Mit dem Abfall kamen die Konflikte. Müllbeutel, die einfach auf die Straße gestellt wurden. Und es war laut. Plötzlich trafen zwei Welten aufeinander: die Einwohner von Bonn Bad Godesberg und die Patienten aus dem Ausland. Lösungen waren gefragt.
„Die Anwohner haben sich natürlich zu Recht geärgert“, sagt Joachim Engel, wenn er so zurückblickt. Engel will das ändern. Er gründete im Mai 2015 den Verein „Welcome Center Bad Godesberg“, um eine Brücke zu bauen zwischen den Menschen in der Stadt und den Medizintouristen, die von überall aus der Welt ins Rheinland kommen. Denn viele wissen nicht, wer diese Ausländer sind, die in ihre Stadt kommen. Menschen, die sich einfach mal durchchecken lassen möchte, die ein künstliches Kniegelenk brauchen oder todkrank sind und sich in Deutschland eine heilende Therapie erhoffen. Und dann kommt es zu Konflikten. Nicht nur in Bonn Bad Godesberg, sondern auch in anderen Teilen Deutschlands.
Vor einigen Wochen meldete sich eine unserer Leserinnen bei uns. Sie beklagte, dass viele Menschen in ihrer Heimat Heidelberg schlecht über die Medizintouristen in der Stadt reden. Heidelberg ist eine der beliebtesten Adressen für ausländische Patienten und verkörpert für Menschen auf der ganzen Welt die medizinische Qualität der Deutschen. Für die Stadt mit ihren knapp 150.000 Einwohnern ist das ein enormer wirtschaftlicher Motor.
2015 wurden ungefähr 3.500 ausländische Patienten in Heidelberg behandelt. Und es werden noch mehr werden: Die Heidelberg Marketing GmbH hat zusammen mit der Universitätsklinik und den Hotels vor Ort sogar ein Programm ins Leben gerufen, um möglichst viele Medizintouristen in die Stadt zu holen. Das ist nicht unproblematisch. Viele Leute in der Stadt konnten offensichtlich nichts mit dem Thema anfangen und verwechselten die Patienten mit Flüchtlingen. Es braucht eine differenzierte Sichtweise.
Ein lukratives Geschäft für alle
Medizintourismus ist eine wachsende Branche, das Geschäft mit den Patienten aus dem Ausland läuft gut. 2014 ließen sich 251.000 Menschen aus 176 Ländern in deutschen Krankenhäusern behandeln, haben Wissenschaftler an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg herausgefunden, die sich seit Jahren mit dem Phänomen beschäftigen. Für die Krankenhäuser bedeutet das über 1,2 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen.
Doch wer holt diese Menschen nach Deutschland? Es sind Leute wie Mikhail Khaitine. Um das Geschäft mit den Patienten zu verstehen, muss man ihm einen Besuch abstatten.
Ein Bürogebäude in der Kölner Innenstadt. Von außen unscheinbar, von innen langweilig, doch von hier aus steuert Khaitine einen Teil des Medizintourismus in Deutschland – und zwar sehr erfolgreich. Seine 2008 gegründete Firma MedCologne ist einer der wichtigen Player in dem Geschäft. Über Zahlen redet der ehemalige Offizier der lettischen Marine allerdings nicht gerne. Erst recht nicht, wenn es um seine Zahlen geht. Wie viele Menschen pro Jahr zu ihm kommen und ihn um Hilfe bitten? „Die Frage lasse ich aus“, sagt er. Es seien aber schon über 100 „Klienten“ pro Jahr. „Klienten“, das klingt so kühl, so distanziert, so nach Geschäft.
Und das ist es: Ein riesiges Geschäft. Vor allem russische Patienten wenden sich an ihn und kommen nach Deutschland, um sich behandeln oder durchchecken zu lassen. Und sie bringen neben dem Wunsch nach einer ordentlichen Untersuchung noch andere Wünsche mit: Shoppingtour, Bootsfahrt und Fünf-Sterne-Hotel? Standard! Ein persönlicher Chauffeur? Das geringste Problem! Die Landeerlaubnis für den Privatjet auf dem Flughafen Köln? Keine große Sache! Können sich also nur die Superreichen eine Behandlung leisten? Khaitine winkt ab: „Das ist ein Vorurteil. Zu mir kommen nicht nur Oligarchen, sondern auch die Mittelschicht.“
Tatsächlich scheint das Angebot in Deutschland besonders für Patienten aus Russland attraktiv zu sein: 24.800 Russen reisten 2014 zur Behandlung an, hat die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg ermittelt, fast 10.000 von ihnen stationär. In einem von der Europäischen Union und dem Land Nordrhein-Westfalen geförderten Projekt wird das Rheinland den internationalen Besuchern als „Health Destination Rhineland“ angepriesen. Fast ein Fünftel aller Medizintouristen entscheiden sich für eine Klinik in NRW. Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, hier zieht es die meisten ausländischen Patienten hin.
Der Ablauf ist immer gleich: Zunächst finden die Patienten einen Dienstleister, wie MedCologne – zum Beispiel über das Internet oder über einen behandelnden Arzt. Dann wird die bisherige Krankengeschichte elektronisch nach Deutschland zu Mikhail Khaitine übermittelt. Der sucht wiederum einen passenden Arzt und übergibt diesem die Akte zur Begutachtung. Auf Grundlage dessen wird dann ein Kostenvoranschlag erstellt, also ein pauschaler Preis für die Reise, die Behandlung und das gesamte Programm drum herum.
Wer jetzt denkt, der Großteil des Geldes lande bei der Klinik, der irrt. „Bei uns und dem Krankenhaus bleibt im Schnitt weniger als die Hälfte der Einnahmen“, sagt Khaitine. Der Großteil gehe in das Tagesprogramm, das er und sein Team neben der medizinischen Behandlung ausarbeiten: die Shoppingtour, der Ausflug nach Belgien oder die Bootsfahrt – ein lukratives Geschäft für alle Seiten. Doch davon will Khaitine nichts wissen. „Ich hasse den Ausdruck ‘lukrativ’“, sagt er.
Die Einnahmen, die durch seine Vermittlungen in die deutschen Kliniken fließen, seien „außerbudgetäre Einnahmen“. Sie kommen auf die ursprüngliche Kalkulation noch oben drauf. 10.000 Euro sind das im Schnitt pro Patient, sagt Khaitine. Bei Krebsbehandlungen natürlich mehr, aber diese Summe könne man als Richtlinie nehmen. „Wenn ich in einer Klinik 20 Patienten pro Jahr unterbringe, dann sind das ungefähr 200.000 Euro, da können sie einige Krankenschwestern von bezahlen.” Von „lukrativ“ könne jedenfalls keine Rede sein – denn erst durch die Touristen würden längst überfällige Anschaffungen möglich werden: „Das neue Ultraschallgerät, das sich eine Klinik dann kaufen kann – davon profitieren doch auch die deutschen Patienten.“
Für Khaitine ist völlig klar, warum Menschen aus der ganzen Welt nach Deutschland kommen, um sich hier untersuchen zu lassen. „Selbst die Zarenfamilie ließ sich von einem deutschen Arzt behandeln“, sagt er. Menschen auf der ganzen Welt seien bis heute beeindruckt von der medizinischen Qualität in Deutschland.
Und doch gibt es Probleme, wenn die Auswirkungen der Boom-Branche das Leben der Menschen berühren. Doch was sind die Ängste, wenn doch am Ende alle profitieren? Die Medizintouristen durch die Versorgung hier vor Ort und die deutschen Patienten von dem neuen Ultraschall-Gerät. Wieso tauchen Konflikte auf? Ist es vielleicht die Angst davor, dass man selbst nicht mehr ausreichend behandelt wird, weil zu viele Patienten nach Deutschland kommen?
Die Universitätsklinik Köln gibt in diesem Punkt Entwarnung. Im vergangenen Jahr lag der Anteil der ausländischen Patienten hier bei nur 0,7 Prozent, weil die Klinik sowieso zu 92 Prozent ausgelastet war. Die durchschnittliche Auslastung der deutschen Krankenhäuser liegt hingegen bei 77 Prozent – es gibt also Kapazitäten, ohne dass woanders Abstriche gemacht werden müssten. Doch was ist es dann?
Angst um den Wohnraum
Als im letzten Jahr bekannt wurde, dass in Heidelberg erstmals ein ganzes Wohnhaus umfunktioniert werden sollte, um unter anderen Medizintouristen einen längeren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, da protestierten die Anwohner gegen dieses Vorhaben. Die Wohnungen werden möbliert für die Zeit der Behandlung vermietet. In Städten, in denen bezahlbarer Wohnraum knapp ist, scheint dies nicht die beste Idee zu sein, um eine positive Stimmung zu erzeugen.
Die Stadt Heidelberg aber widerspricht. Ihr sei nicht bekannt, dass der Wohnraum in der Stadt in größerem Umfang für die ausländischen Patienten genutzt werde. Man wolle sich aber auch davor schützen, dass es erst so weit komme. Aus diesem Grund habe der Gemeinderat eine Satzung zum Zweckentfremdungsverbot auf den Weg gebracht – wann sie in Kraft tritt, kann die Stadt noch nicht sagen. Ganz unbekannt scheint das Problem also nicht zu sein.
Auch in anderen Städten gibt es Befürchtungen, der Mietmarkt könnte leiden. München, Tegernsee, Heidelberg, die Ängste sind da. Und hier liegt auch ein Kern der Problematik: Das Geschäft mit den Patienten bringt Geld in die Stadt, er hilft den Krankenhäusern, den Hotels und natürlich auch den Angestellten in den Einrichtungen. Gleichzeitig muss aber auch darauf geachtet werden, dass es nicht für Wohnungsnotstände verantwortlich ist.
Joachim Engel, Vorsitzender des „Welcome Center Bad Godesberg“, ist das Problem mit den Wohnungen nicht bekannt. Momentan werde ein Boardinghaus gebaut, in dem Medizintouristen wohnen können. So werde der Wohnungsmarkt nicht weiter belastet, meint Engel, sondern Wohnraum geschaffen. Ist das die Lösung? Tauchen dann nicht andere Probleme auf, wie vor einem Jahr der achtlos vor die Tür gestellte Abfall und die Beschwerden über Lärm?
„Die Leute unterscheiden nicht zwischen Medizintourist und Salafist“
Was, wenn die Menschen nicht merken, dass ihnen der Medizintourismus etwas bringt? Kann die Stimmung dann nicht schnell kippen? Muss den Menschen nicht verdeutlicht werden, dass diese Menschen eine Bereicherung für die Region sind? In Bonn Bad Godesberg wurde deutlich, dass es rassistische Vorurteile gibt.
Joachim Engel meint, viele Menschen in der Stadt hätten ein Problem damit, verschiedene Dinge auseinander zu halten. „Wir haben ein Problem mit Jugendgewalt in Godesberg“, sagt er und spielt auf den tödlichen Angriff auf einen 17-jährigen Anfang Mai an. „Und wir haben ein Problem mit Salafismus in der Stadt.”
Den Menschen falle es schwer, zwischen Salafisten und Touristen zu unterscheiden. Und genau deswegen will Engels Verein aufklären, das „Welcome Center“ vermittelt zwischen den Parteien. Im vergangenen Jahr eröffnete er ein Büro in der Stadt, hier konnten Bürger und Medizintouristen sich Hilfe holen, wenn sie Fragen und Sorgen hatten. Doch schon jetzt ist dieses Büro wieder geschlossen worden. Es hatte nur selten geöffnet, der Erfolg des Projekts ist in der Stadt umstritten. Unsere Leserin Eva Bäuerlein machte uns darauf aufmerksam, dass die Probleme noch immer bestehen. Nun, da es kein Büro mehr gibt, ist eine Hotline geplant.
„Godesberg profitiert doch von diesen Menschen“, sagt Engel, der selbst nicht in dem Bereich tätig ist. Er ist Trainer für interkulturelle Kommunikation, unabhängig von der Medizinbranche. Es sei schwierig, den Menschen zu vermitteln, dass die Vorteile überwiegen. Etwa, dass die Medizintouristen für ein höheres Steueraufkommen sorgen.
Deshalb bleibt ihnen nur die Aufklärung, auch wenn dies manchmal schwierig ist und viel Zeit in Anspruch nimmt. Als damals in Bonn Bad Godesberg einfach Müllbeutel auf die Straße gestellt wurden, da wurden die Probleme sichtbar. Bei einer Veranstaltung zu dem Problem kamen ungefähr 30 Leute, das Interesse war groß. Rückblickend erinnert Engel sich, dass er den Eindruck hatte, dass einige Zuhörer viele Vorurteile mitbrachten. „Die Leute sind voreingenommen“, sagt er. „Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.“
Foto: Sabine Rütten. Redaktion: Alex von Streit; Produktion: Susan Mücke.