„Ein gesunder Patient ist nur nicht genau genug untersucht“, heißt es bisweilen. Machen uns ärztliche Untersuchungen eigentlich erst krank, will deshalb Krautreporter-Leserin M. wissen. „Ich bin seit meiner Jugend übergewichtig“, schreibt die 47-Jährige an mich, „komme langsamer die Treppen hoch als andere, kann keinen Berg hochrennen. Ich habe etliche Zipperlein. Andere würden vermutlich sagen, ich sei krank. Ich sehe mich aber nicht so.“
Der Body Mass Index (BMI) galt als ehernes Gesetz und unumstößlicher Indikator für Übergewicht – wer drüber lag, sollte abspecken, um größere Risiken wie Herzkrankheiten zu verhindern. Auch KR-Leserin M. unterwarf sich jahrelang dem Diktat der Diäten. Sie kämpft seit vielen Jahren damit, ihr Gewicht zu halten. Ungefähr genauso lange muss sie sich „von seriösen und weniger seriösen Menschen“ anhören, was sie angeblich alles falsch macht. Die Redakteurin in der Unternehmenskommunikation fühlt sich gesund, obwohl sie gewissermaßen objektiv krank sein müsste. Die Aussagekraft des BMI wurde jüngst von Medizinern grundsätzlich infrage gestellt. Der Taillenumfang spiele eine wesentlich größere Rolle für die Gesundheit, denn über das Risiko für Herzkrankheiten entscheide nicht die Menge des Fetts, sondern dessen Verteilung im Körper. Vielleicht ist das Fett aber auch gar nicht schuld.
Neuere Studien widersprechen einem direkten Zusammenhang zwischen Normalgewicht und besserer Gesundheit. Im Gegenteil, es scheint so zu sein, dass Übergewichtige sogar ein etwas niedrigeres Sterberisiko haben. Dennoch verbinden die meisten von uns Schlanksein automatisch mit Gesundsein. Starkes Übergewicht, so heißt es in der Medizin, sei neben Rauchen, Bewegungsarmut, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck und Diabetes ein wesentlicher Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit mitverantwortlich für eine der häufigsten Todesursachen bei Frauen und Männern in Deutschland. Das schreibt das Robert Koch Institut in seinem Report „Gesundheit in Deutschland“ (PDF). Dabei ist nach Ansicht führender Gesundheitswissenschaftler wie Ingrid Mühlhauser das, „was man bisher als Übergewicht bezeichnet hat, eigentlich das Normalgewicht“. Mit Grenz- oder Richtwerten ist das eben so eine Sache. Sie können sich ändern, und plötzlich sind Menschen behandlungswürdig, die zuvor als vollkommen gesund galten.
Nehmen wir den Grenzwert für Diabetes. Der liegt bei weniger als einer Messerspitze Zucker pro Deziliter Blut. Fast zehn Prozent der Deutschen müssten demnach Diabetiker sein, da sie bei diesem Messwert liegen. Sind sie aber nicht. Vor 20 Jahren lag der Wert noch etwas höher, er wurde gesenkt, damit man früher beginnt zu behandeln. (Danke Daniel, für deinen Hinweis auf den wirklich aufschlussreichen Beitrag in Brand Eins.) Ähnliches trifft auf Cholesterin oder Bluthochdruck zu. War laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1980 noch ein Blutdruck von 160 normal, wurde der Wert zehn Jahre später auf 140 gesenkt, 2000 dann auf 130 und nun wieder auf 140 angehoben.
Auch Krautreporter-Leserin Simone zweifelt an der vermeintlich eindeutigen Zuordnung von Krankheit vs. Gesundheit. Sie schreibt mir: „Wer gerade an der eigenen Karriere bastelt, der leidet oftmals aufgrund der Belastung unter psychosomatischen Beschwerden; bei mir selbst war von Herzrasen über Schlaflosigkeit bis hin zum Reizdarm auch schon alles dabei. Mich würde interessieren, ob sich Menschen mit solchen Symptomen selbst als krank oder als gesund bezeichnen. Ich selbst kann die Frage für mich tatsächlich ad hoc nicht beantworten.”
Krautreporter-Leserin M. deutet gesund sein für sich so: „Mein Hirn funktioniert ausreichend gut. Ich kann selbständig denken und tue es. Ich kann mich selbst ernähren, ich habe eine Arbeit, die mir gefällt. Ich fahre viel Rad, lese viel, bin ein Serienjunkie und liebe meine beiden Katzen und meinen Mann.“
Damit gehört sie zur Mehrheit der Deutschen: Nach eigener Einschätzung fühlen sich etwa drei Viertel aller Erwachsenen gesund, nur knapp drei Prozent schätzen ihre Gesundheit als schlecht ein. Erst mit fortschreitendem Alter wird sie zunehmend schlechter bewertet. Auch die Gesundheit ihrer Kinder beurteilen 94 Prozent als gut bis sehr gut. Ärmere Menschen empfinden sich als weniger gesund im Vergleich zu den besser Verdienenden. Ein regionaler Vergleich zeigt zudem, dass Frauen aus Bayern und Männer aus Schleswig-Holstein und Hamburg ihre Gesundheit besser einschätzen als der Bundesdurchschnitt. Unter dem Bundesdurchschnitt dagegen liegen Frauen und Männer aus Brandenburg.
Gesundheit basiert auf einem komplexen Geflecht sozialer, kultureller und biologischer Faktoren. Ihr Geheimnis konnte noch niemand vollständig entschlüsseln. Ganze Dissertationen und Fachbücher wurden zu dieser Frage vollgeschrieben. Und es gibt noch immer keine einheitliche Definition. Laut WHO bezeichnet sie einen „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Das Bundessozialgericht definiert sie als denjenigen „Körper- und Geisteszustand, der dem Menschen die Ausübung aller körperlichen und geistigen Funktionen ermöglicht.“ Für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme steht Ärzten die regelmäßig aktualisierte internationale statistische Klassifikation der WHO (ICD-10) zur Verfügung.
Ich möchte ein paar datenbasierte Schlaglichter auf unsere Gesundheit werfen und folgenden Fragen nachgehen: Wie häufig gehen Menschen zum Arzt und welche Ärzte suchen sie auf? Wie viele Krankenhausfälle gibt es? Und wie hoch sind die Ausgaben für Gesundheit und Krankheit?
Vor einiger Zeit habe ich in einer Tageszeitung die Überschrift gelesen: „Je höher der Preis, desto öfter wird operiert.“ Eine Studie des Hamburger Center for Health Economics und der TU Berlin zur „Mengenentwicklung“ in den Kliniken scheint jene Urangst des Menschen zu bestätigen, völlig unnötigerweise den Risiken eines medizinischen Eingriffs ausgesetzt zu sein, damit die Kliniken profitabel arbeiten können. Die Zahl der Krankenhausfälle ist in den vergangenen zehn Jahren tatsächlich um fast ein Zehntel angestiegen und lag im Jahr 2014 bei 19,6 Millionen. Vom Anstieg sind besonders kostenintensive, geplante Eingriffe wie Bandscheiben-, Knie- oder Hüftgelenksoperationen betroffen.
Patienten verbrachten durchschnittlich eine gute Woche im Krankenhaus. Die häufigsten Diagnosen lauteten: Herzinsuffizienz (433.000), gefolgt von psychischen und Verhaltensstörungen durch Alkohol (340.000) sowie Vorhofflimmern und -flattern (290.000). Wer es ganz genau wissen möchte, findet hier eine exakte Auswertung zu Krankheitsfällen, -tagen und Diagnosen der Gesetzlichen Krankenversicherungen sowie hier zu den häufigsten Operationen.
Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung zwischen 30 und 64 Jahren gehen im Laufe eines Jahres zum Arzt. Der Anteil der über 45-Jährigen ist dabei etwas höher. Die Aussage, dass Frauen häufiger zum Arzt gehen als Männer, relativiert sich, wenn die Besuche beim Gynäkologen rausgerechnet werden. Allgemeinmediziner werden von Frauen seltener aufgesucht als von Männern.
Nun noch zu den Kosten. Zweifelsohne ist die Gesundheitswirtschaft ein immenser volkswirtschaftlicher Faktor. Folgende Daten zeigen das: Im Jahr 2014 wurden insgesamt 328 Milliarden Euro für Gesundheit in Deutschland ausgegeben. Das entspricht 4.050 Euro je Einwohner und bedeutet einen Anstieg von etwas mehr als vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Unter Krankheitskosten versteht man die laufenden Gesundheitsausgaben abzüglich der Investitionen im Gesundheitswesen.
Der überwiegende Anteil wird durch die Gesetzlichen Krankenkassen finanziert (194 Mrd. Euro 2013), ein weiterer Teil durch die Privaten (28 Mrd. Euro). Gut ein Viertel sind aber Konsumausgaben (76 Mrd. Euro) und fließen in privat finanzierte Produkte und Dienstleistungen rund um die Gesundheit. Umsatzstärkste Branche ist die Pharmaindustrie (42 Mrd. Euro 2012), gefolgt von der Medizintechnik (22,8 Mrd. Euro 2013) und der Biotechnologie (2,9 Mrd. Euro 2012). Jeder achte Erwerbstätige ist deutschlandweit in der Gesundheitsbranche tätig, das sind 5,2 Millionen Menschen. Zählt man Wellness, Gesundheitstourismus und ähnliches hinzu, arbeiten hier sogar über 6 Millionen Menschen.
Gesundheit ist so gesehen nicht nur eine individuelle Angelegenheit, sondern ein gesellschaftlicher Faktor. Um zu dir zurückzukommen, liebe M., du schreibst, dass du dich durch das Gerede hast verunsichern lassen, Vieles ausprobiert und letztlich viel Zeit vergeudet hast, die du „mit leben und glücklich sein“ hättest „verbringen können“. Ich möchte deshalb mit der Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser enden. Sie fordert: „Die Menschen vertrauen der Medizin. Dieses Vertrauen sollte erheblich erschüttert werden. Diskutieren Sie. Ärzte waren es lange gewohnt, dass sie für uns entscheiden. Das muss sich ändern.“ Deshalb danke ich dir für deine Frage, liebe M. Sie hat mir ins Gedächtnis zurückgerufen, dass wir unseren Verstand beim Arztbesuch nicht vor der Tür lassen, sondern kritische Patienten sein sollten.
Aufmacherbild: François Cluzet als querschnittgelähmtes Philippe und Omar Sy als sein Pfleger Driss in „Ziemlich beste Freunde“ (© Senator Film Verleih).