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Ehrlich gesagt dachte ich lange, Kanada sei wie die USA, nur mit weniger Waffen und mehr Bären. Und seit Trump die USA verändert, wirkt Kanada wie der ruhige Gegenpol. Rund zehn Jahre regierte der in Europa beliebte Justin Trudeau von den Liberalen, Kanada tauchte selten in deutschen Nachrichten auf und wirkte, als hätte es wenige Probleme.
Zwar sind die Waffengesetze in Kanada wirklich strenger als in den USA und es leben wirklich mehr Bären in Kanada (rund 400.000) als in den USA (rund 300.000) – Probleme hat Kanada aber schon. Und die ähneln denen Deutschlands überraschend stark.
Das ist aber nicht das einzige, was an diesen Wahlen hervorsticht. Aktuell liegt die liberale Partei in Umfragen vorne, dicht gefolgt von den Konservativen. Diese Grafik von CBC News zeigt, wie schnell sich das Verhältnis in den vergangenen Monaten drehte:
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Die Liberalen und Konservativen lagen ungefähr gleichauf, bis zum Jahr 2023. Dann überholten die Konservativen und lagen mit großem Abstand vorne. Sie hätten diese Wahlen mühelos gewinnen können. Um zu verstehen, warum die Konservativen so lange vorne lagen und warum sich das Verhältnis jetzt erst umdreht, zeige ich dir in diesem Newsletter noch drei weitere Grafiken, die überraschende Aspekte aus Kanadas Wirtschaft und Politik beleuchten – und welche Lehren sich daraus ziehen lassen.
Kanadas Wirtschaft schwächelt, die Inflation lässt die Preise steigen, es herrscht Wohnungsnot und es gibt Streit darum, wie viel Migration das Land erlauben soll. Diese Grafik von der Canadian Federation of Independent Business (CFIB) zeigt, dass die Arbeitsproduktivität von Kanada weniger stark wächst als im OECD-Durchschnitt. Deutschland beispielsweise liegt mehrere Plätze vor Kanada.
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Für die Wirtschaftsprobleme geben viele dem Ex-Premierminister Justin Trudeau und den Liberalen die Schuld. Ein gutes Beispiel dafür ist dieser Text in der kanadischen Zeitung „Edmonton Journal“. Darin zitiert der Journalist David Staples mehrere Studien, die ein düsteres Bild von Kanadas Zukunft zeichnen: Die Preise für Wohnen und Essen steigen viel schneller als die Einkommen, junge Menschen sind auf das Vermögen ihrer Familie angewiesen, um sich eine Wohnung kaufen zu können und sozialer Aufstieg ist kaum noch möglich.
„Natürlich wird in diesen Studien den Liberalen nicht direkt die Schuld für diese negative Entwicklung gegeben. Das wäre ja auch nicht höflich, oder?“, fragt Staples ironisch. Aber vor der Amtszeit der Trudeau-Liberalen sei die Situation in Kanada besser gewesen. Staples sieht die Ursache dafür in Trudeaus „Politik der hohen Verschuldung, der hohen Steuern, des zügellosen Gelddruckens”, außerdem habe Trudeau die Regierungsbürokratie ausgeweitet und erneuerbare Energiequellen gegenüber reichlich vorhandenem und preiswertem Brennstoff bevorzugt. Außerdem kritisiert Staples die „auf Ethnie und Geschlecht basierenden Einstellungs- und Beförderungspolitik“.
Im Januar kündigte Trudeau seinen Rücktritt an. Zu dem Zeitpunkt lagen die Konservativen in Umfragen mehr als 20 Prozentpunkte vor den Liberalen. Trudeaus Rücktritt und sein Nachfolger Mark Carney gaben den Liberalen einen ersten Schwung.
Dann trat Donald Trump sein Amt als US-Präsident an. Er droht Kanada regelmäßig damit, zum „51. Bundesstaat der USA“ zu werden. Erst vor wenigen Tagen bekräftigte er in einem Interview mit dem Time Magazin, dass es ihm damit ernst sei. Und dann schockierte Trump die Weltwirtschaft noch mit seinen Zöllen, die Kanada, das wirtschaftlich eng mit den USA verflochten ist, besonders hart trafen.
Die USA sind für Kanada der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Fast die Hälfte der importierten Produkte kommen aus den USA und mehr als Dreiviertel der exportierten Produkte gehen in die USA.
Dieses Bild veranschaulicht, wie verflochten die beiden Länder sind. Es zeigt, an welchen Orten Kanadas besonders viele Menschen leben. Die schwarze Linie ist die Grenze zu den USA.
MarginalCost/Wikimedia Commons
Kanada ist flächenmäßig das zweitgrößte Land der Erde und ziemlich leer. Die 40 Millionen Einwohner:innen leben zum größten Teil im Süden des Landes, an der Grenze zu den USA. Würde man die Grenzlinie entfernen, würde man wahrscheinlich gar nicht erkennen, wo welches Land liegt.
Mental gibt es aber einen Unterschied. Wegen Trump gibt es in Kanada jetzt eine Anti-USA-Bewegung. Viele versuchen, keine amerikanischen Produkte mehr zu kaufen oder canceln ihre USA-Reisen. Kurioses Beispiel: Manche Cafés benannten den Kaffee „Americano“ in „Canadiano“ um. Eine Studie des Angus Reid Instituts aus dem Februar zeigt, wie weit verbreitet der Boykott US-amerikanischer Produkte in Kanada ist:
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Viele Kanadier trauen eher dem liberalen Premierminister Mark Carney zu, sich gegen die USA zu behaupten. Der konservative Kandidat Pierre Poilievre ähnelt in seinem Auftreten Trump und sagte beispielsweise, dass unter ihm „Canada First“ gelten werde, in Anlehnung an Trumps „America First“. Die Konservativen versuchten zwar, die innenpolitischen Probleme in den Vordergrund zu rücken, aber mit wenig Erfolg.
Die ersten Ergebnisse gibt es am Dienstagmorgen deutscher Zeit. Egal wie die Wahlen ausgehen, zwei Beobachtungen bleiben:
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Eine äußere Bedrohung kann die politische Stimmung in einem Land stark drehen, auch wenn es drängende innenpolitische Probleme gibt, wie hohe Lebensmittelpreise und Wohnungsnot. Auch in Deutschland kann also noch viel passieren, zum Beispiel wenn die hybriden Angriffe Russlands weiter zunehmen, offensichtlicher werden – oder wenn Russland die Nato tatsächlich „testet“ (in diesem Text habe ich darüber geschrieben, wie so ein Angriff ablaufen könnte).
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Es dauert nur eine Sekunde, eine Vase fallenzulassen, aber viele Stunden, die Stückchen wieder zusammenzukleben – falls sie sich überhaupt wieder kitten lässt. So ähnlich verhält es sich mit den Beziehungen zwischen Ländern und Gesellschaften. Selbst Kanada, das wirtschaftlich eng mit den USA verbunden ist, wendet sich von den USA ab.
Redaktion: Rebecca Kelber