deiner Klausur sitzt, dass dein Gehirn Denkprozesse anders verarbeitet. Der hat das einfach irgendwann so hingenommen.
Die Qualifikation fürs Gymnasium habe ich wegen der 5 in Mathe trotzdem nicht bekommen. Meine Fachoberschulreife habe ich mit einem Durchschnitt von 2,8 abgeschlossen. Ich habe eine abgeschlossene Berufsausbildung in der Tasche. Als ich mich neulich auf einen Job beworben hatte, wollte die Frau beim Bewerbungsgespräch mir nicht glauben, dass ich behindert bin. Wenn dir niemand deine physische oder psychische Einschränkung anmerkt, ist es schwierig, den Leuten klar zu machen, wo deine Grenzen sind. Du erntest Missverständnis, Bewunderung oder neugierige Blicke.
Eine gute Freundin von mir hat Epilepsie. Eine andere hat nur einen Lungenflügel. Und wir alle werden angeguckt und gefragt „Hä? Wo bist du denn bitte behindert?“
Fremdkörper, die mich am Leben erhalten
Eine Stelle, an der man es bei mir sehen kann, ist der Schlauch meines Shuntsystems. Weil der so nah unter meiner Haut liegt, ist er für andere sichtbar. Die Leute gucken deswegen oft komisch, weil es aussieht, als hätte ich eine Halsschlagader zu viel. Manche trauen sich zu fragen: „Was hast’n da?“ Andere starren nur. Es hat eine Weile gedauert, aber mittlerweile habe ich mich mit diesem Fremdkörper in mir angefreundet. Auch wenn dieser Schlauch und dieses Ventil in meinem Kopf mir Angst machen. Weil mein Leben von ihnen abhängt.
Als das Ventil vor einem Jahr kaputtging, wäre ich fast gestorben. Es fing mit einer harmlosen Erkältung an. Wenn man krank ist, verbraucht der Körper mehr Gehirnwasser – deswegen heißt es immer, dass man dann viel trinken soll. Das Ventil hat deswegen nicht mehr richtig funktioniert, als Folge ist meine linke Gehirnwasserkammer in sich zusammengefallen. Mein Gehirn hatte keinen Airbag mehr.
Ich habe gekotzt bis zum gehtnichtmehr, drei Tage lang. Als ich endlich im Krankenhaus war und auf meine Operation wartete, übergab ich mich alle zwanzig Minuten. Eine Schwester musste das Zimmer verlassen, weil sie geheult hat, als sie mich sah. Nach der Operation sagte der Neurochirurg, ich hätte Glück gehabt – eine weitere Nacht hätte ich das nicht überlebt.
Viele Leute denken, dass ich eine extrem starke Persönlichkeit bin und sehr extrovertiert. Das stimmt auch bis zu einem gewissen Grad, aber ich wünsche mir trotzdem, dass die Menschen normaler mit mir umgehen und neutraler in ihren Reaktionen werden.
Vor 50 Jahren war es nicht normal, wenn dir jemand gesagt hat, „Ich bin schwul.“ Wenn mir das heute jemand sagt, ändert so ein Outing nichts an meiner Beziehung zu der jeweiligen Person. Bei mir ist es auch so: Es ändert nichts an meiner Person, dass ich behindert bin. Ehrliches Interesse finde ich aber schön.
Dann rede ich gerne über meine Krankheit und darüber, was ich wegen ihr alles nicht kann. Aber sobald ich Bewunderung in den Augen meiner Mitmenschen sehe, stoppe ich meistens. Bewunderung für andere empfinden tut jeder, und diese Empfindung ist nur menschlich. Aber ich bin nicht der Affe im Zoo.
Jeder hat sein Päckchen zu tragen, egal in welcher Form, und meistert trotzdem sein Leben. Ich habe meins unter schärferen Bedingungen gemeistert als manch anderer und tue dies immer noch. Aber ich kenne es nicht anders, weshalb diese Bedingungen für mich normal sind. Ich will nicht für etwas völlig normales bewundert werden.
Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Nur eben irgendwie anders. Wenn mein Bruder zu mir sagt: „Ey du Spasti“, sage ich: „Ja, was dagegen?“
Dieser Text ist Teil meiner Serie „Was ich wirklich denke“, in der ich Menschen zu Wort kommen lasse, die interessante Berufe haben oder in herausfordernden oder besonderen Lebenssituation stecken. Trifft das auf Dich zu und willst Du davon erzählen? Dann melde Dich unter: theresa@krautreporter.de
Christian Gesellmann hat den Text bearbeitet, Esther Göbel hat ihn gegengelesen. Wer mehr von Lisa lesen will: Sie schreibt den Blog Hirngelaber