Als G. mir erzählt, dass er die Pillen nehmen wird, sage ich: „Mach das, gute Idee.” Schließlich geht es ihm schon länger nicht besonders, und in den letzten beiden Wochen immer schlechter. Und obwohl ich, wie wohl die meisten Menschen, vor Psychopharmaka einigen Respekt habe, denke ich, dass manchmal eben kein Weg daran vorbeiführt. So funktioniert es schließlich, oder? Manchmal muss man zu starken Mitteln greifen. Wenn eine Erkältung sich zur Lungenentzündung auswächst, kommt man mit Hustensaft nicht weiter, sondern nimmt Antibiotika. Wenn ein schlechtes Gefühl zu einer psychischen Krankheit wird, lässt man sich eben dagegen Medikamente verschreiben. Eine Krise ist eine Krise, egal, ob körperlich oder seelisch. Ohnehin lässt sich beides nicht so streng auseinanderhalten.
So meine Vorstellung, und G. sieht das ähnlich. Also nimmt er die Pillen. Wir glauben beide, dass es ihm nun bald besser gehen wird. Wir ahnen nicht, dass sein Alptraum jetzt erst richtig losgeht.
G. ist ein Verwandter von mir, er hat mir erlaubt, über ihn zu berichten, aber ohne seinen Namen. Er hat keine Lust, auf seine Krankheit angesprochen zu werden, zumal manche meinen, er solle sich einfach nicht so anstellen. Was ungefähr so nett ist, wie einem Menschen mit gebrochenem Bein zu sagen, er könne doch noch ganz gut rennen, wenn er seinen inneren Schweinehund überwinden würde. Das Problem, das G. hat, ist aber viel weniger greifbar als kaputte Knochen. Er hat Angst, und zwar viel mehr als andere. Er hat, wie man so sagt, eine Schraube locker, und jetzt kann sein System nicht mehr zwischen realen und irrealen Bedrohungen unterscheiden. Tagsüber friert sein Blick immer öfter ein, dann ist er in Gedanken unterwegs in einen Abgrund, den nur er sieht. Nachts kann er kaum noch schlafen. Bei der Arbeit fehlt er jetzt häufig.
Als er endlich zum Psychiater geht – wer macht das schon gerne – lautet dessen Diagnose: „Generalisierte Angststörung.“ Er verschreibt ein Medikament, das den Serotoninspiegel im Gehirn anheben soll (SSRIs - selektive Serotoninaufnahmehemmer). Mit anderen Worten: Antidepressivum. Das klingt seltsam, ist aber so üblich, weil Angst und Depressionen zwar diagnostisch getrennt werden, psychologisch gesehen aber zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Manche Menschen reagieren im Leben eher mit Angst, andere mit Depressionen. Oder sie werden erst ängstlich, dann depressiv, weil sie mit der Angst nicht fertig werden.
Um zwischen normaler und übersteigerter Angst zu unterscheiden, erklärt der Arzt G., könne man auch von Furcht und Angst sprechen. Furcht ist das Gefühl, das einen Menschen befällt, der im Wald einem Bären begegnet. Diese Furcht ist intensiv und konkret. Er weiß genau, wovor er sich fürchtet, und die Emotion geht vorbei, wenn die Situation geklärt ist. Angst ist, was der Spaziergänger empfindet, der sich im Wald angespannt und unruhig fühlt. Der den Bären nicht sieht, ihn aber überall vermutet. Dieses Gefühl, um ein Vielfaches gesteigert, ist das, was ein Mensch mit einer generalisierten Angststörung empfindet.
Wer jetzt denkt, das sei verrückt und in G.’s Leben müsste irgendetwas sehr schiefgelaufen sein, das sich nun Bahn bricht, liegt falsch. Zwar entwickeln manche Menschen nach traumatischen Erfahrungen tatsächlich krankhafte Angst. Die Störung kann aber auch biologische, physiologische und genetische Gründe haben. Woran es bei G. liegt, ist unklar. Mit seinem Leben ist alles okay. Er ist jung, gesund, mag seinen Job und seine Freunde. Er hat einfach Pech. Vielleicht geht es ihm wie Scott Stossel, der in seinem Bestseller Angst: Wie sie die Seele lähmt und wie man sich befreien kann schreibt: „Um es mit Computerbegriffen zu sagen, ist es sowohl ein Hardware-Problem (ich bin schlecht verdrahtet) als auch ein Software-Problem (meine Programmlogik ist gestört und deshalb habe ich angstvolle Gedanken).“
Die Angst hat ein Imageproblem
Über krankhafte Angst hört man viel weniger als über Depressionen oder Burnout, aber keine andere psychische Störung wird häufiger diagnostiziert. Es könnte ein Imageproblem sein: Depressionen kann man als Nicht-Betroffener romantisch mit Weltschmerz verwechseln, ein Burnout wirkt heldenhaft – da hat einer alles für die Firma gegeben! Angst dagegen, vor Dingen, die es gar nicht gibt, oder die völlig harmlos sind – nun ja. Darüber kann man schlecht Romane schreiben.
Was nichts an der Tatsache ändert, dass sehr viele Deutschen im Laufe ihres Lebens in irgendeiner Form eine Angststörung entwickeln. Manche werden, wie G., unter einer generalisierten Angststörung leiden, andere unter spezifischen Phobien. Vor U-Bahn-Fahrten. Höhen. Katzen, Wasser, Bakterien.
Wie viele Menschen, die man auf der Straße sieht, haben Angst, ohne dass man es ihnen ansieht? Eine typische Eigenschaft der phobischen Persönlichkeit, schreibt Scott Stossel, sei das Bedürfnis und die Fähigkeit, anderen eine relativ gelassene, ruhige Erscheinung zu bieten, während sie innerlich unter extremem Stress stehen. „Manchen Leuten mag ich ruhig vorkommen. Aber wenn man einen Blick unter die Oberfläche werfen könnte, würde man sehen, dass ich wie eine Ente bin – ich strampele, strampele, strampele.“
Man bekommt von der Angst dieser Menschen kaum etwas mit. Bis man selbst einer von ihnen ist. Oder nah genug dran, um es zu sehen. Dann bemerkt man sie plötzlich überall. Wenn ich G.’s Problem erwähnte, rücken auf einmal alle mit der Sprache heraus. Ich stellte fest, wie viele meiner Freunde und Bekannten Tabletten nehmen oder schon einmal genommen haben, weil sie mit ihrer Angst oder ihrer Traurigkeit nicht zurechtkamen.
Das passt zu den Statistiken. Laut der OECD nehmen die Menschen in den Industrieländern doppelt so viele Antidepressiva wie noch vor 15 Jahren. Was aber nicht daran liegt, dass sehr viel mehr Menschen psychisch krank sind als früher. Dafür gibt es keine klaren Belege. Allerdings scheinen Ärzte häufiger Psychopillen zu verschreiben, nicht nur gegen seelische Störungen, sondern auch gegen Menstruationsbeschwerden, chronische Schmerzen und Schlappheit. Und Stress. Für viele ist Stress heutzutage ein Codewort für Angst, weil ja jeder gestresst ist. Das ist also normal und fühlt sich auch wieder irgendwie heldenhaft an. Die Menschen scheinen die Medikamente auch bereitwilliger zu schlucken als früher. Hierzulande ist man noch vergleichsweise vorsichtig. Fünf Prozent der Deutschen nehmen Antidepressiva, in Island sind es zwölf.
Pupillen wie bei einem Partygänger
Die Tabletten, die Ärzte heute verschreiben, wirken besser als noch die Medikamente der 70er Jahre. Trotzdem sind es beileibe keine Smarties. Das merkt G. sehr schnell. Denn schon nach einigen Tagen geht es ihm viel schlechter. Die Ängste werden stärker, steigern sich zu Panikattacken. Wenn er nachts aufwacht und in den Spiegel sieht, sind seine Pupillen geweitet wie bei einem, der Partydrogen eingeworfen hat. Nur dass es sich alles andere als nach Party anfühlt.
„Wenn Sie während der Behandlung Suizidgedanken oder suizidale Vorstellungen entwickeln, insbesondere in den ersten 2 bis 4 Wochen, sollten Sie sofort Ihren Arzt aufsuchen“, steht im Beipackzettel. G. ist sich unsicher. Umbringen will er sich keineswegs, aber er hat das Gefühl, das er so nicht leben kann. Sein Psychiater erklärt, dass die Nebenwirkungen bei Antidepressiva leider sofort spürbar seien, der positive Effekt aber erst nach etwa zwei Wochen einsetzte. Er sagt nicht, dass die Medikamente bei manchen überhaupt nicht oder viel später wirken. Stattdessen gibt der Arzt G. zu verstehen, dass er das jetzt einfach aushalten muss. Er solle sich einen Therapeuten suchen.
Das ist sehr viel leichter gesagt, als getan. Denn wenngleich das Internet massenhaft Psychologen-Adressen hergibt, erteilen die meisten G. eine sofortige Absage. Sie haben Wartelisten, die bis weit in nächste Jahr reichen. G. könnte auch zu einer Tagesklinik gehen, aber auch dort bekommt er die Auskunft: Warteliste. Von einem Menschen, der ohnehin kaum funktionsfähig ist, diese Organisationsarbeit zu erwarten, ist hart.
G. könnte seinen Therapeuten selbst bezahlen, dann bekäme er schneller einen Termin, aber das kostet bis zu 150 Euro. Pro Sitzung. Die Alternative wäre, zu Hause zu sitzen und darauf zu hoffen, dass die verdammten Tabletten endlich wirken. Dabei sind andere Pillen, die ihm sofort helfen, verführerisch nah. Der Hausarzt hat ihm sofort und ohne weitere Nachfrage eine Zweiwochenration davon verschrieben. Dieses Medikament aber, ein Benzodiazepin, kann schnell süchtig machen. Valium ist ein Benzodiazepin, die „kleine, gelbe Pille“, von der die Stones in „Mother’s little helper“ singen, auch. 1,1 Millionen Menschen in Deutschland sind danach süchtig. G. will diese Pille, die in seiner Packung nicht gelb, sondern weiß ist, lieber nicht mehr nehmen.
Was seine Angst so furchtbar macht, ist genau die Tatsache, dass sie keinen konkreten Grund hat. Deswegen hat es auch keinen Sinn, einen Angstkranken danach zu fragen. Irgendwo in seiner Verrücktheit steckt eine Art existenzieller Klarheit. Dagegen kann man nicht argumentieren.
Zwar rastet der Intellekt eines Angstkranken aus, das Gehirn feuert in alle Richtungen. Es ist wie auf der Flucht wie vor einem Tiger, einem Terroristen, einer Tsunami-Welle, einem Mob mit Mistgabeln. Es stellt sich selbst ein Bein, fällt auf den Boden, zappelt. Aber es ist nicht dumm. Denn wenn man ehrlich ist, schafft ein solcher Mensch nicht, ein Wissen abzuwehren, das normale Menschen verdrängen.
Schließlich weiß niemand, was die Zukunft bringen wird. Regen? Einen Terroranschlag? Ein Freund kommt mit Kuchen vorbei? Gar nichts? Alles ist möglich. Der Ängstliche weiß das, die Ungewissheit ist ihm sehr, sehr nah.
„Ja, hast du recht“, denke ich manchmal, wenn G. von seinen Gedanken erzählt. Und sage es nicht. Stattdessen spielen wir Backgammon, stundenlang. In G.’s Wohnzimmer liegen jetzt Papierblöcke und Wasserfarben wie in einem Kindergarten. Alles, um die Zeit rumzukriegen, weniger zu denken.
Ängstliche Genies
Wenn sie nicht gerade in einer akuten Krise stecken, wie G., können Menschen mit Angststörungen trotz allem sehr erfolgreich sein. Stossel ist ein Beispiel – leider kein sehr vorbildliches, wie er selbst zugibt. Seine Vortragsangst bändigt er mithilfe einer sorgfältig geplanten Tabletten-Alkohol-Mischung. Bekanntere Namen sind Charles Darwin, Sigmund Freud, Ernest Hemingway, Tschaikowsky und Edvard Munch (sein Bild „Der Schrei“ kam nicht von ungefähr). Paul McCartney soll eine solche Bühnenangst gehabt haben, dass er 1963 fast die Beatles verlassen hätte.
“Der Schrei” Foto: Wikipedia/„The Scream“ von Edvard Munch - WebMuseum/Gemeinfrei
Manche vermuten sogar, dass Genies eher zu Angststörungen neigen. Eine Studie der Harvard-Psychologen Robert M. Yerkes und John Dillingham Dodson legte sogar den Schluss nahe, dass ein gewisses Maß an Angst die Leistungsfähigkeit erhöhen kann. Das ist wissenschaftlich nicht mehr haltbar, aber viele denken es trotzdem. Die beiden britischen Forscher Adam M. Perkins und Philipp J. Corr glauben, dass besonders ängstliche Finanzmanager Geld besser verwalten können – sofern sie gleichzeitig einen hohen IQ haben.
Ich erzähle G. davon. „Heißt das, dass dumme Menschen keine übertriebenen Ängste haben?“, fragt er.
„Nein“, sage ich. Er lächelt schwach. Blass und dünn sieht er an diesem Tag aus, in seinem Blick hängt etwas, das ihn müde und weltfern aussehen lässt, als wäre er da, aber doch auch woanders. Von irgendwoher kenne ich diesen Blick.
Nach einer Weile komme ich darauf: In meinem Viertel gibt es einen Mann, den man tagein, tagaus die gleiche Straße hinuntergehen sehen kann. Bei jedem Wetter trägt er eine Daunenjacke. Mit seinem hübschen Gesicht und seinem Dreitagebart würde er, an die Theke einer Bar gelehnt, bestimmt die Aufmerksamkeit einiger Frauen wecken. Wenn er nicht diesen Blick hätte. Ich habe mich oft gefragt, was ihm wohl passiert ist, wie das Leben seinen Verstand gebrochen und ihn zu diesem wirren, betäubten Menschen gemacht hat. Jetzt wird mir klar, dass nicht viel passiert sein muss. Es braucht keine schlimme Kindheit, keine verkorkste Persönlichkeit und keine genetische Veranlagung, um so zu werden. Vielleicht ging es ihm einfach plötzlich schlecht, wie G., und es war niemand da, der ihn daran gehindert hätte, in die Verzweiflung abzutauchen.
Der Abgrund zwischen den vermeintlich normalen Menschen und denen, die in der U-Bahn und am Bahnhof die Hand aufhalten, ist längst nicht so groß, wie man meinen könnte. Und G. balanciert gerade auf einem dünnen Grad dazwischen. „Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, ich stehe kurz davor …”, sagt er.
„Kurz vor was?”, frage ich.
Er antwortet nicht.
„Kurz vor was?“
Der Horror der Salatsauce
Nach mehr als sechs Wochen geht es G. endlich besser. Liegt es an den Medikamenten? Daran, dass er letztlich doch noch einen Therapeuten gefunden hat? Oder hat er sich einfach an die Angst gewöhnt? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass wir uns in letzter Zeit immer öfter über die Angst lustig machen. Ich ahme sein Gesicht nach, wenn er eine Panikattacke hat (aufgerissene Augen, starrer Blick, wie eine Katze, die einen Schäferhund sieht). Er tut so, als würde er sich vor seiner Zahnbürste fürchten. Das ist nicht bloß albern, es hilft.
Daniel Smith, Autor des Buchs Affe im Kopf schreibt, Angst sei eine tragisch-komische Störung. Tragisch, weil sie Leben zerstören kann. Komisch, weil sie es auf absurde Weise tut. „Im Griff der Angst kann der Leidende sich selbst nicht nur seine Ehe ausreden, sondern auch sein Mittagessen. Bei mehr als einer Gelegenheit hat die Angst mich angesichts eines Salats erstarren lassen, hat mich davon überzeugt, dass die Entscheidung zwischen einem Dressing mit Blauschimmelkäse und Vinaigrette so wichtig war wie die zwischen Leben und Tod. Sobald man das erkannt hat, verliert die Angst an Kraft“, schreibt Smith.