„Der Krebs ist wie ein großer kalter Wal, der auf mir liegt”
Psyche und Gesundheit

„Der Krebs ist wie ein großer kalter Wal, der auf mir liegt”

Andrea, 35, schrieb uns auf Facebook, weil es sie stört, dass die meisten Medien, auch wir, über Krebs als Krankheit und Todesursache schreiben – nicht aber über das Leben mit Krebs. Andrea hat das selbst erlebt. In meiner Kolumne „Was ich wirklich denke” erzählt sie ihre Geschichte.

Profilbild von Protokoll von Theresa Bäuerlein

Zwei Jahre, nachdem die Ärzte mir einen bösartigen Tumor aus der Brust operiert hatten, las ich in einem Magazin die Geschichte einer jungen Frau, die auch an Krebs erkrankt war und nach zwei Jahren einen Rückfall hatte. Meine größte Angst in einer Fotostory! Ich habe das Magazin in die Ecke geschmissen und geheult.

Es ärgert mich, dass die Geschichten, die über Krebs erzählt werden, immer wieder dem gleichen Schema folgen. Es geht darum, das Sterben und das Drama von Menschen mit Krebs zu beschreiben, weil das so schön gruselig ist und die Leserin oder der Leser froh sein kann, dass man nicht selbst betroffen ist. Man liest viel zu wenig darüber, dass Krebs nicht immer zum Tod führt und es ein Leben danach gibt. Wie bei mir. Ein Leben, das sogar freier ist als vorher.

Alles fing an, als ich am Strand saß und mich mit Sonnencreme einschmierte. Dabei habe ich einen kleinen Knubbel bemerkt. Er saß oberhalb der Brust, Richtung Schlüsselbein. Erst habe ich mir nichts dabei gedacht. Aber als er nach einer Woche immer noch da war, ging ich zu meiner Frauenärztin. Sie war nicht besonders besorgt. Ich war erst 29, habe mich immer gesund ernährt, Sport gemacht. In meiner Familie gab es keine relevanten Vorerkrankungen. Und in meinem Alter kriegt ja fast niemand Krebs. Aber sie hat mir einen Ultraschall verschrieben, sicher ist sicher. Eigentlich hätte ich zwei bis drei Monate darauf warten müssen. Zum Glück habe ich darauf bestanden, dass der Ultraschall zügig gemacht wird, weil ich einfach wissen wollte, was los war.

Als ich dann beim Arzt saß und er mich untersuchte, konnte ich auf den Ultraschallbildern an der Stelle, an der ich den Knoten gefühlt hatte, einen schwarzen Kreis sehen. Ich wollte unbedingt wissen, was das war, aber alle drucksten herum. Es könnte auch ein gutartiger Tumor sein, sagte man mir, oder ein entzündeter Lymphknoten. Eine Biopsie wollten die Ärzte nicht machen, weil mein Brustkorb schmal ist und sie Angst hatten, dass sie dabei meine Lunge verletzen würden. Der Knoten musste also herausgeschnitten werden, um ihn zu untersuchen.

Mir war das recht. Ich wollte dieses Ding unbedingt raushaben, was immer es war. Die Narbe im Dekolleté war mir egal. An diesem Punkt habe ich mir immer noch keine großen Sorgen gemacht. Man kennt das ja, dass man zum Arzt mit etwas geht, das auch etwas Schlimmes sein könnte. Aber dabei sagt man sich doch oft: „Es wird schon nichts sein, das passiert ja immer nur den anderen.“

Die Operation war ganz kurz, es war noch nicht einmal eine richtige Vollnarkose, mehr so ein Dämmerschlaf. Den Befund sollte ich eine Woche später mit der Frauenärztin besprechen. Stattdessen kam bald nach der OP ein Anruf vom Krankenhaus. Die Chefärztin wolle mich sprechen, ich solle noch einmal reinkommen. Ich dachte, die können doch unmöglich mich meinen. Ich habe nachgefragt, ob das keine Verwechslung sei. „Kommen Sie morgen früh“, hieß es.

Das war der Punkt, an dem ich anfing, Angst zu haben. Ich rief eine Freundin an, die Ärztin ist, und fragte, was das bedeuten könnte. Sie sagte sofort, sie wolle mit ins Krankenhaus kommen. Erst später verriet sie mir, dass sie sich schon gedacht hatte, was die Diagnose sein würde. Dann saßen wir im Zimmer der Chefärztin und sie sagte, dass der Tumor bösartig sei.

Ich wusste nicht: Sterbe ich jetzt gleich?

Ich weiß noch, dass meine Freundin neben mir geweint hat. Ich nicht. Ich habe in diesem Moment auf Autopilot geschaltet. Alles rauschte in den nächsten Wochen nur noch vorbei. Ich musste meinen neuen Job absagen, meine Eltern kamen aus dem Urlaub zurück, alle waren schockiert. Eine Freundin ist heulend am Telefon zusammengebrochen. So war ich damit beschäftigt, alle zu trösten. Das war anstrengend, aber auch eine gute Ablenkung für mich. Die totale Ungewissheit an diesem Punkt war kaum auszuhalten. Ich wusste nicht, muss die Brust ab, ist der Krebs noch woanders im Körper, sterbe ich jetzt gleich? Man denkt sofort, Krebs ist gleich Tod. Auch wenn die Ärztin mir beim Verkünden der Diagnose gesagt hatte, dass der Tumor nur sehr gering wachse und gut abgegrenzt sei.

Ich kam in eine Behandlungsmaschinerie. Die Ärzte operierten mich noch einmal, bei einem bösartigen Tumor muss der Bereich um den Knoten großflächiger herausgeschnitten werden. Die Lymphknoten, die am nächsten am Tumorort lagen, mussten auch raus, um nachzusehen, ob da Tumorzellen waren. Mein Unterleib wurde mittels Ultraschall untersucht, die Lunge geröntgt und die Knochen gecheckt. Mir wurden radioaktive Flüssigkeiten gespritzt. Mir war gar nicht klar, was es alles für Behandlungen gab.

Im Krankenhaus zu liegen und auf die Ergebnisse zu warten, war sehr anstrengend. Irgendwann kam die Chefärztin rein und erzählte mir stolz, dass der Tumor hormonabhängig sei. Sie erklärte mir, dass das gut war, weil man die entsprechenden Hormone blockieren könne, die den Tumor am Leben erhalten, und die Tumorrezeptoren mit Medikamenten besetzen. Die Ärztin tätschelte meinen Arm und sagte: „Es sieht gut aus.“ Ich brauchte keine Chemo.

Stattdessen wurde ich mit 29 Jahren künstlich in die Wechseljahre versetzt. Das war hart. Zwei Jahre lang bekam ich alle drei Monate eine Spritze in die Bauchdecke und musste täglich Tabletten nehmen. Ich bekam Hitzewallungen und hatte keine Lust mehr auf Sex, mein Körper sprang einfach nicht mehr auf das an, was ich vorher gemocht hatte. Ich habe meine Tage nicht mehr bekommen, was sich seltsam für mich anfühlte, weil ich diesen monatlichen Rhythmus nicht mehr hatte. Auf einmal habe ich mich ganz zeitlos gefühlt, trotz Kalender und Uhren. Jedes Mal, wenn ich die Spritze bekam, war ich danach gereizt, weil sie mich wieder an diese Scheißkrankheit erinnert hat.

Schwanger werden ging nicht mehr

Bevor man mir sagte, dass ich Krebs habe, hatte ich schwanger werden wollen und hatte schon zwei Fehlgeburten gehabt. Jetzt war klar, dass ich auf absehbare Zeit keine Kinder kriegen würde, vielleicht nie. Mein Freund hat mich in dieser Zeit sehr unterstützt, er war mein Polster und mein Wutkissen und immer da, wenn ich zusammengebrochen bin. Ich habe lange total viel Raum in der Beziehung eingenommen, denn ich bin ein Mensch, der viel über seine Gedanken und Ängste redet. Und Ängste hatte ich viele. Sicher war das eine große Belastung für meinen Freund und ein Grund dafür, dass wir uns getrennt haben, als meine Krankheit nicht mehr akut war.

Ich hätte gerne jemand gekannt, der Ähnliches durchgemacht hat, aber es war schwierig, Menschen in meinem Alter zu finden. Ich habe ja den Altersdurchschnitt in jeder Praxis schlagartig um zwanzig Jahre gesenkt, und auch die Behandlungsmethoden und Rehas sind nicht auf 29jährige ausgelegt. Die älteren Menschen, die ich in meiner Selbsthilfegruppe getroffen habe, waren alle in ganz anderen Lebenssituationen, Familienplanung spielte für sie keine Rolle mehr. Mit der Trauer darüber, dass ich keine Kinder kriegen konnte, war ich allein.

Für die Reha wollte ich in den Spreewald an einen Ort, wo ich nicht die Jüngste sein würde. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Es waren wieder nur ältere Leute da und ein Arzt mit Holzhammermethode. Ich war sowieso schon dünn und habe da noch mehr abgenommen. Der Arzt hat mich überhaupt nicht darin ernstgenommen, dass es mir emotional nicht gut ging. Der hat gesagt: „Wenn du zwei Kilo abnimmst, musst du halt mal Lasagne essen.“

Heute geht es mir gut, die Diagnose ist jetzt sechs Jahre her und ich habe eine günstige Prognose. Aber ich sehe die Narbe jeden Tag und gehe regelmäßig zu Untersuchungen, demnächst ist wieder Mammographie angesagt. Das Schlimmste ist, dass das Vertrauen in meinen eigenen Körper sich mit dem Krebs verabschiedet hat. Sobald etwas ein bisschen anders ist, ich zum Beispiel mit einer Erkältung nicht in einer Woche fertig werde, frage ich mich: Ist jetzt wieder was? An Brustkrebs sterben nun mal viele, das ist mir bewusst. Aber ich habe in der Selbsthilfegruppe auch Menschen getroffen, die schon zwanzig Jahre geheilt waren, auch meine Oma hatte Darmkrebs und hat nach der Behandlung völlig heil weitergelebt, das ist neun Jahre her. Das gibt es auch.

Kein übertriebenes Mitleid, bitte

Ich fände es schön, wenn das Reden über Krebs alltäglicher würde. Meine Krankheitsgeschichte macht mich zu dem, was ich bin, so etwas ist extrem prägend. Wenn Menschen aber erfahren, dass ich Krebs hatte, finden sie es entweder ganz schlimm und reagieren übertrieben mitleidig, oder sie wechseln das Thema. Oder sie sagen: „Ach ja, mein Opa ist auch an Krebs gestorben.“ Vielen Dank. Sehr anstrengend ist es auch, wenn man mir sagt, ich sollte positiv denken und optimistisch sein. Wut und Trauer gehören aber auch dazu. Ich brauche keine guten Ratschläge, wenn ich gerade Panik schiebe, ich will nur, dass es okay ist, dass ich gerade Angst habe. Das ist schwierig zu vermitteln.

Manche meinen auch, wenn du dich nicht gesund ernährst oder nicht ausgeglichen bist, bist du selbst schuld, wenn du Krebs kriegst. Ein Freund von mir ist Erzieher im Waldorfkindergarten, mit dem hatte ich schon hitzige Debatten, weil die anthroposophische Medizin davon ausgeht, dass dein Körper dir mit Krankheiten etwas sagen will. Ich denke, es ist Zufall, dass ich mit 29 Jahren Krebs bekommen habe. Mit was sollte ich das verdient haben? Das Vertrauen in die Schulmedizin, in Wissenschaft generell, scheint mir, wird immer weniger. Immer mehr Freunde sagen mir, sie würden auf keinen Fall eine Chemotherapie und Bestrahlung machen. Wenn ich so etwas höre, kriege ich Schnappatmung. Wenn du Krebst hast, willst du doch alles tun, um dich zu retten, selbst mit aggressiven Methoden. Krebs ist auch aggressiv.

Was geblieben ist, obwohl es mir heute wieder gut geht: Meine Todesangst. Die ist da und begleitet mich, jeden Tag. Auch wenn meine Prognosen gut sind. Wenn ich Leuten davon erzähle, kommt als Antwort gerne: „Ja, aber ich könnte morgen auch von einem Bus überfahren werden.“ Dann denke ich, das stimmt, aber es ist nicht dasselbe. Das kann man aber nicht vermitteln, man merkt es erst, wenn man selbst die Worte aus dem Mund der Ärztin hört und sich schlagartig alles ändert.

Es ist, wie wenn ein kalter, großer, nasser Wal sich auf dich legt und du überlebst nur, weil du mitschwimmst. Seit diesem Tag im Zimmer der Chefärztin damals schwimmt er mit mir. Aber das ist okay. Ich habe ein wunderbares Leben, auch ohne Kind. Mein neuer Freund hat eine Tochter, die ganz toll ist, und viele meiner Freunde haben Kinder. Da fehlt mir nichts, ich muss keine Lücke oder Sehnsucht erfüllen.

Ich verschiebe nichts mehr

Leider ist Brustkrebs eine Krebsart, die immer wiederkommen kann. Ich bin also keine Überlebende – sondern eine Mitlebende. Auch wenn ich keinen Tumor und keine Metastasen mehr habe. Das wird bis zum Ende meines Lebens so sein. Das weiß auch mein Freund. Ich habe ihm gesagt, der Krebs kann wiederkommen und dann bin ich vielleicht nicht mehr da. Er hat gesagt: „Jetzt lebst du aber, gehen wir also vom Jetzt aus.“

Das tue ich, meistens. Und teilweise finde ich sogar gut, dass mir der Krebs passiert ist. Weil mich die Krankheit sehr hat wachsen lassen. Ich bin deutlich entspannter mit vielen Situationen als noch vor sechs Jahren und rege mich weniger auf. Mir geht es jetzt gut, dass ist das Wichtigste. Ich muss nicht alles planen und 180 Stunden die Woche arbeiten und dies oder jenes besitzen. Ich habe sehr viel Ruhe gewonnen. Abgesehen von jenen Panikmomenten, in denen ich auf einmal denke, vielleicht sterbe ich nächstes Jahr. Aber genau deswegen verschiebe ich nichts mehr. Zum Beispiel bin ich letztes Jahr einfach nach Tel Aviv geflogen, was ich schon lange wollte. So frei wie jetzt war ich vorher, ohne Krebs, nicht.


In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de


Redaktion: Esther Göbel; Bildredaktion: Martin Gommel; Produktion: Vera Fröhlich.