Was hat er da gerade gesagt? Die Dielen knarzen, als ich mich umdrehe. Dann: Stille. In dem alten Stadthaus an der Skolas Iela, dem ehemaligen jüdischen Theater von Riga, sitzt Dr. Margers Vestermanis, 90, im letzten noch erleuchteten Zimmer an seinem Schreibtisch. Er legt den schwarzsilbernen Gehstock beiseite und rät mir, in diesem altmodischen, dadurch angenehmen Deutsch, besser kein Porträt über ihn zu schreiben. Seine Person sei nicht von Bedeutung, es sei zudem „ein Zufall“, dass er jetzt vor mir sitze.
Die Worte klingen falsch, bin ich doch seinetwegen nach Riga gereist. Kein Zufall hatte mich zu dem großen Chronisten des jüdischen Lebens in Lettland geführt. Mit Vestermanis hatte ich über das Erinnern reden wollen, über das private und das kollektive Erinnern, das sich in Deutschland, im 70. Jahr des Gedenkens an die Befreiung von Auschwitz, wie ein vertrauter Automatismus angefühlt hatte.
Bundespräsident Joachim Gauck hatte das Gefühl in Worte gekleidet. Zu Beginn des Jahres in Auschwitz, vor Überlebenden des Holocaust, sagte er, dass „Gedenktage zu einem Ritual erstarren“ könnten, zu einer „leeren Hülle mit stets gleichen Beschwörungsformeln“. Nur um danach selbst, fast apologetisch, von einem „Auftrag“ zu sprechen, der von diesem Erinnern ausgehe. Ganz so, als gäbe es einen Zwang zu einer moralischen Folge. Und weil auch von Kommentatoren im Fernsehen und in den Zeitungen derartig im Befehlston dahergepoltert worden war, was alles nicht vergessen werden solle, sich nicht wiederholen dürfe, uns die Vorkommnisse lehren müssten, war mir die Frage nach der ja noch lebendig vorhandenen Erinnerung der Zeitzeugen und dem Nachdenken aller anderen über das Geschehene wieder sehr gegenwärtig erschienen.
Gaucks Sensibilität für die Verschiebung in der Wahrnehmung deutschen Erinnerns zeigte, dass da bereits etwas kaputtgegangen war. Das Holocaustgedenken in Deutschland hatte sich bereits zu dem von ihm umraunten Affirmationsakt gewandelt, der alles in einen binären Code von richtiger und falscher Haltung zwängt und den offiziellen Funktionsträgern, für alle sichtbar, zum Abnicken vorlegt. Der Auftrag war also, sich unbeeindruckt von den offiziellen Riten auf den Weg zu machen, wirklich einmal selbst mit einem Überlebenden zu sprechen, so lange dies noch möglich ist, und zu schauen, was es mit der medienvermittelten Erinnerung eines Nachgeborenen macht.
Vielleicht konnte Margers Vestermanis, geborener Westermann, Sohn eines jüdischen Kaufmanns und Fabrikanten, Überlebender mehrerer Internierungslager und späterer Chronist der Verbrechen der Nazis in Lettland, Hinweise darauf geben, wie sich in Zukunft erinnert und eine Außenperspektive ermöglicht werden könnte. Denn die Frage, was wir eigentlich meinen, wenn wir von Erinnerung sprechen, und was abseits der behaupteten Pflichtkategorien die Folge für das Handeln jedes Einzelnen sein könnte, war in Deutschland bereits in den Hintergrund gerückt. „Keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, hatte es in Gaucks Rede weitgreifend geheißen; und sofort war dies einer von vielen möglichen Zusätzen gewesen: Vielleicht ja auch nicht ohne Rumbula?
Das Kiefernwäldchen im Rigaer Südosten, Randnotiz deutscher Erinnerungskultur, wo ein Mahnmal, nur ein paar Steine noch, an die Toten erinnert. Im Winter 1941, am 30. November und 8. Dezember, hatten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD hier geschätzte 27.000 Menschen hingerichtet. Die meisten von ihnen waren lettische Juden aus dem Rigaer Ghetto. Sie sollten Platz machen für 11.000 Deportierte aus dem gesamten Reichsgebiet – von Wien über Bielefeld bis Hamburg. Die Schüsse, immer und immer wieder in die Nacken der nackt am Grubenrand Knieenden, hallten an diesen Tagen bis spät in die Nacht. Vestermanis’ Vater war einer von 13.000 Menschen, die am 30. November, dem „Rigaer Blutsonntag“, ermordet wurden. Im lettischen Freiheitskampf 1919 hatte er noch als Freiwilliger gegen die Deutschen von der Baltischen Landeswehr gekämpft. Später, in Rumbula, trieben ihn die Gewehrläufe lettischer und deutscher Soldaten in Richtung der Gruben. Sarkasmus eines ausgelöschten Lebens.
Von vormals 74.000 lettischen Juden hatten nur 3.000 den Holocaust überlebt, die meisten von ihnen waren zuvor ausgewandert. Wer in Lettland überlebte, fand sich in einer leeren Welt wieder.
Mittlerweile redete Vestermanis doch, zwar nicht widerwillig, aber kaum einmal erzählte er von seiner Geschichte, skizzierte stattdessen, lebenslang Historiker, den Kurlandkessel auf der Rückseite eines Papiers, „hier ist Tukums, da standen die Panzer“. Meine Fragen nach seinen Erinnerungen, der Zeit im Rigaer Ghetto zusammen mit seiner Familie, die spätere Internierung im KZ Kaiserwald und dem SS-Seelager Dondangen wischte er mit sturem Duktus weg, „Naja … so“. Mir dämmerte, wie unangenehm die Gesprächsposition des Überlebenden sein konnte. Immer wieder denjenigen Auskunft zu geben, deren Fragen nach dem Schreckensmoment geifern, die Zahlen, Bilder wollen, nur um ja doch vor dem Unglaublichen zu kapitulieren. Und darüber hinaus zu ertragen, das ist noch unangenehmer, stets in die Stellvertreterrolle gedrängt zu werden. Einer wie alle anderen. Der Überlebende – ein Titel der alles Lebendige auf den Zufall einreduziert, wie Vestermanis selbst sagte. Es war deshalb falsch nach einer allgemein gültigen Erinnerung, dem großen Bild zu fragen. Im Moment des Erzählens ist alles Einzelschicksal. Wenn überhaupt etwas gefragt werden konnte, vielleicht ja sogar „gelernt“, musste es dann nicht um das persönliche Empfinden gehen, um die Nachvollziehbarkeit des Erinnerten für das Gegenüber?
Es gab einen Moment, in dem der Gedanke von Erinnerung durch Hineinversetzung hell leuchtete, 1985 war das, in der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Man dürfe, betonte Weizsäcker, sich erinnern, „dass Geisteskranke im Dritten Reich getötet wurden“, um „die Zuwendung zu psychisch kranken Bürgern als unsere eigene Aufgabe“ zu verstehen. Gleiches sagte er über rassisch, politisch und religiös Verfolgte, die Verfolgung des freien Geistes, die Voraussetzungen für die Gründung des Staates Israel und die Kriegsleiden der östlichen Nachbarn. All diese Punkte verknüpfte Weizsäcker mit der Hineinversetzung in ein Gegenüber, um dadurch die eigenen Handlungen im Jetzt zu reflektieren. Die Fundamentalkategorie des Erinnerns an den Holocaust, aus der überhaupt nur ein Verstehen erwachsen kann, lautet also: Empathie.
„Wann hatten Sie während des Krieges einmal richtig Glück, Herr Vestermanis?“
Er denkt nach, sitzt da, eingeengt zwischen dem Holztisch aus Sowjetzeiten und dem Schrank mit den zwei Menorot darauf.
Dann sagt er: „Am 26. Juli 1944. Als ich vom Todesmarsch in die Wälder flüchtete. Da wurden ja auch viele erschossen bei dem Versuch.“
War eben noch alles Geschichtsbuch und Luftbild gewesen, ist das Gespräch jetzt schlagartig persönlich und nah geworden. Vestermanis erzählt von dem Todesmarsch aus dem Lager Dondangen, als im Sommer 1944 die Rote Armee vor der Stadt Tukums stand. Über Goldingen und Windau sollten die Häftlinge per Schiff ins KZ Stutthof deportiert werden. Er kannte sich in dem Gebiet aus, wusste, dass der Wald hinter der Ortschaft Ugala aufhören und in Felder übergehen würde. Die Fluchtmöglichkeiten schwanden. Am zweiten Tag des Marsches nahm er sich ein Herz und lief vor den Augen der Wachsoldaten los. Die Schüsse fetzten durch die Luft, trafen andere, die mit ihm liefen. Er schaffte es bis in den Wald, warf sich auf den bemoosten Grund und wagte es erst drei Tage später, wieder aufzustehen. „Es war ein fantastisches Gefühl, nicht mehr getrieben und geschlagen zu werden.“
Bis Kriegsende überlebt Vestermanis im Wald, der zigfach von deutschen Soldaten durchkämmt wird, indem er immer wieder bei armen Bauern Unterschlupf sucht. Bei reichen Bauern, die lieber mit den Deutschen paktierten, als auf die für sie Unheil versprechende Ankunft der Sowjets zu warten, war es nicht sicher, sagt Vestermanis. „Die hatten Telefone, konnten die Nazis anrufen, um einen zu verpfeifen, wenn man nicht aufpasste. Ein armer Mensch hat ja immer mehr Mitleid als ein reicher.“
Durch die Bauern kam der damals 19-Jährige in Kontakt mit einer Gruppe hauptsächlich lettischer Fahnenflüchtiger, unter denen sich auch sowjetische Kriegsgefangene und deutsche Deserteure befanden. Vestermanis befreundete sich mit dem deutschen Deserteur Egon Klinke, die beiden verband die gemeinsame Sprache. Sie versteckten sich im Wald, ohne Waffen, in Lumpen gekleidet, auf Gaben der Bauern angewiesen. Klinke wurde später unvorsichtig, Vestermanis hatte ihn noch gewarnt, und bei einem Dorffest sturzbetrunken von deutschen Soldaten aufgegriffen und hingerichtet.
Vestermanis aber, den die Deutschen auch dann nicht fanden, als sie ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag 1944 die Wälder durchkämmten, um sie in einem Korridor von zehn Kilometern zur Küste hin zu „säubern“, überlebte bis Kriegsende. Als einer der letzten „lettischen Partisanen“, wie es die Sowjets später nannten. In einer Verkettung von Zufällen, als sei er durch ein Sieb nach dem anderen gefallen, war es dem jungen Vestermanis gelungen zu überleben. Am 9. Mai 1945 trat er auf die Straße und beobachtet die an ihm vorbeiziehenden deutschen Truppen mit ihren weißen Fahnen aus Lumpen. Vestermanis nimmt das Wort Genugtuung nicht in den Mund, er sagt: „Es war die größte, schönste Stunde meines Lebens.”
Noch ist es möglich, diese Geschichten zu hören, mit den letzten Verbliebenen der Generation der Überlebenden zu sprechen. Das Fehlen dieser mündlichen Vermittlung von Geschichte, die Ängste, Trauer und die Verzweiflung dieser Zeit erlebbar macht, wird auch die Erinnerungskultur verändern. Projekte wie Gedächtnis der Nation von Guido Knopp und Hans-Ulrich Jörges versuchen, die Erfahrungen zu konservieren. In einem „Jahrhundertbus“, einem Lkw mit einem kleinen Fernsehstudio im Huckepack, werden im Rahmen dieses Projekts seit Oktober 2011 in ganz Deutschland Interviews mit Zeitzeugen geführt. Das mündlich übermittelte Wissen der Kriegsgeneration geht so in das große digitale Archiv über, das heute Diskurs und kollektive Erinnerung bestimmt.
Nie war es einfacher, sich ein umfassendes Bild von den Verbrechen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg zu machen. Richtiger, als die ritualisierten Gedenktage abzuhalten, ist es deshalb vielleicht auch, so wie es die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg angeregt hat, einen „DenkTag“ abzuhalten. Ein persönliches Nachdenken über Ursachen von Totalitarismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Nicht als Denkaufgabe über den vermeintlichen eigenen Anteil an „Kollektivschuld“ oder anderen kategorischen Wortungetümen. Nein, sondern für eine immer neue Definition von Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechten und Menschenwürde.
Als Vestermanis nach dem Krieg einen Posten im Historischen Staatsarchiv als Abteilungsleiter für wissenschaftliche Publikationen angenommen hatte, konnte er ab 1960 die nach Kriegsende beschlagnahmten Unterlagen der deutschen Okkupationsbehörden des Reichskommissariats Ostland einsehen. Sie waren aus Moskau nach Riga, in die sowjetische Teilrepublik Lettland zurückgeschickt worden. „Zur Sowjetzeit hat man nicht über Judenerschießungen gesprochen, es hat sie einfach nicht gegeben.“ Auch Vestermanis war offiziell kein Holocaustüberlebender, sondern lettischer Partisan, ausgezeichnet mit einem sowjetischen Orden für Veteranen.
Auf einmal lagen die Beweise vor ihm. Ohne Furcht vor möglichen Konsequenzen, brachte er sie in einer Dokumentation über das vorliegende Material unter und veröffentlichte sie. „Ich kann es nicht beweisen“, sagt der 90-Jährige mit den schlohweißen Haaren, „aber ich bin ein Rothaariger, und denen sagt man ja Widerspenstigkeit nach“.
Vestermanis wird daraufhin gefeuert, es sei, teilte man ihm mit, ein „Verstoß gegen die Ideologie der Partei“. Erst in den 1970ern veröffentlichte er wieder regelmäßig, am befreitesten in der DDR. Später, nach der Wende, arbeitet er in der vielbeachteten Ausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit, die eine der erfolgreichsten politischen Ausstellungen der Bundesrepublik werden sollte.
Vestermanis’ Geschichte ist keine besondere, das hatte er zu Beginn des Gesprächs mit Nachdruck betont. Gerade das aber macht sie als Erkenntnisgegenstand so wertvoll. In den Episoden von Internierung, Beraubung der freien Meinung, dem Mord von Familienangehörigen und der Beschlagnahmung des Familienbesitzes – ein Stadthaus in Riga bekam Vestermanis erst 1994 wieder zugesprochen – spiegeln sich viele Ebenen der persönlichen Betroffenheit durch ein totalitäres System wider. Von dieser Erkenntnis geht kein gesellschaftlicher Auftrag aus, sondern, wenn überhaupt, ein ganz persönlicher vom Erinnern an diese Kategorien von Unterdrückung und Mord. Das ist kein Rückgriff auf Geschichte zum Selbstzweck, es ist Arbeit am Jetzt.
Seit dem Krieg hat sich die deutsche Erinnerungskultur immer wieder gewandelt. Zuerst begann sie sich nur langsam aus dem stummstickigen Mief der 1950er und 60er Jahre zu befreien, erlebte eine Phase der Elternanklage mit dem Aufkommen der 68er und ist heute in einem Stadium der Indifferenz angekommen. Es wird häufig nach Normalität gerufen, womit zumeist doch nur ein Beiseiteschieben gemeint ist. Wichtig ist deshalb der vermeintlich winzige Unterschied zwischen den Reden von Gauck und Weizsäcker, aus denen der Geist der Erinnerungkultur der jeweiligen Zeit spricht. Er liegt in dem kleinen Wort „dürfen“. Wir dürfen uns erinnern, hatte Weizsäcker gesagt.
Vestermanis, der lange darauf hinarbeitete, hat im ehemaligen jüdischen Theater ein Museum eingerichtet, das sich mit dem jüdischen Leben in Lettland und dem Holocaust auseinandersetzt. Mit 90 Jahren lebt Vestermanis noch immer in seiner Geburtsstadt Riga, im ehemaligen Haus seiner Familie. Hier, wo noch heute jedes Jahr am 16. März, dem Tag der Schlacht der lettischen Legion gegen die Rote Armee, mehr als 1.000 SS-Veteranen in der Innenstadt aufmarschieren. Wo die Angst vor einem Angriff Russlands stärker verbindet als die gemeinsame Erinnerung an die lange Besatzungsgeschichte. Hier, schreibt Vestermanis weiter. Zwei Bücher, eines über die Judenrettung während der Okkupation und einen Wegweiser der Holocaustverbrechen in Riga, will er noch fertigstellen. Und dann spricht er zum Schluss doch noch von einer Pflicht: „Jedes Dokument zum Holocaust ist grauenhaft, ich wäre froh, sie nicht studieren zu müssen. Aber jemand muss das tun – wenn man eine Verantwortung für die Leiden der Hingemordeten fühlt.“
Aufmacher-Bild: Vestermanis in seinem Büro im ehemaligen Jüdischen Theater von Riga. Hier hat der Historiker 1989 das Museum „Juden in Lettland“ eröffnet. Foto: Mathis Vogel.
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_Der Text wurde gelesen von Juli_ane Neubauer von detektor.fm