Warum Putin von einer Konferenz besessen ist, die 80 Jahre her ist
Nicht wegen der 1.000 Flaschen Gin und Whiskey, die die Alliierten 1945 nach Jalta flogen. Sondern wegen der Verhandlungen, die dieser Alkohol ermöglichte.
Vor einigen Wochen tauchte in einer Galerie des Livadia Palace auf der russisch besetzten Krim ein Kunstwerk auf. Darauf zu sehen: Donald Trump, Wladimir Putin und Xi Jinping sitzen jeweils auf einem vergoldeten Sessel. Putin thront in der Mitte und sieht größer aus als Xi und Trump, obwohl er in der Realität deutlich kleiner als die beiden ist.
Der Titel des Kunstwerks: „Jalta 2.0“. Damit spielt es auf die Jalta-Konferenz an, bei der Josef Stalin (Ministerpräsident der Sowjetunion), Winston Churchill (Premierminister Englands) und Franklin D. Roosevelt (Präsident der USA) im Februar 1945 auf der Krim über die Nachkriegsordnung in Europa verhandelten. Konkreter: Sie teilten die Welt in Einflusssphären auf. Am selben Ort, an dem heute das „Jalta 2.0“-Kunstwerk hängt.
Das Bild erzählt, was in den tagespolitischen Meldungen rund um die Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ukraine oft untergeht. Putin will nicht bloß ein Stück Land in der Ukraine, er will die Welt neu ordnen. So wie es Stalin, Churchill und Roosevelt im Februar 1945 taten. Und dank Trump kommt er seinem Ziel immer näher.
1.000 Flaschen Whiskey und Gin: So funktionierte Diplomatie auf der Jalta-Konferenz
Große Ereignisse brauchen große Gesten. Oder jede Menge Alkohol. Das schien in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges Konsens zu sein.
Als Churchill und Roosevelt am Nachmittag des 3. Februar 1945 auf der Krim landeten, um mit Stalin über die Nachkriegsordnung in Europa zu verhandeln, brachten sie neben einer 750 Mann starken Entourage aus Diplomaten, Köchen und Sekretärinnen auch 25 Frachtflugzeuge voller Tischdecken, Weingläser und Pfeffermühlen mit. Und eine Ladung von 1.000 Flaschen Whiskey und Gin.
Stalin wiederum trug seinen Teil dazu bei, aus dem einwöchigen Treffen ein geschichtsträchtiges Ereignis zu machen. Nur ein Beispiel: Als US-Präsident Roosevelt sich beschwerte, dass es für einen ordentlichen Martini Zitronen brauche, ließ Stalin einen Zitronenbaum in Georgien auspflanzen und über Nacht einfliegen, um seinen Gast zufriedenzustellen. So erzählt es der britische Historiker Giles Milton in seinem Buch „Checkmate in Berlin: The Cold War Showdown that Shaped the Modern World“.
In den Verhandlungen versuchte Stalin, die USA und Großbritannien davon zu überzeugen, dass er das sowjetische Territorium ausweiten und eine Schar von Pufferstaaten in Osteuropa unter Moskaus Einfluss belassen konnte. Stalin wollte unter anderem die annektierten Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Ostpolen und Gebiete von Finnland, Ostpreußen und der heutigen Republik Moldau. Im Gegenzug versprach er, den neu gegründeten Vereinten Nationen beizutreten, im Krieg gegen Japan zu helfen und in Ländern wie Polen und der Tschechoslowakei freie Wahlen abzuhalten – ein Versprechen, das er nicht einzuhalten gedachte.
Für Stalin waren die einzigen legitimen sowjetischen Grenzen jene, die er ursprünglich mit den Nazis abgemacht hatte, in den Geheimprotokollen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes. Dort hatte er sich den Einfluss über die baltischen Staaten gesichert und sein Interesse an der heutigen Republik Moldau bekundet. Besonders besessen war er aber von Polen.
„Die Sowjetunion hat das Recht, sich dafür einzusetzen, dass in Polen eine der Sowjetunion freundlich gesinnte Regierung existiert, und […] die Sowjetregierung kann der Existenz einer ihr feindlich gesinnten Regierung in Polen nicht zustimmen“, schrieb Stalin wenige Wochen nach der Konferenz an den neuen US-Präsidenten Harry S. Truman. Es sei „nicht einzusehen, warum man bei der Erörterung der Polenfrage nicht die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion berücksichtigen will.“
Wenn du Polen mit der Ukraine tauschst und aus der Sowjetunion Russland machst, erkennst du die Parallelen dazu, wie Putin heute argumentiert.
Putin und der Kreml sind besessen vom „Prinzip Jalta“
Die Jalta-Konferenz war für Stalin ein Erfolg. Die Sowjetunion durfte nach Ende des Zweiten Weltkriegs die drei von ihr annektierten baltischen Staaten sowie Teile Polens und Rumäniens behalten, so das Ergebnis der Verhandlungen. Und sie sicherten Stalin die Vorherrschaft über einen Teil Deutschlands. Ein guter Deal. Anschließend sicherte sich die Sowjetunion noch die Vorherrschaft über sechs weitere ost- und mitteleuropäische Staaten. Kein Wunder, dass der Kreml bis heute von der Jalta-Konferenz besessen ist.
Im Februar 2015, nach der Annexion der Krim, hielt Putin dort eine Rede zur Feier des 70. Jahrestags der Konferenz. Danach ließ er ein Zehn-Tonnen-Denkmal für Stalin, Roosevelt und Churchill enthüllen – unter dem Protest von Krim-Tataren, deren Vorfahren von Stalin deportiert worden waren. Im September 2015 erklärte Putin in einer Rede bei den Vereinten Nationen die Jalta-Konferenz zur goldenen Vergangenheit. Die Weltgemeinschaft müsse zu dieser Art der internationalen Politik zurückkehren. Ähnlich äußerte sich zuletzt im Februar dieses Jahres der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Artikel zum 80. Jahrestag des Jalta-Abkommens.
Das Prinzip, mit dem Putin die Welt neu ordnen möchte und das auch bei der Jalta-Konferenz galt, basiert auf Einflusssphären. Das heißt, ein starker Staat übt wirtschaftliche, militärische und politische Kontrolle über andere Länder aus, ohne offiziell an der Regierung beteiligt zu sein.
Die Jalta-Konferenz 1945 Von U. S. Signal Corps - Library of Congress , Franklin D. Roosevelt Library & Museum - Gemeinfrei
Einflusssphären sind keine Erfindung Stalins
Einflusssphären haben eine lange Geschichte. Unter Napoleon versuchte Frankreich, in eroberten Nachbarstaaten Marionettenregime einzusetzen, um den eigenen Einfluss auszubauen. Die USA wiederum verabschiedeten 1823 die sogenannte Monroe-Doktrin. Sie besagte, dass sich europäische Länder nicht in die Angelegenheiten auf den amerikanischen Kontinenten einmischen sollten. Lateinamerika, das die USA als ihren „Hinterhof“ sahen, wurde so zu einem Einflussgebiet der Amerikaner.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten Staaten theoretisch selbst über ihr Schicksal bestimmen. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wurde ins Völkerrecht aufgenommen. Doch die USA und Großbritannien standen unter Druck. Der Krieg hatte an ihren Ressourcen gezehrt, die Bevölkerung wollte keine weiteren Kriege. Das heißt, Churchill und Roosevelt konnten Stalin nicht militärisch davon abhalten, in Westeuropa einzumarschieren. Also gingen sie in der Jalta-Konferenz auf seine Forderung ein, um rund um die Sowjetunion einen Ring aus Moskau-treuen Staaten zu errichten.
Die Folgen waren der sogenannte Eiserne Vorhang und der Kalte Krieg. In dieser Phase versuchten nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die USA mit allen Mitteln, Länder in ihre jeweiligen Einflusssphären zu drängen. Dafür unterstützten sie Staatsstreiche und Unabhängigkeitsbewegungen und ließen Kontrahenten ermorden. Aber sie nutzten auch die „Soft Power“ von Musik und Kunst, um ihren globalen Einfluss auszuweiten.
Nach dem Ende der Sowjetunion schien es, als gehörten Einflusssphären und Satellitenstaaten der Vergangenheit an. Russland war geschwächt, zahlreiche Länder des Warschauer Pakts traten der NATO bei, die von den USA errichteten Militärdiktaturen in Lateinamerika fielen. Ein dritter Weltkrieg schien weit entfernt, die USA waren als „Weltpolizei“ die dominierende Supermacht.
Doch die Annäherung ehemaliger Einflussgebiete an Europa und die NATO war für Russland und Putin eine Demütigung. Er sah das so: Amerika weitete seine Einflusszone durch Diplomatie und Kriege im Irak oder Afghanistan aus, Russland durfte keine mehr haben. Als russische Truppen 2008 in Georgien einmarschierten, war klar, dass Putin den Konflikt mit den USA und dem Westen suchte. Er wollte Klarheit darüber schaffen, wo Russlands Einflusssphäre endet und wo die der USA beginnt – egal, was die Bewohner:innen Georgiens, Syriens oder der Ukraine wollen.
Wenn Putin jetzt mit Trump über die Zukunft der Ukraine verhandelt, geht es um mehr als ein Land. Russland will das Prinzip der Einflusssphären von Großmächten wiederbeleben.
Auch Trump will wieder über seine Einflusssphäre bestimmen
Putins Stück des Kuchens sind die ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts. Er sieht das Baltikum, die Ukraine oder Moldau als Einflussgebiete, in denen der Kreml legitime „Sicherheitsinteressen“ verfolgt. Was dort passiert, sollte Moskau bestimmen und keine von westlichen Werten geprägte Zivilgesellschaft, die mehr Demokratie fordert.
Seit Donald Trump US-Präsident ist, läuft diese Auseinandersetzung nach Plan. Trump verhandelt direkt mit Putin über die Ukraine, ohne dass das Land selbst mitsprechen darf. Kommt es zu einem Waffenstillstand nach russischen Bedingungen, wird die Ukraine de facto wieder Teil des russischen Einflussgebiets. Das Wichtigste für Putin ist aber: Die USA und Russland beziehungsweise zwei Männer, die sich selbst als große Herrscher sehen, sitzen jetzt wieder als gleichberechtigte Großmächte am Tisch und teilen die Welt untereinander auf.
Putin will die Ukraine und möglicherweise bald das Baltikum oder Moldau vereinnahmen. Trump wiederum erhebt Anspruch auf Kanada, Grönland oder Panama. Expert:innen sprechen von einem Comeback der Monroe-Doktrin: Die USA wollen wieder allein bestimmen, was in den Staaten der westlichen Hemisphäre geschieht.
Beide verfolgen dabei unterschiedliche Ziele: Putin ist Ideologe und will ein Imperium wieder aufbauen, Trump will seine Einflusszone ausplündern, etwa durch Rohstoffdeals mit der Ukraine. Putin will ein langfristiges russisches Reich für die nächsten Jahrzehnte aufbauen, Trump will kurzfristige Erfolge, um sich selbst zu inszenieren. Dem einen geht es um Geld und Anerkennung, dem anderen darum, in die Geschichte einzugehen. Der eine ist als Narzisst leicht zu umgarnen, der andere Stratege.
Doch was beide vereint, ist das Gefühl, dass ihr Land als Weltmacht gedemütigt und ausgenutzt worden ist und der Wunsch, zu einem alten Prinzip der Geopolitik zurückzukehren. Sie wollen die Weltpolitik wieder in kleiner Runde untereinander aushandeln, ähnlich wie es Stalin, Roosevelt und Churchill 1945 in Jalta taten. Es geht um die Rückkehr zu harter Macht statt Soft Power, die einem alten Grundsatz folgt: „Die Starken tun, was sie wollen – die Schwachen, wozu sie gezwungen werden.“
Was das in der Realität bedeuten könnte, hat der Kreml-Vordenker Alexander Dugin kürzlich so ausgedrückt: „Das Ende des Globalismus. Das Ende der Ukraine. Das Ende von Kanada. Das Ende der EU. Genug. Lasst uns ernst machen. Big Boy’s Deal.“
Redaktion: Rebecca Kelber, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger
Warum Putin von einer Konferenz besessen ist, die 80 Jahre her ist