Was Faschisten nicht kleinhält, haben die vergangenen Jahre gezeigt.
Die Demokraten in den USA warnten eindringlich vor Donald Trump und verloren die Wahl deutlich. In Deutschland gingen Millionen gegen den Rechtsruck auf die Straße. Die AfD holte bei der letzten Bundestagswahl mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen.
Das Schicksal der Demokratie ist für viele Wähler nicht das drängendste Problem unserer Zeit. Sie suchen etwas anderes. Aber was?
Das haben Dutzende Bücher, Hunderte Studien und Tausende Artikel ergründet. In ihnen lassen sich zwar sehr aufschlussreiche Antworten finden – aber zu wenige Ansätze, denen die Chance innewohnt, die Populisten, Autoritären und Faschisten auf Jahrzehnte strategisch zu schlagen.
Solch einen Ansatz liefert ein neues Buch der US-Journalisten Derek Thompson und Ezra Klein. Es heißt „Abundance“, zu Deutsch: Fülle, Überfluss.
Der Staat verkümmert
Klein und Thompson schreiben in diesem Buch vor allem über die USA. Aber was sie schildern, erkennen deutsche Leser wieder:
„In Amerika entwickelte sich eine Rechte, die die Regierung bekämpfte, und eine Linke, die sie ausbremste. Debatten über die Größe der Regierung verdeckten die abnehmende Leistungsfähigkeit der Regierung.“
Linke und Rechte stritten sich darüber, wie viel ein Staat eingreifen und an welche Regeln er sich halten soll. Währenddessen aber schmolz die Macht des Staates dahin. Die wirklichen Probleme der Menschen kann er nicht mehr lösen.
In Deutschland zeigt das der Wohnungsmarkt. Seit fast fünfzehn Jahren belasten steigende Mieten und Immobilienpreise die Menschen. Familien müssen in zu kleinen Wohnungen hausen, Alleinstehende in viel zu großen. Ein Haus oder eine Wohnung in der Stadt zu kaufen, ist für junge Menschen ohne Erbe unmöglich geworden.
Die Politik sah zwar das Problem. Aber sie reagierte nicht mit der vollen Macht eines Staates, sondern wie ein einfallsloser Bittsteller.
Regierungen und Staat haben die Kontrolle über den Mietmarkt verloren. Sie führten eine Mietpreisbremse ein, die Mietpreise kaum bremst. Sie erhöhten Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau, die kaum zu mehr sozialem Wohnungsbau führten. Sie unterstützen Bauherren mit billigen Krediten beim Bau. Sie appellierte an die großen Wohnungsbauunternehmen des Landes, mehr zu bauen. Gleichzeitig wird der Mietmarkt von Jahr zu Jahr härter.
Nur, mag sich mancher fragen, wenn ein Staat nicht mehr dafür sorgen kann, dass jeder Bürger den Wohnraum findet, den er braucht – wofür brauchen wir den Staat dann?
Aber immerhin: In unseren zu kleinen Wohnungen hängen nun zu große Fernseher.
Der handlungsschwache Staat war eine unbeabsichtigte Folge eines guten Anliegens
Ezra Klein und Derek Thompson schreiben:
„Ein Überfluss an Konsumgütern lenkte uns von der knappen Zahl an Wohnungen, Energie, Infrastruktur und wissenschaftlichen Durchbrüchen ab.“
Diese Beschreibung trifft ins Herz unserer Probleme. Wer 1990 ins Koma gefallen und heute wieder aufgewacht ist, wird sich, mit Ausnahme von Computern, problemlos zurechtfinden. Sichtbaren Fortschritt gibt es kaum noch, und der einzige Akteur, der diesen Fortschritt wirklich vorantreiben kann, ist gelähmt: der Staat.
Diese Lähmung war nie das Ziel von Politikern. Im Gegenteil, nach der rücksichtslosen Expansion von Städten und Industrie in der Nachkriegszeit wurden völlig zu Recht Umwelt- und Naturschutz zu bestimmenden Themen der Politik. Selbst der Republikaner Richard Nixon konnte sich denen nicht entziehen. Die moderne Umweltbewegung gründete sich. Es war die FDP, die 1974 die Gründung des Umweltbundesamtes vorantrieb.
Fortan, so war damals die Maxime, sollten die schlimmsten Folgen der industriellen Moderne vermieden werden. Die Parlamente und Behörden erließen ein dichtes Geflecht aus Gesetzen und Verordnungen, das sicherstellen sollte, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Klein und Thompson schreiben:
„Der liberale Legalismus - und mit ihm die liberale Regierung - war eher prozess- als ergebnisorientiert geworden. Er hatte sich selbst davon überzeugt, dass die Legitimität des Staates durch die Einhaltung eines endlosen Katalogs von Regeln und Beschränkungen erreicht wird und nicht dadurch, dass er etwas für die Menschen tut, denen er zu dienen vorgibt.“
Wie der Staat etwas umsetzte, wurde wichtiger als die Frage, was er eigentlich umsetzte.
Möglichst viele Menschen, Lobbygruppen, Industrieverbände, NGOs, Parteien und Initiativen sollten die Möglichkeit bekommen mitzureden. Darin sehen Klein und Thompson ein Versäumnis der Linken und liberalen Mitte. Sie wollten gerechte Ergebnisse für alle – und nahmen dafür in Kauf, den Staat zu schwächen.
Die Folgen sehen wir heute: Nachdem der Bundestag in einem historischen Schritt knapp 900 Milliarden Euro beschafft hatte, um Land und Verteidigung zu modernisieren, mahnten viele Expertinnen an, dass das nicht genug sei. Sie stellten eine bange Frage: Kann der Staat dieses viele Geld überhaupt ausgeben?
Wir sind an einem Punkt, an dem viele für möglich halten, dass die Antwort darauf kein schallendes „Ja, er kann!“ ist. Das stellt nicht nur die aktuellen Regierungen infrage, sondern den kompletten Staat, wie ihn die Bürger gerade vorfinden.
Da dieser Staat ein demokratischer ist, steht gleich die ganze Demokratie zur Debatte. Wenn die Demokratie nicht einmal 50 Milliarden Euro mehr pro Jahr in unsere Bahnen, Brücken und Universitäten stecken kann – wer braucht dann eigentlich diese Demokratie noch? Die Politikverdrossenheit im Land lässt sich auch damit erklären, dass politische Antworten auf die großen Probleme im Alltag zögerlich und mutlos wirken.
Wenige bevorzugen Autokratie und Diktatur im direkten Vergleich. Aber alle bevorzugen Dinge, die funktionieren; Staaten, die funktionieren und Regierungen, die Probleme lösen können.
Die USA schaffen es seit 40 Jahren nicht, die beiden Metropolen San Francisco und Los Angeles per Hochgeschwindigkeitszug zu verbinden, obwohl alle Parteien und Politiker die Idee gut finden.
Die Liste desolater Zeugnisse deutscher und gleichzeitig demokratischer Bauprozesse ist lang: der Berliner Flughafen BER, der neun Jahre später eröffnete als ursprünglich geplant. Der Bahnhof „Stuttgart 21“, der im Jahr 2019 fertig sein sollte und es immer noch nicht ist. Die zähe Sanierung der Staatsoper in Berlin oder der jahrzehntelange Bau der Autobahn 49 in Hessen.
Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, ist dies eine Aufzählung von Staatsversagen. Manchen mögen Brücken, Bahnhöfe, Autobahnen und Opern nicht wichtig sein. Aber alle leben gern in einem Land, das Dinge zügig planen und bauen kann.
Die Menschen mögen den Notstand
Bemerkenswert ist, dass es sowohl den USA als auch Deutschland nur dann gelingt, schnell und zügig zu bauen, wenn sie den Notstand ausrufen.
Nur so war das berühmte und tatsächlich effektive „Deutschlandtempo“ nach dem Ukraine-Krieg möglich. Auch dass es endlich funktioniert, Windkraft an Land schnell auszubauen, hat eine einfache Ursache: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat Windräder zu Angelegenheiten des „übergeordneten nationalen Interesse“ erklärt und damit Klagemöglichkeiten stark eingeschränkt.
Im Bundesstaat Pennsylvania in den USA stürzte im Juni 2023 eine Brücke über den Delaware River ein. Sechs Monate später konnten Bürger an gleicher Stelle den Fluss wieder passieren. Das gelang, weil die Regierung einen Notstand ausrief und damit die üblichen Prozesse für Ausschreibung, Planung und Genehmigung beiseiteschieben konnte. Das war den Bürgern Pennsylvanias aber egal. Sie feierten die zügige Neueröffnung.
Ist ein ausgebuffter Prozess für die Bürger vielleicht gar nicht so wichtig? Wollen sie nicht lieber schnell Ergebnisse sehen?
Sichtbare Ergebnisse, große erfolgreiche Vorhaben sind das Rezept, um die demokratische Mitte wieder zu stärken, glauben Klein und Thompson. Denn eigentlich will niemand eine Mietpreisbremse. Alle wollen genügend bezahlbare Wohnungen und aktuell bedeutet das vor allem: neue Wohnungen. Sie wären die Lösung für die Wohnungskrise. Das ist das Ergebnis, das es braucht. Aber wenn eine Regierung verspricht, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen, wer kann das glauben?
Rechte Demokratiegegner versprechen einen starken Staat. Sie senden diese Botschaft mit, wenn sie versprechen, die Migration zu beenden oder aus der EU auszusteigen. Damit signalisieren sie genau jene Handlungsfähigkeit des Staates, die die Menschen im Alltag nicht mehr wahrnehmen. Handlungsfähigkeit ist aber das einzige Versprechen, das viele gerade noch im Wahlkampf hören wollen.
Ein Konflikt, wo der Staat am schwächsten ist
Genau hier knüpfen Thompson und Klein an.
Sie plädieren für einen demokratischen Staat, der wieder selbst baut – „a Liberalism that builds“. Sie glauben, dass das die eine Vision sein kann, die die nächsten Jahrzehnte überdauert:
„Eine Möglichkeit, die Ära zu verstehen, in der wir uns befinden, ist als das chaotische Zwischenstadium zwischen politischen Ordnungen – ein flüssiger Moment, in dem alte Institutionen versagen, traditionelle Eliten taumeln und die Öffentlichkeit nach einer Politik sucht, die sich nach Heute anfühlt statt nach Gestern.“
In ihren Augen wollen Faschisten vor allem den Mangel verwalten. Sie wollen Migranten deportieren, damit wieder mehr Wohnungen für „Einheimische“ da sind. Sie wollen den Zugang zur Krankenversicherung reglementieren, damit es wieder mehr Arzttermine für den Rest gibt.
Klein und Thompson setzen dem eine Agenda des Überflusses entgegen: nicht immer weniger immer rabiater verteilen. Sondern mehr schaffen und bauen, sodass für alle genug da ist. Mehr Wohnungen, mehr Energie, mehr Forschungsdurchbrüche:
„Was ist knapp, das im Überfluss vorhanden sein sollte? Was ist schwer zu bauen, das eigentlich einfach [zu bauen sein] sollte? Welche Erfindungen brauchen wir, die es noch nicht gibt? […] Aus dieser scheinbar einfachen Frage entspringen viele wertvolle Überlegungen. Wenn es nicht genug Wohnraum gibt – können wir mehr schaffen? Wenn nicht, warum nicht? Wenn es nicht genug saubere Energie gibt – können wir mehr erzeugen? Wenn nicht, warum nicht.“
Diese „einfachen Fragen“ von Thompson und Klein legen den Grundstein für ein Land, das sich wieder über sichtbaren Fortschritt definiert und das sich neu erfinden kann.
In der heutigen Zeit bräuchte es viele kleine Revolutionen, um das zu erreichen. Es beginnt beim Denken jedes Einzelnen: Was bin ich bereit, in Kauf zu nehmen, damit es allen wieder besser geht? Denn vielleicht ist der Neubau im eigenen Hinterhof genau das, was unsere Städte in der Wohnungskrise brauchen.
Es geht weiter bei den Menschen, die unsere Gesetze formulieren. Klar, sie stehen unter sehr großem Druck von Lobbyisten, NGOs und Interessenverbänden. Was aber würde passieren, wenn sie deren Einfluss konsequent beiseiteschieben, zu Gunsten von klaren Ergebnissen? So entstünden nur aus jenen Vorschlägen Gesetze, die wirklich weiterhelfen. Das wird für Aufruhr sorgen. Verbände, Unternehmen und Bürger, die es gewohnt waren, immer und überall Einspruch erheben zu können, wird diese Möglichkeit genommen.
Zuletzt die Regierungen und ihre Beamten selbst. Was würde geschehen, wenn sie nicht mehr fragen: „Was dürfen wir?“, sondern „Was können wir?“ Gesetze können geändert und Verordnungen umgeschrieben werden. Es hilft, wenn nicht immer und überall „Rechtssicherheit“ das höchste Ziel von Behördenhandeln sein müsste, sondern gute Ergebnisse.
Was wäre etwa, wenn der deutsche Staat nicht nur wieder selbst Wohnungen baut, sondern das Ganze mit der Neugründung einer Stadt kombiniert, um Aufbruchsstimmung nicht nur zu suggerieren, sondern auch zu leben?
Was hindert uns daran, so lange erneuerbare Energien auszubauen, bis Energie günstig ist und sich auch energieintensive Anwendungen wie die Aluminiumherstellung, CO₂-Abscheidung oder Wasserentsalzung hier in Deutschland lohnen?
Das hört sich unmöglich an, sicher. Aber es hat auch mal unmöglich geklungen, Millionen Kriegsflüchtlingen in der Nachkriegszeit eine Wohnung geben zu können oder in zehn Jahren einen Menschen zum Mond zu schicken. Es gibt auch aktuelle Beispiele: Während der Corona-Pandemie entwickelten Unternehmen unter staatlicher Führung von den USA und Europa innerhalb von neun Monaten einen Impfstoff und verteilten ihn in der Welt.
Eine Abundance-Agenda würde auf erheblichen Widerstand stoßen. In den USA kritisieren Linke die Vorschläge von Klein und Thompson. Weniger Mitspracherechte, mehr Fokus auf Ergebnisse – das riecht trumpig, nach machoistischem „Durchregieren“.
Dennoch leistet das Buch etwas Wertvolles. Es zeigt ein großes Ziel auf, hinter dem sich wirklich viele Demokraten versammeln können: Linke, liberale Mitte, rechte Mitte, Konservative. Bevor die Faschisten den Staat kapern und zerschlagen, können diese Gruppen ihn verteidigen, indem sie ihn neu ausrichten, auf Ergebnisse statt auf Prozesse.
Es braucht mehr Ambition. Wer Großes vorhat, kann auch Großes leisten. Demokratische Regierungen versuchen das schon lange nicht mehr. Sie wollen vor allem rechtlich sauber arbeiten. Das aber wird nicht mehr reichen, um die Demokratie zu retten.
Sie muss sich neu beweisen.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger