Es passiert nicht oft in der Wissenschaft, dass über eine Entdeckung so kollektiv gejubelt wird, wie es bei Crispr/Cas (ausgesprochen: Krisper-Kas) der Fall ist. Seit die „molekulare Genschere“ von zwei Forscherinnen 2012 zum ersten Mal zum Genom Editing eingesetzt wurde, also zur künstlichen Veränderung von Genen durch Menschenhand, stehen die Biowissenschaften Kopf.
Man muss sich Crispr/Cas vorstellen wie ein sehr präzises Skalpell, das gezielt an gewünschten Stellen im Genom ansetzen und diese somit verändern kann. Zum Beispiel, indem es Fehler im Genom „herausschneidet“. Eigentlich stammt Crispr/Cas aus dem Bakterium Streptococcus pyogenes, dort dient es der Selbstverteidigung. Wissenschaftler benutzen das Tool jetzt jedoch, um Genome zielsicher nach eigenen Wünschen zu verändern. Das war ihnen zwar auch schon vor dem Einsatz mit Crispr/Cas möglich, aber in einem viel eingeschränkteren Maße. Das neue Werkzug ist einfacher in der Handhabe, arbeitet gleichzeitig billiger und präziser. Deswegen ist Crispr/Cas für die Biowissenschaften so wichtig – und so gefährlich.
Herr Henn, Sie arbeiten in einer humangenetischen Beratungsstelle. Was genau machen Sie da?
Zu uns können Patienten kommen, die entweder selbst genetisch vorbelastet sind oder die Vorbelastungen aus der Familie mitbringen. Hauptthemen sind erbliche Krebsneigungen, zum Beispiel Darmkrebs, oder erbliche neurodegenerative Erkrankungen wie etwa Huntington, bei der die Patienten erst im Erwachsenenalter erkranken und deren Endstadium Demenz heißt. Wir versuchen bei uns in der Sprechstunde, mit den Patienten zu erörtern, wo die Ursachen ihrer Probleme liegen und schauen außerdem, wer in der Familie ebenfalls Risiken haben könnte, um möglicherweise Voraussagen zu treffen oder Empfehlungen für die Vorsorge und Behandlung zu geben.
Wird sich Ihr Job bald selbst abschaffen? Weil man schon übermorgen dank der neuen „Gen-Schere“ Crispr/Cas keine genetische Beratung mehr braucht – und stattdessen gleich an Embryonen fragwürdige Gene herausschneidet?
Nein, mein Job wird sich sicher nicht abschaffen. Nie. Es entstehen immer wieder neue Krankheiten durch genetische Mutationen. Jeder Mensch trägt ohnehin statistisch zwei bis drei überdeckter Erbanlagen in sich, die bei Nachkommen zu Krankheiten führen können. Das wird sich nie abschaffen lassen, egal, welche molekularen Werkzeuge zur genetischen Modifikation zur Verfügung stehen. Darüber hinaus: Von der Keimbahntherapie sind wir sehr, sehr weit entfernt.
Was ist eine „Keimbahntherapie“?
Die Zellfolge von einer befruchteten Eizelle bis hin zu den Keimzellen des neuen Individuums nennen Biologen Keimbahn. Wenn ich dort einen Eingriff vornehme, bedeutet das eine Veränderung von Stammzellen oder von unmittelbar befruchtungsfähigen Zellen der weiblichen oder männlichen Keimdrüsen. Diese Veränderungen betreffen dann nicht nur den jeweiligen Patienten, sondern werden in die nächste Generation vererbt. Eine Wunschvorstellung besteht darin, an dieser Stelle Erbkrankheiten aus der Familie herauszuholen – und somit auch die nächsten Generationen davon zu befreien.
Aber das klingt doch super!
Nur eingeschränkt: Ein Restrisiko bleibt immer. Und wenn das zuschlägt, ist eben nicht nur der oder die Kranke betroffen, sondern auch – wenn wir an den befruchteten Eizellen oder Embryonen ansetzen würden – alle nachfolgenden Generationen. Das ist ein großes ethisches Problem. Inwiefern es gerechtfertigt sein kann, einen noch nicht geborenen oder sogar einen noch nicht gezeugten Menschen einer Veränderung zu unterziehen, die auf solche Weise in ein Leben eingreifen würde, ist eine sehr schwierige Frage. Deswegen könnten künftige Therapien mit Crispr/Cas an embryonalen Zellen nur dann verantwortbar sein, wenn klar wäre, dass man mit dem Teufel nicht den Belzebub austreibt. Also dass durch einen Eingriff mit Crispr/Cas keine neuen, ungewünschten Mutationen an anderen Stellen entstehen würden. Bis das klar ist, muss man eine ganze Menge Grundlagenforschung betreiben, auch Tierversuche beispielsweise.
In Laboren rund um den Globus wird auf unterschiedliche Weise mit Crispr/Cas experimentiert. Wenn Sie in Ihrem stillen Kämmerlein sitzen und über dieses neue Werkzeug sinnieren, kriegen Sie dann Angst, weil große Chancen in diesem Fall auch große Risiken bedeuten?
Nö.
Nö? Wirklich nicht?
Nein. Weil ich darauf vertraue, dass wir verschiedene Schutzsysteme haben: Zunächst das Gewissen der Forscher selbst, die sind ja auch Menschen, das wird von der Öffentlichkeit gerne vergessen. Dazu haben wir die beratenden Gremien wie den Deutschen Ethikrat beispielsweise. Und natürlich die Gesetzgebung, die dort, wo das Gewissen sich möglicherweise ausschaltet, normative Probleme klärt. So haben wir ein Spielfeld abgesteckt, auf dem man verantwortungsvoll Wissenschaft betreiben kann. Denn ganz auf Forschung zu verzichten, ist ebenfalls verantwortungslos. Es gibt ja auch eine ethische Pflicht zum Fortschritt.
Die Hoffnungen rund um Crispr/Cas reichen von der Abschaffung der Malaria bis hin zur Heilung schwerwiegender Erbkrankheiten. Hehre Ziele – aber auch realistische?
Diese Hoffnungen sind nicht realistisch, vor allem nicht auf schnelle Heilungen für alle möglichen Leiden. Und die monogenen Krankheiten, also die, die nur auf einem einzigen Gendefekt beruhen, sind im Vergleich zu den Volksleiden wie Herzinfarkt oder Krebs selten. Was für die nächsten Jahre am ehesten vorstellbar ist für Crispr/Cas, dürften somatische Therapien sein. Also Behandlungen, bei denen Körperzellen genetisch „korrigiert“ und dem Kranken später wieder zugeführt werden. Zum Beispiel war es bis vor Kurzem so, dass wir jungen Patienten mit der Diagnose Huntington eigentlich sagten mussten: „Tut uns leid, aber gegen das bevorstehende Eintreten der Krankheit ist wohl nichts zu machen.“
Sie waren mehr oder weniger hilflos?
Wir waren vollkommen hilflos. Wir konnten nicht zu einem Patienten sagen: „Wir haben jetzt eine Diagnose, also machen wir jetzt diese oder jene Therapie.“ Diese Lücke wird durch Crispr/Cas kleiner werden, wenn auch nicht ganz verschwinden. Aber ich hoffe, dass sich im Maßstab von zehn bis zwanzig Jahren zum Beispiel für einen Menschen mit der Huntington-Anlage ein Crispr/Cas-Verfahren oder ein noch besseres entwickeln lässt, mit dem wir aus dem Huntington-Gen genau die molekularen Strukturen herausschneiden können, die diese Krankheit verursachen. Aber eine Hoffnung ist noch kein Versprechen.
Sie sagten zu Beginn unseres Gesprächs, wir seien noch sehr weit entfernt von Eingriffen in die Keimbahn – aber anderenorts sind diese Eingriffe schon Realität: In China haben Forscher im vergangenen Jahr mit Crispr/Cas an nicht lebensfähigen Embryonen experimentiert. Ist das fahrlässig?
Das ist von der rein naturwissenschaftlichen Ebene aus betrachtet sicher eine logische Art von Untersuchung. Aber nicht alles, was logisch ist, ist auch vertretbar. Wir haben im westlichen Wissenschaftsraum im Groben ein Übereinkommen darüber, dass Eingriffe an überlebensfähigen Embryonen auf keinen Fall vorgenommen werden dürfen. Inwieweit Eingriffe an nicht überlebensfähigen Embryonen auf reiner Forschungsebene erfolgen dürfen, darüber ist man sich auch im Westen nicht so ganz einig. In Deutschland ist die Haltung diesbezüglich sehr zurückhaltend.
Deutschland hat tatsächlich ein sehr striktes Embryonenschutzgesetz, das nur in Ausnahmefällen einen Eingriff zulässt.
Das entspricht unserer Wissenschaftskultur. Aber ganz unproblematisch ist diese Haltung sicherlich nicht. Weil man sich damit als deutscher Wissenschaftler dem Vorwurf aussetzt, man profitiere sozusagen als Trittbrettfahrer von der Forschung anderer Länder, ohne selbst das heiße Eisen in die Hand zu nehmen. Aber diesen Vorwurf müssen wir in Deutschland dann eben aushalten.
Können wir es uns leisten, an der restriktiven Form des Gesetzes festzuhalten, auch im Hinblick auf die möglichen Chancen, die Crispr/Cas bietet? Sie haben ja selbst die ethische Pflicht zum Fortschritt angesprochen.
Das Embryonenschutzgesetz ist sicherlich eines, an das man sich schon auf politischer Ebene am wenigsten herantraut. Eben weil es eine ethisch so schwierige Thematik umfasst. Die Grundlinien des Embryonenschutzes stehen mit dem jetzigen Gesetz. Und auch, wenn es streng ist: Gewisse Spielräume sind darin ja gegeben. Die sind zwar gewiss kleiner als in anderen Ländern, aber im Moment, so denke ich, gibt es in Deutschland weder von politischer noch von wissenschaftlicher Seite das Bestreben, das Gesetz zu ändern. Wenn in ein paar Jahrzehnten validierte Methoden auf dem Tisch liegen zu Crispr/Cas, die auch Risiken für Nachfolgegenerationen ausschließen, muss man neu verhandeln.
Aber wie wollen Sie diese validierten Methoden denn kriegen und das Risiko minimieren, wenn Sie die Forschung durch das Gesetz in Deutschland stark eingrenzen?
Das ist ein Problem, das wir letztlich nicht sauber lösen können, das will ich einräumen. Was man in unserem Land tun kann, ist Forschung in biologischen Systemen, die dem menschlichen sehr nahe sind. Zum Beispiel an Mäuseembryonen, wobei wir dann wieder in den Bereich der ethischen Tierschutzproblematik hinein geraten. In gewissem Maße werden wir schon darauf schauen müssen, welche Forschung in anderen Ländern betrieben wird, die bei uns verboten ist.
Was bedeutet das für den Forschungsstandort Deutschland? Suggeriert man jungen Forschern mit dieser Haltung nicht, dass sie ins Ausland abwandern müssen, wenn sie moderne Grundlagenforschung betreiben wollen im Bereich der Humangenetik?
Das Argument kommt natürlich sehr schnell, aber wir müssen hier ganz klar eine Güterabwägung treffen. Jungen Wissenschaftlern, die spezifisch an humanen Embryonen forschen wollen, steht es ja frei, das in den Ländern zu tun, die eine solche Forschung gesetzlich ermöglichen. Allein mit dem von Ihnen genannten Argument eine politische Änderung zu begründen, halte ich für falsch. Wer bei uns Forschung mit Crispr/Cas machen will, der kann das an Pflanzen tun oder an Säuger-Embryonen. Also auch in Deutschland hat man als junger Wissenschaftler noch ein breites Arbeitsfeld.
Kommen wir noch einmal zum ethischen Dilemma zurück: Ist es wichtiger, einen wenige Tage alten Zellhaufen zu schützen, von dem ich noch nicht mal weiß, ob er sich zu einem lebensfähigen Embryo entwickeln wird – oder an einem solchen Zellhaufen zu forschen, um schwere Erbkrankheiten womöglich heilen zu können?
Das ist eine Grundsatzdiskussion, die wir auch schon vor Crispr/Cas in der Embryonenforschung hatten, wobei es da bei verschiedenen Forschungskulturen unterschiedliche Grundkonzepte gibt. Im angloamerikanischen Raum wird mehr utilitaristisch gedacht, also mit der Grundüberlegung: „Wenn man vielen nutzen kann, kann man wenige auch dafür opfern.“ In Deutschland und den Nachbarländern sind wir stark von Kant und den christlichen Kirchenlehren geprägt, die das Individuum in den Vordergrund stellen. Die Grundüberlegung besteht also darin: „Das Verbrauchen auch einzelner Embryonen ist nicht vertretbar, selbst wenn die Forschung am Ende vielen nutzen könnte.“
Streiten Sie über dieses Dilemma häufig im Ethikrat oder haben Sie einen gemeinsamen Tenor in eine Richtung?
In der Grundlinie sind wir uns einig, stehen aber noch am Anfang der Diskussion. Wir haben einen Konsens darüber, dass Manipulationen an überlebensfähigen Embryonen außerhalb des Vertretbaren liegen; weiter will ich der Meinungsbildung im Ethikrat nicht vorgreifen.
Forscher in anderen Ländern dürften nicht unbedingt dieselbe Meinung haben, wie das Beispiel China zeigt – wie weit sind wir wirklich noch vom optimierten „Designer-Baby“ entfernt?
Sowohl ethisch als auch naturwissenschaftlich sind wir auf absehbare Zeit noch sehr weit davon weg. Dies schon weil die interessanten Persönlichkeits- oder Körpereigenschaften, die einen Forscher dazu bringen könnten, ein „designtes“ Baby zu konstruieren, also zum Beispiel Intelligenz, Sportlichkeit oder Musikalität, multifaktiorell angelegt sind. Das heißt: Hier spielt eine Vielzahl von größtenteils noch gar nicht bekannten Genen einen Rolle, plus äußere Einflüsse vor und nach der Geburt. Selbst noch so elegante Eingriffe an Genen wären zu grob, um gezielt einen besonders intelligenten Menschen zu erzeugen. Das wird wohl niemals möglich sein, und das ist gut so.
Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter.