Carsten sieht nicht aus wie jemand, der krank ist. Oder wie einer, der die Dinge nicht im Griff hat. Er ernährt sich gesund, verbringt viel Zeit im Fitness-Studio. Die definierten Muskeln machen seinen Körper drahtig, den Bizeps straff. Carsten legt viel Wert auf sein Äußeres. Niemand würde bei seinem Anblick auf die Idee kommen, dass er HIV-positiv ist.
Lange Zeit glaubte der Mitte-30-Jährige selbst nicht, dass er es werden könnte. Obwohl Carsten eine offene Beziehung führte, gerne Sex mit wechselnden Sexualpartnern hatte. Mal mit seinem Freund Frank gemeinsam, mal ohne ihn. So oft es ging, suchte Carsten den kontrollierten Absturz – mal aufgeputscht und berauscht von Drogen, mal nüchtern. Jedoch meist, ohne dabei Kondome zu benutzen. Wenn ohne, dann allerdings mit HIV-positiven Sexualpartnern, deren Viruslast durch eine Medikamententherapie unter der Nachweisgrenze lag, ab der eine HIV-Infektion für eine andere Person gefährlich wird. Ist sicherer, dachte Carsten, als mit jemandem Sex zu haben, der behauptet, er sei negativ und vielleicht gar nicht weiß, dass er schon positiv ist.
Carsten vertraute – auf das Wort seiner Partybekanntschaften. Und auf seine eigene Einschätzung. Trotzdem: Das Risiko einer Ansteckung war bei jeder Party mit dabei. Denn ob all die Männer, die er nachts in irgendwelchen Wohnungen zum Sex traf, ihm wirklich die Wahrheit gesagt hatten über die Anzahl der HI-Viren in ihren Körpern, konnte Carsten nicht nachprüfen.
War es also nur eine Frage der Zeit, bis er sich irgendwann anstecken würde?
Eine HIV-Diagnose ist in Deutschland schon lange kein Todesurteil mehr
Nicht zwingend. Wer im Jahr 2016 in Deutschland erfährt, dass er HIV-positiv ist, kann davon ausgehen, dennoch ein langes, erfülltes und weitestgehend uneingeschränktes Leben führen zu können. HIV führt längst nicht mehr zwangsläufig zu Aids oder gar zum Tod, auch nicht zwingend zur Ansteckung einer anderen Person, trotz ungeschützten Geschlechtsverkehrs. Sofort nach der Diagnose erhalten Patienten einen hochwirksamen Medikamentencocktail, der auf jeden Fall drei antiretrovirale Wirkstoffe enthält, die das Virus in verschiedenen Entwicklungsstadien angreifen und blockieren.Bei regelmäßiger Einnahme unter ärztlicher Aufsicht lässt ich die Viruslast so unter die Nachweisgrenze drücken.
Würde Carsten in den USA leben, stünde ihm außerdem eine besondere Form des Schutzes zur Verfügung: Dort verschreiben Ärzte Menschen mit erhöhtem HIV-Risiko ein Medikament namens Truvada, kleine blaue Pillen, die eine Ansteckung mit HIV verhindern können. In Europa ist diese Form der Prophylaxe allerdings in breitem Maßstab bislang nicht möglich. Hierzulande wird Truvada nur als Teil einer Medikamenten-Therapie eingesetzt, um die Virus-Last bei bereits Infizierten möglichst niedrig zu halten. Unter Ärzten gilt das Medikament als zuverlässig; auch deswegen ist Truvada momentan das am häufigsten verschriebene HIV-Medikament in der EU. Viele Patienten schätzen das Produkt, weil es gut verträglich ist und es nur in Einzelfällen zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommt.
Wer will, kann Carstens Fall deswegen als bittere Ironie lesen: Heute muss er die Tablette als Teil seines täglichen Medikamentencocktails schlucken, um seine Viruslast zu drücken – dabei hätte Truvada ihn vor einer HIV-Infektion schützen können; einige Studien bestätigen dem Medikament bei regelmäßiger Einnahme eine Schutzrate von bis zu 99 Prozent. Offizielle Stellen empfehlen diese Form der sogenannten Präexpositionsprophylaxe, kurz Prep, für Risikopatienten wie Carsten. So auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO): Im Juli 2014 appellierte sie an Regierungen weltweit, jedem Menschen mit erhöhtem HIV-Risiko eine Prep zukommen zu lassen. Auch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (dagnä) fordert, die Methode Risikopatienten in Deutschland zur Verfügung zu stellen.
Bei der Behandlung von HIV hilft ein Medikament, das auch bei der Vorsorge sehr effektiv ist
Neu ist Truvada nicht, wenngleich von der Öffentlichkeit hierzulande kaum wahrgenommen. Bereits seit 2012 steht das Medikament in den USA zu Vorsorgezwecken zur Verfügung – dabei wird es schon viel länger, nämlich seit 2004, zur Therapie eingesetzt. Würden nur 20 bis 25 Prozent der Männer, die Sex mit anderen Männern haben, ein Prep-Medikament nehmen, gäbe es innerhalb der nächsten zehn Jahre eine Million weniger Neuinfizierte in dieser Gruppe, so die Prognose der WHO. Die Vorsorgemethode erscheint aber auch für all jene sinnvoll, für die Kondome keinen ausreichenden Schutz darstellen. Etwa für Frauen in Regionen der Welt, die nicht über ihre eigene Sexualität bestimmen können. Oder für Drogensüchtige, die sich Rauschmittel durch Nadeln injizieren und sich auf diese Weise mit HIV infizieren.
In Deutschland etwa, so schätzt das Robert-Koch-Institut, haben sich allein im Jahr 2014 mindestens 3.525 Menschen neu mit HIV infiziert. Der überwiegende Teil davon ist auf Geschlechtsverkehr unter Männern zurückzuführen. Die Zahl der Neuinfektionen ist im Vergleich zu anderen Ländern zwar niedrig, aber sie steigt seit einigen Jahren an. Das zeigt: Eine intensive Aufklärung und die Kampagne „Kondome schützen – gib AIDS keine Chance!“, deren Plakate in jedem U-Bahnhof der Republik kleben, erreichen längst nicht jeden.
Auch deshalb ist es bemerkenswert, dass Truvada hierzulande bislang nicht zur Vorsorge zugelassen wurde. In der Regel geben europäische Gesundheitsbehörden neue HIV-Medikamente nach wenigen Monaten Verzögerung auch in Spanien, Österreich, Deutschland oder anderen EU-Staaten frei, wenn die US-Gesundheitsbehörde FDA dies bereits getan hat. Innerhalb der EU ist Prep derzeit allerdings nur in Frankreich aufgrund einer Ausnahmeregelung erhältlich. Dies könnte sich allerdings bald ändern, denn der Pharmakonzern Gilead hat eine Zulassung von Truvada als Prep bei der Europäischen Arzneimittelagentur beantragt (EMA). Ein Prüfungsverfahren läuft derzeit.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen dafür - aber die Pille wird nicht als Vorsorgemedikament zugelassen
Der Berliner Infektiologe Heiko Jessen ist davon überzeugt, dass Prep bald auch in Deutschland verschrieben werden kann, weil sowohl die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse eindeutig für Trudava als Prep sprechen als auch die guten Erfahrungen in US-amerikanischen Großstädten. „In den USA spielt die Public Health, die öffentliche Gesundheit, eine sehr große Rolle. Wenn erkannt wird, dass es eine Notwendigkeit für eine Aktion gibt, dann wird politisch relativ schnell entschieden, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen“, sagt er. „Das ist hier nicht so.“
Einige Male hat Jessen bereits Rezepte für eine Prep ausgestellt. Allerdings mussten seine Patienten dafür eine mehrseitige Erklärung unterschreiben, die Jessen vorab von seinem Anwalt anfertigen ließ und mit der die Patienten ihn von jeglicher Haftung entbanden. Ein Konstrukt, das auch andere seiner Kollegen gewählt haben, das Jessen allerdings nicht glücklich macht. Wäre Prep in Deutschland zugelassen, würde sich das überaus positiv auf die Zahl der Neuinfektionen auswirken, glaubt Jessen. Allerdings nur dann, wenn die Kosten von den Krankenkassen übernommen würden oder Risikogruppen über Hilfsorganisationen zu günstigen Konditionen Zugriff auf die Tabletten bekämen, so wie es in den USA gehandhabt wird.
Eine flächendeckende Einführung von Truvada als Prep würde jedoch enorme Kosten für die Krankenkassen bedeuten – zunächst zumindest. Denn eine lebenslang nötige HIV-Therapie ist prinzipiell viel teurer als eine Prep. So auch bei Carsten: Für seine Medikamente bezahlt seine Krankenkasse jetzt mehr als 2.000 Euro im Monat. Hätte Carsten allerdings Truvada als Schutz vor einer Infektion regelmäßig eingenommen, hätte das pro Monatspackung 820 Euro gekostet.
Ende nächsten Jahres könnte der Preis für Truvada zwar deutlich fallen, da einige Patente an dem Medikament auslaufen werden. Aber auch dann müssten die Krankenkassen die Kosten tragen, findet Jessen. „Selbst wenn die Prep nur 300 oder 400 Euro pro Monate kosten sollte, wird sich das keiner leisten können.“
Dass die deutschen Krankenkassen die Kosten für eine Prep ohne Weiteres übernehmen werden, erwartet Jessen allerdings nicht. „Es werden alle möglichen Argumente in den Raum gebracht, die per se vielleicht auch diskutierbar wären, nur man muss, wie in vielen Bereichen der Medizin, eine moralische Bewertung weglassen.“ Jessen befürchtet aber, dass genau das passieren könnte. „Dabei ist es völlig egal, wie der Otto-Normal-Verbraucher Schwulenpartys findet. HIV erzeugt Elend, Krankheit, Stigma und manchmal auch nach wie vor Tod.“
Deswegen bestellen die Verbrauchern das Medikament illegal im Internet
Obwohl Medikamente wie Truvada in Deutschland offiziell zur Vorsorge noch nicht zugelassen wurden: Da sind sie trotzdem. Denn billige Generika des eigentlich teuren Medikaments lassen sich übers Internet bestellen. Einige Online-Apotheken machen sich diesen Umstand zunutze und verschicken Generika in andere Länder. Der Truvada-Produzent Gilead muss hinnehmen, dass ein Generikum seiner Prep-Pille von dem indischen Pharmakonzern Cipla zu einem Bruchteil des Originalpreises unter dem Namen Tenvir-EM vertrieben wird. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass die Monatspackung mit 30 Tabletten schon für 55,11 US-Dollar zu haben ist. Eine Einheit kostet damit gerade umgerechnet etwa 1,64 Euro. Vom Original Truvada kostet eine Pille in Deutschland mehr als 27 Euro. Die Einfuhr von verschreibungspflichtigen Medikamenten nach Deutschland ohne gültiges Rezept ist nicht erlaubt. Zudem dürfen nur Präparate eingeführt werden, die auch hier zugelassen wurden. Das trifft auf Tenvir-EM nicht zu.
Auch Carsten hat sich im Internet das Prep-Generikum Tenvir-EM besorgt. Über eine Gruppe auf Facebook, deren Mitglieder sich über verschiedene Wege austauschen, das Medikament zu bekommen. Er will seinen Partner vor seinem eigenen Schicksal bewahren. Auf keinen Fall möchte er, dass Frank sich einfach nur auf Worte von fremden Sexpartnern verlässt. Stattdessen soll sich Frank aktiv schützen können, auch wenn er mal keine Kondome verwendet.
Das erste Päckchen mit Tenvir-EM bringt ein Freund aus Manchester mit. Darin sind drei Packungen. Dutzende Tabletten. Carsten ist erleichtert. Er glaubt nun, dass seinem Freund eine weitere Möglichkeit zur Verfügung steht, sich vor HIV zu schützen. Frank hingegen ist skeptisch. Über Freunde hat er einen Arzt kennengelernt, der in den USA mehrere Prep-Patienten in einer Studie betreut. Er lässt sich von dem Arzt beraten, stundenlang. Trotzdem verspürt er ein flaues Gefühl im Magen bei dem Gedanken, dass eine blaue Pille ihn vor HIV schützen kann. Denn das Versprechen widerspricht allem, was ihm in den vergangenen zwei Jahrzehnten gepredigt wurde. „Nur Kondome schützen.“
Nachdem die Tabletten zwei Wochen unangetastet in einer Ecke stehen, beschließt Frank, die Pillen zu testen. Zumindest einmal will er es probieren. Zehn Tage lang nimmt er jeden Tag eine Tablette. Spätestens nach einer Woche soll Prep ihn zu 99 Prozent vor einer HIV-Infektion schützen können. Außer mit seinem Freund wird Frank in dieser Zeit allerdings mit niemand anderem Sex haben.
Am Ende setzt er die Tabletten jedoch wieder ab – aus Sorge vor möglichen Nebenwirkungen. Die kleinen blauen Pillen aus dem Internet mögen eine HIV-Infektion verhindern. Franks Angst aber bleibt.
Die Namen sowie einige persönliche Details der Hauptfiguren wurden zum Schutz der Person geändert.
Aufmacherbild: Frank in Berlin; Foto: Oliver Noffke.