Wir haben ihm nicht geglaubt. Wir wussten nicht, wer er war. Aber dann sprach er uns auf Jiddisch an. In dem Moment wussten wir, dass wir frei waren.
Am 11. April 1945 wurde Szaja Chaskiel aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit. Er war einer von 900 Jungen im Alter von acht bis 18 Jahren, die an diesem Tag „geboren wurden“, wie er sagt. Die Erfahrung schweißte die Befreiten auf eine besondere Weise zusammen und sie wurden schnell als “The Buchenwald Boys” berühmt. Seit 66 Jahren feiern Überlebende aus dieser Gruppe mit ihren Nachkommen in Melbourne, Australien, beim jährlichen “Buchenwald Ball” ihre damalige Wiedergeburt.
In diesem Jahr fing der Ball ein paar Stunden nach dem Ende des Pessach-Festes an – genau 70 Jahre nach der Befreiung. Am Abend vor dem Ball waren in Szajas Chaskiels Wohnzimmer fünf der Boys mit ihren Nachkommen versammelt. Auch Verwandte der bereits verstorbenen Boys waren gekommen. Szaja, inzwischen 86, erzählte die Geschichte des Exodus der “Buchenwald Boys” aus der Schoah. Herausgeführt hatte sie Herschel Schacter, der Rabbi der Dritten Armee der amerikanische Befreier. Er war es, der sie in ihrer Muttersprache, angesprochen hatte.
Nach der Befreiung schickten das Rote Kreuz und weitere Organisationen zunächst etwa die Hälfte der Boys nach Frankreich, die andere Gruppe ging in die Schweiz. Ein paar von ihnen blieben in Frankreich; die meisten verließen Europa aber, um sich in New York, London, Toronto, Vancouver, Montreal und Städten in Israel und Südamerika niederzulassen. Eine 65-köpfige Gruppe kam nach Australien und fand in Melbourne und Sydney ihre Heimat. Heute sind nur noch weniger als zwanzig von ihnen am Leben. Vier sind allein im vergangenen Jahr verstorben.
In den späten 1940er Jahren erlebten die Boys ihre Teenager-Jahre tanzend in den Clubs von Paris. Sie lernten, den Cha-Cha und den Jitterbug zu tanzen, um die Damen zu bezaubern, und sie lernten, wie man feiert. Als alte Männer in Melbourne feiern die Boys immer noch. In Szajas Wohnzimmer floss reichlich Whisky, und den wenigen, denen es noch gut genug ging, um sich von ihrem aufgedrehten Gastgeber durch einen langen und ausgelassenen Abend leiten zu lassen, wurde ein kleines Abendessen serviert.
Am nächsten Tag trafen sich zehn der Boys und ihre Kinder und Enkel – insgesamt etwa 200 Leute –, um im Theodor-Herzl-Club in Melbournes jüdischem Vorort Caulfield, gemeinsam den 70. Jahrestag des “Buchenwald Ball” zu feiern. Schon seit zwei Jahren organisieren die Boys die Festlichkeiten nicht mehr selbst, ihre Kinder haben übernommen. „Sie kommen zusammen und sie trinken, und sie singen“, sagt Szajas Sohn Mark. „Dann trinken sie noch etwas, und dann singen noch mehr.“
Hier singt Jack Unikowski, 87, das Buchenwald-Lied, das von den Häftlingen Hermann Leopoldi und Fritz Löhner-Beda geschrieben wurde, und zu einer Art Hymne für die Boys geworden ist.
https://soundcloud.com/krautreporter/buchenwald-song
Oh Buchenwald ich kann dich nicht vergessen / Weil du mein Schicksal bist
Wer dich verlässt der kann es erst ermessen / Wie wunderbar die Freiheit ist.
Hier sind Freude und Tragik nicht zu trennen. Szaja bat um eine Schweigeminute für die Familien der Boys, die den Holocaust nicht überlebt haben. Danach erklärte er: “Enjoy, and have a ball!” (“Viel Spaß, lasst es euch gut gehen!”)
Den ersten Buchenwald-Ball haben die Wohltätigkeitsorganisationen, die die Boys nach dem Krieg unterstützt haben, 1949 organisiert. Seitdem findet er in unterschiedlichen Formen jedes Jahr statt. Man feierte die Freiheit, gleichzeitig war das Fest ein Treffpunkt für jüdische Singles. Die Boys, die ihre feschen Tanzschritte in Paris gelernt hatten, fanden schon bald Partnerinnen – manche davon waren selbst Überlebende, andere australische jüdische Mädchen. Es gab außerdem viele jüdische Frauen aus Großbritannien, die man dazugeholt hatte, um das romantische Angebot zu erweitern. Tanzen war eine lebenslange Leidenschaft der australischen Buchenwald Boys.
Heutzutage schaffen die Boys den Cha-Cha und den Walzer nicht mehr, aber sie tanzten mit Freude zu den Klängen der Melbourner Band Klezmania. „Diese Jungs sind durch das Leben getanzt“, sagte Mark Baker.
Andrew Harris ist ein Autor und Fotograf in Melbourne. Er liebt jüdische Musik, Essen und Kultur. Er hat noch nie etwas probiert, das so schmeckt wie Galla. Dieser Artikel ist die Übersetzung einer Geschichte, die ursprünglich im Tablet Magazine erschienen ist, einem Online-Magazin für jüdische Nachrichten, Ideen und Kultur. Übersetzung: Sebastian Esser.