Collage: Putin schaut zur Seite, im Hintergrund liegt eine Karte von Europa.

Contributor, FrankRamspott/Getty Images

Politik und Macht

So schnell könnte die Nato zerbrechen

In den nächsten Jahren könnte Russland die Nato angreifen, sagen Expert:innen. Dann zeigt sich, ob die Nato standhält. Das sind die realistischsten Szenarien.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Welche Stadt eignet sich besonders gut für einen atomaren Angriff: München, Hamburg oder doch Garmisch-Partenkirchen? Das diskutierte einer der bekanntesten Journalisten Russlands mit einer Gruppe Männer im russischen Staatsfernsehen. Garmisch-Partenkirchen verwarfen sie schnell, die kleine Stadt sei ja nicht mal die Rakete wert. Alle lachten.

Drohungen mit dem Atomkrieg sind Alltag im russischen Staatsfernsehen, auch wenn sie von einer realen Bedrohung weit entfernt sind. Die russische Propaganda spielt mit der Angst der Europäer:innen, vor allem der Deutschen. Doch es wird immer wahrscheinlicher, dass es tatsächlich zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato kommt. Russland könnte auf konventionelle Weise die Nato angreifen.

Anfang des Jahres warnte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas vor einem russischen Angriff in drei bis fünf Jahren. Der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer sagte bei einer Tagung, dass Russland ab 2029 dazu in der Lage sei, Nato-Gebiet anzugreifen. Analysen verschiedener Geheimdienste, die ein Rechercheteam von WDR, NDR und SZ ausgewertet hat, zeigen ebenfalls, dass sich Russland auf einen „großmaßstäblichen konventionellen Krieg“ bis 2030 vorbereite.

Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass demnächst Bomben auf Berlin fliegen. Von einem atomaren Angriff auf Hamburg oder Garmisch-Partenkirchen ganz zu schweigen. Doch es ist möglich – und sogar ziemlich wahrscheinlich –, dass Russland in wenigen Jahren Nato-Territorium angreift, um das Bündnis zu zerstören.

Ich habe mir angeschaut, welche Szenarien eines russischen Angriffs auf die Nato möglich sind. Niemand beschäftigt sich gerne mit solchen Szenarien, schließlich geht es hier um Krieg, der uns selbst betreffen könnte. Aber je besser Europa darauf vorbereitet ist, desto unwahrscheinlicher ist ein Angriff Russlands.

Was Russland mit einem Angriff bezweckt

Bei all den Szenarien, die derzeit als wahrscheinlich gelten, geht es Russland nicht darum, Polen zu besetzen oder Deutschland in die Russische Föderation einzugliedern. Russlands Ziel ist es, die Nato zu zerstören. Denn Staatspräsident Wladimir Putin will, dass Russland eine Weltmacht ist. Eine, die mindestens den europäischen Kontinent dominiert und ihre Interessen dort einfach durchsetzen kann. Das wäre der Fall, wenn die Nato nicht mehr funktionieren würde.

Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis und soll den 32 Mitgliedsländern Sicherheit garantieren. Ein Angriff auf ein Land wird als Angriff auf das ganze Bündnis gewertet. Wenn zum Beispiel Estland angegriffen wird, bekommt es Unterstützung von Ländern wie Spanien, allerdings ist die genaue Form der Unterstützung nirgends festgelegt. Spanien kann Panzer schicken – oder einfach nur ein Beileidsschreiben.

Die Nato funktioniert, wenn alle Mitgliedstaaten versichern, im Ernstfall ihren Bündnispartnern beizustehen, wenn also Angreifer das ganze Nato-Bündnis fürchten müssen. Genau hier könnte Russland in einem potentiellen Angriff ansetzen. Das funktioniert im Prinzip so: Russland greift zunächst Nato-Territorium an. Wenn die Nato dann nicht zurückschlägt oder sich die Mitgliedstaaten nicht einigen können, wie sie Russland geschlossen begegnen, verliert die Nato als Verteidigungsbündnis ihre Glaubwürdigkeit.

Die Nato basiert auf dem Vertrauen, dass die Bündnispartner einem wirklich helfen würden. Wenn sie das nicht tun, weil sie einen atomaren Gegenschlag fürchten oder weil Spanien keine Lust hat, für Estland in den Krieg zu ziehen, dann ist die Nato zerschlagen. Und Russland hat sein Ziel erreicht.

Wie ein Angriff auf das Baltikum ablaufen könnte

Eines der bekanntesten Szenarien ist ein Angriff Russlands auf das Baltikum, also auf Estland, Lettland oder Litauen – oder auf alle drei Länder zusammen. Die drei Länder gehörten zur Sowjetunion und haben große Anteile russischsprachiger Bevölkerung. Putin behauptet immer wieder, die russischsprachige Bevölkerung in anderen Ländern „schützen“ zu müssen, das ist auch eine seiner Begründungen für den Krieg gegen die Ukraine.

Außerdem eignet sich das Baltikum aus geografischer Sicht gut, um die Nato anzugreifen. Ein Blick auf die Karte zeigt, warum.

Die Karte zeigt einen Ausschnitt Europas, auf dem die Länder Deutschland, Polen, Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Belarus, Russland mit Kaliningrad zu sehen sind. Die Suwalki-Lücke ist dick markiert.

Krautreporter

Estland und Lettland liegen an der Grenze zu Russland. Litauen eingeklemmt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und dem russischen Verbündeten Belarus. Um von Polen nach Litauen zu kommen, bleibt nur ein schmaler Streifen Land, knapp 65 Kilometer Luftlinie. Das ist die sogenannte Suwałki-Lücke, benannt nach der polnischen Stadt Suwałki. Würde Russland die baltischen Staaten angreifen, hätte die Nato also nur einen schmalen Korridor, um für Nachschub zu sorgen und müsste ihre Truppen in gefährliche Nähe zu russischen Kräften bringen.

Wenn Expert:innen überlegen, welche Szenarien eines russischen Angriffs auf die Nato möglich sind, dann diskutieren sie häufig den Angriff auf das Baltikum. Es gibt ein „kleines“ und ein „großes“ Szenario, wie der Militäranalyst Franz-Stefan Gady in seinem Buch „Die Rückkehr des Krieges“ erklärt.

Das „große“ Szenario könnte so aussehen: Russland greift Estland, Lettland und Litauen an, mit mehreren Hunderttausend Mann und Tausenden gepanzerten Gefechtsfahrzeugen. Gleichzeitig greift Russland hybrid an, mit Cyberattacken, Sabotage und einer großangelegten Desinformationskampagne. Möglicherweise gäbe es einen monate- oder jahrelangen Stellungskrieg, mit einer Frontlinie, die sich durch das gesamte Baltikum ziehen würde.

Wahrscheinlich hätte Russland Probleme, so einen großen Angriff zu koordinieren und für genügend Nachschub zu sorgen, schreibt Gady. Er hält deshalb das „kleine“ Szenario derzeit für wahrscheinlicher.

Das könnte zum Beispiel so aussehen: Russland greift Litauen an, mit Unterstützung aus Belarus. Innerhalb weniger Tage nimmt die russische Armee die litauische Hauptstadt Vilnius ein. Wenn die Nato zurückschlägt, aber der Gegenangriff misslingt, kann Russland seine militärische Position festigen und Litauen zu einer Festung ausbauen. Das „strategische Endziel für Russland“, schreibt Gady, bestehe darin, „die Stadt Vilnius quasi als Geisel zu nehmen, um unter Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen die Nato zur Einstellung des Kampfes zu zwingen und so weitere Gegenangriffe zu verhindern.“

Wenn das gelingen würde, verlöre die Nato ihre Glaubwürdigkeit. Und Europa hätte sich erpressbar gemacht. Ein gezielter Angriff und die Drohung mit Nuklearwaffen würden reichen, um allen zu zeigen: Russland kann seinen Willen jederzeit durchsetzen, Europa und die Nato können dem nichts entgegnen.

Welche Szenarien es noch gibt

Über ein weiteres Szenario hat Carlo Masala, Militärexperte und Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, ein Buch geschrieben, das im März dieses Jahres erschienen ist. Es heißt „Wenn Russland gewinnt“ und schildert, wie ein russischer Angriff auf die estnische Stadt Narwa ablaufen könnte. Masala beschreibt, wie der russische Präsident zunächst friedliche Signale aussendet und Europa so in die Irre führt. Wie China die USA im Südchinesischen Meer ablenkt. Wie Russland schließlich Estland angreift und sich Europa uneinig ist, wie genau es reagieren soll, weil unter anderem in Frankreich ein rechtsextremer und russlandfreundlicher Präsident regiert.

Welcher Angriff ist am wahrscheinlichsten? Der auf Estland, der auf Litauen oder doch einer auf das gesamte Baltikum? „Es gibt verschiedene Szenarien und ich würde mich nicht dazu verleiten lassen zu behaupten, welches das wahrscheinlichste ist“, sagt Masala.

Möglich wäre auch, dass Russland einen kaum besiedelten Teil Finnlands angreift, zum Beispiel Lappland. Das ist eine Region im Norden Finnlands und liegt an der Grenze zu Russland. Oder die Inselgruppe Spitzbergen, die zu Norwegen gehört. Bei diesen Szenarien geht es nicht um einen großen Angriff auf die Nato. Russland würde eher testen, wie die Nato im Falle eines Angriffs reagieren würde.

„Da es das Ziel Russlands ist, die europäischen Sicherheitsstrukturen nachhaltig zu zerstören, halte ich die Wahrscheinlichkeit für einen Test in drei oder vier Jahren für sehr hoch“, sagt Masala. Das hänge auch damit zusammen, dass ein Test für Russland mit einem geringen Risiko verbunden sei.

Eine zentrale Frage ist: Wäre die Nato wirklich bereit, für Lappland oder eine kaum bewohnte Inselgruppe in Norwegen den dritten Weltkrieg zu riskieren? Wenn die Nato nicht reagiert, ist zwar erstmal ein größerer Krieg abgewendet, die Nato aber obsolet geworden.

Deutschland und die USA spielen eine Schlüsselrolle

In diesen Szenarien geht es um einen Angriff auf Nato-Territorium, nicht direkt auf Deutschland. Trotzdem wäre Deutschland als Nato-Staat auf mehreren Ebenen von einem russischen Angriff betroffen. Aktuell ist die Bundeswehr dabei, eine dauerhafte Brigade in Litauen aufzustellen. Knapp 5.000 Personen werden dort stationiert sein, mitsamt ihren Familien. Die deutsche Brigade soll Russland abschrecken und Litauen und dem Baltikum Sicherheit geben.

Aber auch deutsches Staatsgebiet spielt eine Schlüsselrolle bei einem potentiellen Krieg gegen Russland. Deutschland liegt im Zentrum Europas. Es wäre das wichtigste Aufmarschgebiet für Nato-Truppen und der zentrale Ort, um die Truppen an der Nato-Ostflanke mit Nachschub zu versorgen. Außerdem liegen die wichtigsten amerikanischen Militärstützpunkte in Deutschland, von denen aus die Verteidigung gegen Russland koordiniert werden würde.

Wenn die USA im Ernstfall überhaupt dazu bereit wären. Wenn es jetzt einen Angriff auf die Nato gäbe, würden die USA Europa wahrscheinlich beistehen, glaubt Masala. „Wenn es den in zwei oder drei Jahren gibt, bin ich mir nicht mehr sicher“, sagt er.

Seit Trump US-Präsident ist, sind die USA kein Freund mehr für Europa und stehen vielleicht sogar eher auf der Seite Russlands. Für die Verteidigungsfähigkeit Europas ist das ein Problem. Und zwar ein gewaltiges.

Die USA stellen sogenannte „Strategic Enabler“ bereit, also Fähigkeiten, die eine Schlüsselrolle spielen. Der Transport von Panzern ist dafür ein anschauliches Beispiel. Ein Panzer, der in Portugal steht, bringt der Nato nur wenig, wenn sie gerade im Baltikum von Russland angegriffen wird. Der Panzer muss also beispielsweise nach Litauen gebracht werden. Hier kommt „Strategic Airlift“ ins Spiel, also große Transportflugzeuge, die Panzer transportieren können. „Davon stellen die USA circa 40 Prozent im Rahmen der Nato“, sagt Carlo Masala.

Es gibt aber noch einen weiteren, entscheidenden Punkt, bei dem die USA in Europa eine Schlüsselrolle spielen. „Nur die USA verfügen in Europa – vor allem in Deutschland – über die notwendigen Strukturen, Kommandozentren, Führungssysteme und die dazugehörigen Stäbe, um die Aktivitäten der gesamten Nato im Ernstfall effektiv und effizient zu koordinieren“, schreibt Gady in seinem Buch „Die Rückkehr des Krieges“.

Die USA sind die Dirigenten der europäischen Verteidigung. Ohne sie wäre zwar jedes Instrument besetzt, aber es gäbe niemanden, der das Orchester bzw. die Streitkräfte koordiniert. Um diese Fähigkeit zu ersetzen, bräuchte Europa nach Masalas Schätzung ungefähr zehn Jahre.

Was wir dagegen tun können

Wie wahrscheinlich ein Angriff ist, hängt auch damit zusammen, wie sehr Europa aufrüstet und ob es glaubhaft vermitteln kann, sich im Ernstfall zu verteidigen. Dabei geht es nicht nur um konventionelle Aufrüstung, also Waffen und Soldat:innen.

Mehr zum Thema

Abschreckung besteht zu einem großen Teil aus Psychologie, aus Überlegungen, wozu die Gegenseite bereit wäre. Und aus Wetten auf die Zukunft. Ob Russland die Nato angreift, hängt auch davon ab, wie Putin die Bereitschaft der deutschen, polnischen oder französischen Gesellschaft einschätzt, sich zu verteidigen und Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Wenn Europa geschlossen wirkt, schreckt das Russland mindestens genauso ab wie ein neues Schuldenpaket für die Verteidigung.

„Wir müssen Resilienz in unseren Gesellschaften schaffen“, sagt Masala. Er meint damit die Bereitschaft, die Kosten eines Konflikts mit Russland zu tragen. „Dazu ist man bereit, wenn man einsieht, dass die Verteidigung der Demokratie ein notwendiges Unterfangen ist.“


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

So schnell könnte die Nato zerbrechen

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App