Eine Autobahn soll verlängert werden: Die A100 quer durch das Berliner Stadtgebiet bis nach Friedrichshain. Die Anwohner sind verunsichert bis verärgert: Wie wird der Kiez in Zukunft aussehen? Wo genau verläuft die Trasse? Und vor allem: Wie laut wird es werden?
Beantworten will diese Fragen der Journalist Lorenz Matzat mittels virtueller Realität. Der User soll nicht von außen zusehen, sondern mittendrin im Geschehen sein. „Wir machen etwas betretbar, was vorher nicht betretbar war“, sagt Matzat. Er baut an einer 360-Grad-Computersimulation, die die Autobahntrasse heute und in der Zukunft zeigen soll. Mit einer aufgesetzten Virtual-Reality-Brille oder im Browser soll man sich dann in alle Richtungen umsehen und den Verkehrslärm hören können.
Eine immersives Erlebnis soll das sein; das heißt, der User verliert die Distanz und fühlt sich, als wäre er mittendrin. Dadurch soll beim Nutzer ein stärkeres emotionales Erlebnis hervorgerufen werden.
Virtuelle Realität kündigt sich in der Unterhaltungsindustrie als das nächste große Ding an. Ähnlich wie der Fernseher oder der Computer könnte VR (kurz für virtuelle Realität oder Virtual Reality) ein fixer Bestandteil unserer Freizeitkultur werden. Hatte man im Journalismus den Sprung ins Internet und aufs Smartphone mehr oder weniger verschlafen, machen sich nun einige Journalisten und Medien daran, gleich vorne mit dabei zu sein. Eine begehbare Infografik mittels virtueller Realität wie von Matzat beschrieben, klingt heute noch nach Zukunftsmusik. Technisch ist es aber machbar. Schwierigkeiten bereiten eher die Finanzierung und die mangelnde Verbreitung der Abspielgeräte. Bald könnte aber auch das gelöst sein.
Immer mehr Virtual-Reality-Brillen zu immer niedrigeren Preisen kommen auf den Markt. Wer mit so einem Gerät auf dem Kopf nach rechts schaut, blickt auch in der virtuellen Realität nach rechts. So kann man durch echte Kopfbewegungen den Blick im Virtuellen schweifen lassen. Billiger, wenn auch mit Qualitätseinbußen geht VR auch schon heute mit einem Smartphone und einem Kartongestell wie etwa Cardboard von Google, das man sich an den Kopf hält. Alternativ dazu kann man auch im Webbrowser oder bei YouTube per Mausklick die Kamera schwenken - allerdings hat man dort kaum mehr den Eindruck, selbst an Ort und Stelle zu sein.
Virtuelle Realität als Science Fiction Traum
Ideen und Träume rund um simulierte, virtuelle Welten gibt es nicht zuletzt dank Science Fiction schon seit Jahrzehnten. Das Holodeck in der Raumfahrer-Fernsehserie Star Trek konnte etwa die fantastischsten Orte und Menschen simulieren.
Aber auch in der Wirklichkeit gibt es virtuelle Realität schon länger: Uwe Kühnapfel vom Karlsruher Institut für Technologie forscht seit den 80er Jahren an Simulationen und experimentiert mit virtuellen Welten. „Wenn ich an virtuelle Realität denke, denke ich an alle Sinne“, sagt Kühnapfel.
Besonders komplex sei es, das Greifen und Tasten virtuell zu simulieren. Genau das braucht man aber, damit Chirurgen an einem Operationssimulator üben können. Für den Schnitt mit dem virtuellen Skalpell kann Kühnapfel durch Echtzeitrechnung die Gewebestruktur und den Widerstand realistisch simulieren.
Neben den seriösen Anwendungen sind für die Weiterentwicklung der Technologie rund um virtuelle Realität zwei leichtere Branchen entscheidend: Computerspiele und Pornos. Diese Branchen hätten dazu geführt, dass die Technologie rund um virtuelle Realität erschwinglich wird, sagt Kühnapfel.
Je nach Branche, kann virtuelle Realität etwas Anderes bedeuten: Das reicht von der simulierten, computergenerierten Welt in Flugsimulatoren über Kunstleder, das nach echtem Leder riecht, bis zur virtuellen Simulation von Widerständen bei Autolenkrädern. Allen gemeinsam ist: Es wird eine Realität möglichst echt vorgespielt und erfahrbar gemacht, die eigentlich nicht in dieser Form existiert.
Genau hier liegt aber der Knackpunkt für den Journalismus. Der will ja eigentlich die Wirklichkeit möglichst unverfälscht wiedergeben. Für Journalisten geht es bei der virtuellen Realität vor allem darum, Orte zugänglich zu machen, die so nicht betretbar sind: den Bürgerkrieg in Syrien, die Arktis oder eben die künftige Autobahn. Diese Gratwanderung objektiv und authentisch hinzubekommen, wird eine der größten Herausforderungen für Autoren in der virtuellen Realität.
Im Video zu sehen ist eine Demo des Project Syria von Nonny de la Peña, das Zuschauer durch Virtual Reality mitten ins Kriegsgebiet bringt. (Bei vielen Lesern und Leserinnen kann das Video nicht direkt im Text abgespielt werden. Deshalb hier der Link)
Virtuelle Realität wird als Marketing-Gag missbraucht
In den USA kommt der VR-Journalismus langsam aus dem Nischendasein. Mitte Oktober hat der amerikanische Nachrichtensender CNN erstmals eine Debatte der Präsidentschaftskandidaten für virtuelle-Realitäts-Brillen übertragen. Ob das wirklich einen Zusatznutzen für Zuschauer ist, sei dahingestellt. Wohl eher handelt es sich dabei um einen Marketing-Gag. Denn kaum einer besitzt heute schon die dafür benötigte Virtuelle-Realität-Brille.
Jetzt hat aber auch die New York Times, der globale Leithammel des Qualitätsjournalismus, nachgezogen und kündigt eine VR-Initiative an. Dabei will die NY Times auch gleich das Henne-Ei-Problem lösen, dass es zu wenig Virtuelle-Realitäts-Geschichten für die Endgeräte und zu wenig Endgeräte für VR-Geschichten gibt. Gemeinsam mit Google werden kurzerhand Kartonbrillen an eine Million Abonnenten verschickt.
Starten will das New York Times Magazine dann im November mit einer Virtual-Reality-Reportage über geflüchtete Kinder. Wieder einmal rühmt sich nun ein Medium, das Erste zu sein. Diesmal das Erste, das kritischen, seriösen VR-Journalismus mache. Mehr Nähe, mehr Ergriffenheit und stärkere Gefühle soll das beim Zuschauer auslösen. „Die Kraft von virtueller Realität ist, dass es beim Zuschauer eine einzigartige empathische Verbindung zu den Protagonisten und Ereignissen aufbaut“, sagt der Chefredakteur des Magazins, Jake Silverstein. Die Zuseher sollen das Gefühl haben, sie befänden sich im selben Raum mit den geflohenen Kindern, um zu verstehen, was sie durchgemacht haben, sagt Silverstein.
360-Grad-Bilder vs. 3-D-Grafiken
Fast alle journalistischen Spielarten von Virtual Reality setzen auf die einfachste Form von virtueller Realität: Videoreportagen, gefilmt mit 360-Grad-Kameras, so dass der Zuschauer quasi selbst die Kamera schwenken kann. Doch das kann schnell richtig öd werden: Dann zum Beispiel, wenn die Protagonistin, wie in der VR-Reportage Polar Sea 360 Grad von Arte, einen Supermarkt besucht und man seinen Blick frei über Konservendosen schweifen lassen kann.
Virtuelle Realität ist dann stark, wenn es packende, emotionale Szenen zeigt und die Distanz zwischen journalistischem Objekt und dem Zuschauer verkleinert. Nonny de la Peña geht diesen Weg. Statt gefilmter Realität baut sie am Computer 3-D-Szenen von wichtigen Momenten nach und erzeugt damit digitale Re-Enactments.
https://www.youtube.com/watch?v=1hW7WcwdnEg
Das Stück One Dark Night gibt die Minuten wieder, als der schwarze amerikanische Jugendliche Trayvon Martin von einem Mitglied einer Bürgerwehr erschossen wurde. Die Frage, ob es sich um Mord oder Notwehr handelt, hatte die USA monatelang in Atem gehalten. De la Peña verwebt dabei originale Aufnahmen des Polizeinotrufs mit computergenerierten Szenen und kann so ein realistisches Bild rund um die Beweisstücke zeichnen. (Um One Dark Night als echte virtuelle-Realitäts-Geschichte und nicht nur als Video ansehen zu können, benötigt man eine Samsung Gear VR Brille.)
Virtuelle Realität ist gekommen, um zu bleiben
Seit den 80er Jahren wurden virtuelle Realitätsanwendungen im Unterhaltungssektor abwechselnd in den Himmel gelobt, um dann wenig später doch wieder bei den Zusehern durchzufallen. Doch jetzt scheint die Zeit dafür gekommen zu sein. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe:
- Die benötigten Bauteile wie Bildschirme, Prozessoren und Speicher werden immer günstiger und leistungsstärker. Dadurch könnte VR attraktiv für einen Massenmarkt werden.
- Große Firmen investieren massiv Geld in Technologien und Anwendungen für virtuelle Realität. Für rund 2 Milliarden Dollar hat etwa Facebook im März 2014 die Firma Oculus gekauft, die VR-Brillen herstellt. Mit dabei sind auch Google, Microsoft, Sony und Samsung.
Ein Analystenbericht der Deutschen Bank prophezeit der Branche einen Umsatz von 7 Milliarden Dollar im Jahr 2020.In erster Linie soll dieses Geld über Computerspiele, Sportübertragungen und - last but not least - über Pornografie verdient werden.
Nachrichten in der virtuellen Brille
Großes Geld kann man mit Journalismus nicht machen; dennoch bringen sich auch Medienhäuser im deutschsprachigen Raum in Position, um ihre Geschichten über Virtuelle-Realität-Brillen und 360-Grad-Videos zu erzählen. Noch weiß keiner genau, welche und ob virtuelle Realität dem Journalismus sinnvolle und clevere Anwendungen eröffnet - geschweige denn, ob es wirklich das nächste große „Ding“ wird. Die Schweizer Neue Zürcher Zeitung möchte jedenfalls die Möglichkeit nicht verpassen und organisiert Anfang November einen Hackday in Zürich, um das Feld zu sondieren.
„Die Aufgabe des Journalismus ist es, die Menschen zu informieren und sie bei ihrer persönlichen Meinungsbildung zu unterstützen,“ sagt René Pfitzner von der NZZ. „Nun gilt es herauszufinden, ob und wie VR als durch Interaktivität ergänzte Symbiose aus Text, Bild und Audio diese Aufgabe erfüllen kann.“
Der Hackday sei in erster Linie ein Experiment, um herauszufinden, für welche Storys und in welcher Form virtuelle Realität am besten für den Journalismus genutzt werden kann, sagt Pfitzner. Das erscheint auch bitter nötig.
Denn bisher hat noch kein Medienhaus den zwingenden Beweis erbracht, warum es Virtual Reality im Journalismus braucht. Bisher erscheint VR in erster Linie als Spielerei, denn als die bessere Form, um Informationen und Geschichten vermitteln zu können.
Aufmacherbild: Pressefoto von Oculus Rift.