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Es fühlt sich an, als würde es nicht aufhören.
Mannheim, Solingen, München: In den vergangenen Monaten haben zahlreiche Gewalttaten das Land erschüttert. Immer mehr Städtenamen werden zu einer Chiffre für die Hilflosigkeit einer offenen Gesellschaft, in der sich fast jeder Zweite vor Terror fürchtet.
Für Rechtspopulist:innen ist es leicht, auf solche Anschläge zu reagieren. Schuld sind natürlich die Ausländer:innen, die einfache Lösung ist es, möglichst viele Migrant:innen abzuschieben oder sie gar nicht erst ins Land zu lassen.
Aber auch für alle anderen geht in der Debatte vieles durcheinander. Ich habe mit fünf Islamismus-Expert:innen gesprochen und dabei gemerkt, wie viel Unkenntnis bei all der Aufregung herrscht. Etwa, wenn Union und SPD jetzt Migrant:innen an der Grenze abweisen wollen, obwohl diese Maßnahme das Problem nicht löst. Deshalb zeige ich dir in diesem Text sechs wichtige Missverständnisse zum islamistischen Terror in Deutschland und was wirklich gegen ihn helfen würde. So bist du fundiert vorbereitet auf die nächste Debatte am Küchentisch.
1: Islamismus in Deutschland wird nicht stärker, sondern schwächer
2: Nicht Migration ist das Problem, sondern das deutsche Asylsystem
3: Islamisten sprechen junge Menschen ausgerechnet mit Diskriminierung an
4: Die Täter sind heute andere als vor zwanzig Jahren
5: Es liegt nicht allein an TikTok
6: Oft haben die Täter keine ausgefeilte islamistische Ideologie
7: Das hilft wirklich gegen islamistischen Terrorismus
Islamismus in Deutschland wird nicht stärker, sondern schwächer
Ja, Deutschland hat ein Problem mit islamistischem Extremismus. Aber es wird aktuell nicht größer, obwohl es sich nach den Messerattacken und Amokfahrten der vergangenen Monate manchmal so anfühlt. Denn einige der Gewalttaten, etwa von Magdeburg und Aschaffenburg, hatten kein islamistisches Motiv. Bei der Todesfahrt von München oder der Messerattacke von Solingen wiederum handelt es sich vermutlich um islamistischen Terror. Medien und Politik haben all diese Angriffe in einen Topf geworfen, weil die Täter nicht in Deutschland geboren wurden.
Der Islamwissenschaftler Kaan Orhon arbeitet bei der Beratungsstelle Grüner Vogel, die Menschen bei ihrem Ausstieg aus dem militanten Islamismus unterstützt. Er sagt: „Jede Tat ist schlimm, aber Anschläge mit Messern und Autos sind ein Zeichen der Schwäche des IS.“ Wenn der IS könnte, würde er Anschläge umsetzen wie im Bataclan. Das ist der Konzertsaal in Paris, in dem IS-Attentäter im Jahr 2015 mit Sturmgewehren, Granaten und Sprengstoffwesten 90 Menschen ermordeten. Aber zu solchen Taten sei die Organisation aktuell nicht in der Lage. „Der Islamismus in Deutschland durchläuft momentan eine Schwächephase“, sagt Orhon.
„Die Anzahl islamistischer Anschläge in Deutschland nimmt aktuell nicht zu“, sagt auch Lea Brost von der Universität London. Sie hat sich als Teil eines Forschungsteams am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik die islamistisch-extremistische Szene in Deutschland von 2001 bis 2023 angeschaut. Ihr Ergebnis: Zwischen 2015 und 2017 hat es deutlich mehr Anschläge gegeben als heute. Damals befand sich der Islamische Staat in Syrien und im Irak auf dem Höhepunkt seiner Macht und rekrutierte weltweit Anhänger:innen. 2016 ermordete Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz 13 Personen.
Ein Blick auf die Zahlen des Verfassungsschutzes zeigt: Seit 2016 gab es in Deutschland insgesamt zwölf islamistisch motivierte Anschläge. Hinzu kommen 25 verhinderte Anschläge bis Januar 2024 und fünf Anschlagsversuche, die aus technischen Gründen scheiterten. Die meisten islamistischen Attentate fanden 2016 statt, zur Hochzeit des IS.
Sehr wenige Muslim:innen in Deutschland stehen aktuell im Verdacht, als islamistische Gefährder:innen, Terroranschläge zu planen. Das Bundeskriminalamt zählt 472 von ihnen. 208 befinden sich auf freiem Fuß, der Rest sitzt im Gefängnis oder lebt im Ausland, zum Beispiel als Teil des IS in Syrien oder im Irak.
Damit gelten nur 0,01 Prozent aller Muslim:innen in Deutschland als islamistische Gefährder:innen, sagt eine Studie des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
Die islamistische Szene in Deutschland besteht aktuell aus rund 27.200 Personen. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen. Zum Vergleich: Das rechtsextreme Personenpotenzial liegt aktuell bei 40.600 Personen, von denen rund 14.500 als „gewaltorientiert“ gelten.
Kaan Orhon von der Beratungsstelle Grüner Vogel sagt deshalb, der Alarmismus von Politiker:innen und Medien gehe an der Realität vorbei und spiele den Extremisten in die Hände. Denn Terror ist nicht einfach Gewalt, sondern kommunikative Gewalt. Die Taten stehen nicht für sich, sondern sollen die Bevölkerung verunsichern und ein Gefühl der permanenten Bedrohung schaffen, um die Gesellschaft weiter zu spalten. Es hilft den Islamist:innen also, wenn Politiker:innen und Medien Angst und Schrecken vor Terroranschlägen verbreiten.
Nicht Migration ist das Problem, sondern das deutsche Asylsystem
Fast alle erfolgreichen islamistischen Anschläge der vergangenen Jahre wurden von Menschen durchgeführt, die als Asylsuchende nach Deutschland kamen. Das liegt nicht daran, dass Geflüchtete generell krimineller sind. Laut einer Studie des Ifo-Instituts aus dem Februar 2025 führt Migration nach Deutschland, auch von Asylsuchenden, nicht zu einer höheren Kriminalitätsrate an den jeweiligen Zuzugsorten.
„Die meisten Attentäter sind nicht als Extremisten hier angekommen, sondern haben sich in Deutschland radikalisiert“, sagt Martin Kahl vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Eine Frage werde oft ignoriert, nämlich, was die Lebensumstände damit zu tun haben.
Eine Studie zeigt, dass die Bleibeperspektive von Geflüchteten entscheidend für die Frage ist, ob jemand kriminell wird: Menschen mit guter Bleibeperspektive können sich schnell um einen Job oder ihre Deutschkenntnisse kümmern. Wer aber nur geduldet wird oder sich jahrelang in einem Wartestatus befindet, hat keine Planungssicherheit und ist anfälliger dafür, kriminell zu werden. Geduldete Menschen gelten als „ausreisepflichtig“, können aber nicht abgeschoben werden. Zum Beispiel, weil sie keine Papiere haben, oder weil ihr Herkunftsland unsicher ist. Sie haben insgesamt wenige Rechte und dürfen meist nicht arbeiten.
Generell gilt: Ein Asylverfahren dauert in Deutschland durchschnittlich 8,7 Monate. Manche Menschen, besonders aus Westafrika, müssen aber bis zu 20 Monate auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag warten. In dieser Zeit leben sie meist in Sammelunterkünften und ohne an der Gesellschaft teilhaben zu können. Auch an psychologischer Versorgung fehlt es oft.
Insgesamt leben Migrant:innen und Geflüchtete in Deutschland oft in schwierigen Umständen. Besonders, wenn sie einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben. Und diese Lebensumstände nutzen Islamist:innen aus, um neue Leute zu rekrutieren.
Dazu kommt aber auch, dass viele Geflüchtete junge Männer sind. Sie werden grundsätzlich häufiger kriminell, egal woher sie kommen. Außerdem begehen arme und wenig gebildete Menschen häufiger Straftaten. Beides betrifft Migrant:innen besonders.
Islamisten sprechen junge Menschen ausgerechnet mit Diskriminierung an
Islamistische Rekrutierer und Propagandisten überlegen sich sehr genau, wie sie potenzielle Rekruten ansprechen und wie sie die Lebensumstände junger Muslime in Deutschland dafür nutzen können, sie zu radikalisieren.
Laut Eva Herschinger, Professorin für Sicherheitsforschung an der Universität der Bundeswehr München, gehen Islamisten oft auf potenzielle Rekruten zu, indem sie Diskriminierungserfahrungen ansprechen, die Muslime selbst erleben oder auf die Abwertung von Muslimen als Gruppe zielen.
Sie sagen: Muslime werden im Westen diskriminiert. Frauen zum Beispiel aufgrund ihrer Kleidung, Männer aufgrund ihres Glaubens oder ihres Aussehens. Viele junge Asylsuchende, weil sie nur geduldet, aber nicht akzeptiert werden. Das Angebot der Islamisten ist verlockend, es lautet: Bei uns gehörst du zu den Starken. Bei uns hast du einen Platz in der Gruppe.
„Dieses Opfernarrativ funktioniert auf individueller und auf Gruppenebene“, sagt Herschinger. Das heißt, die Angesprochenen können solche Erfahrungen selbst gemacht haben oder die Muslimgemeinschaft insgesamt als benachteiligte Gruppe wahrnehmen. In beiden Fällen locken die Islamisten die Angesprochenen über die Ablehnung der westlichen Gesellschaft in den Extremismus.
Neben alltäglichen Diskriminierungserfahrungen nutzen Islamisten deshalb zwei politische Themen besonders: „Fast alle Anschläge in Europa in den vergangenen Jahrzehnten haben etwas mit Außenpolitik oder Blasphemie zu tun“, sagt Jakob Guhl vom Institute for Strategic Dialogue.
Einerseits hätten sich viele Islamisten aufgrund von islamfeindlichen Aktionen wie Koranverbrennungen radikalisiert, sagt Guhl. In Schweden verbrannte 2023 ein Aktivist mehrere Korane in der Öffentlichkeit, es kam zu Protesten und diplomatischen Konflikten.
Der Krieg in Gaza sei aber aktuell das zentrale Thema, um Menschen zu radikalisieren. Denn die Kriegsverbrechen Israels sind ein Thema, das Millionen von Menschen emotionalisiert, besonders junge Menschen, und sie passen hervorragend in die Erzählung des IS, der Westen unterdrücke Muslime.
Die Bundesregierung liefert Israel Waffen und unterstützt die Regierung so. Viele Menschen, besonders Muslime, werfen dem Westen und Deutschland deshalb Doppelmoral vor: Wenn es um die Verteidigung der Ukraine geht, prangere die EU Menschenrechtsverletzungen an. Wenn es um muslimische Menschen in Gaza geht, dann nicht. Islamisten nutzen diese Empörung, um gegen den Westen und Israel Stimmung zu machen. Mit Erfolg.
Seit dem 7. Oktober zielen viele Anschläge und Anschlagspläne in Europa auf israelische Botschaften, pro-israelische Demonstrationen oder jüdische Einrichtungen. Der Attentäter von Solingen beschrieb seine Tat explizit als Rache für die Menschen in Gaza. Als ein 15-Jähriger im März 2024 einen orthodoxen Juden in Zürich niederstach, wiederholte er exakt die Worte einer IS-Erklärung vom Januar 2024: „Der Glaube, dass das Bekämpfen von Juden sich auf Palästina beschränkt, ist falsch“, sagte er, „der Kampf findet überall auf der Erde und unter dem Himmel statt.“
Die Täter sind heute andere als vor zwanzig Jahren
Es gibt kein eindeutiges Täterprofil islamistischer Attentäter. Aber es gibt Trends, die sich beobachten lassen. Die meisten Attentäter sind Männer, oftmals unter 30 Jahren. Allgemein lässt sich sagen, dass Männer häufiger straffällig werden als Frauen. Junge Menschen wiederum sind insgesamt vulnerabler und unsicherer in ihrer Identität, also sensibler für empfundene Ungerechtigkeiten und Zugehörigkeitsversprechen. Kaan Orhon von der Beratungsstelle Grüner Vogel teilt die Attentäter der vergangenen 25 Jahre in Deutschland in drei Trends ein.
In den frühen 2000er Jahren, zur Hochzeit von Al Kaida, handelte es sich ihm zufolge vor allem um junge Männer, die hochgebildet waren und oft naturwissenschaftliche Fächer studierten. Sie organisierten sich häufig in Gruppen und agierten gemeinsam. Ein Beispiel ist die Hamburger Terrorzelle, die die Anschläge vom 11. September 2001 plante und durchführte.
In den 2010er Jahren, als der IS zur wichtigsten islamistischen Terrororganisation geworden war, verübten in Deutschland oft Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad und schwierigen Biografien islamistische Anschläge. Sie hatten oft selbst Gewalt erfahren oder waren bereits straffällig geworden. In anderen europäischen Ländern handelte es sich manchmal um IS-Rückkehrer. In dieser Gruppe spielen auch Frauen eine Rolle: Rund 20 bis 25 Prozent der IS-Ausreisenden waren weiblich.
Inzwischen sind die Täter wieder fast ausschließlich Männer, und sie sind jung wie nie. Oft planen und begehen 13- bis 18-jährige Teenager Anschläge oder Menschen mit unklarem Bleibestatus. Das heißt: Sie wissen nicht, wie lange sie in Deutschland bleiben können oder ob sie abgeschoben werden. Gerade bei Minderjährigen gilt, dass sie Opfer und Täter zugleich sind: Opfer, weil ihre Lebensumstände von Propagandisten und Rekrutierern ausgenutzt werden. Täter, weil sie anderen Gewalt antun und Propaganda verbreiten.
In der Realität vermischen sich diese Profile und Eigenschaften. Insgesamt gilt: Früher organisierten sich islamistische Gewalttäter mehr in Gruppen, heute führen sie ihre Taten häufiger alleine aus. Es gibt seltener direkte Bindungen an Organisationen wie den IS, aber seine Inhalte spielen weiterhin eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung und Tatrechtfertigung. Und immer gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel.
Der mutmaßliche Attentäter von München war laut bisherigen Erkenntnissen ein junger Mann mit einem Job, Hobbys und Freunden. Sein Social-Media-Auftritt zeigt jemanden, der gern Markenklamotten trägt, Sport macht und religiös ist, aber nicht extremistisch. „Hätte den vorher jemand der Polizei oder dem Verfassungsschutz gemeldet, hätten die ihn wahrscheinlich schnell ad acta geschoben“, sagt Jakob Guhl vom Institute for Strategic Dialogue.
Es liegt nicht allein an Tiktok
Islamistische Propaganda in den sozialen Medien ist ein großes Problem. Es gibt Prediger oder islamistische Influencer mit Hunderttausenden Follower:innen. Sie sprechen über den Krieg in Gaza, Diskriminierung oder ganz alltägliche Dinge wie Klassenfahrten, Familienprobleme oder Beziehungen und erreichen so besonders junge Menschen.
Wer auf Tiktok islamischen Content sucht, landet schnell bei extremistischen Accounts, die ihre Ideologie auf Arabisch, Englisch oder Deutsch verbreiten. In den Kommentarspalten sind Rekrutierer unterwegs, um Jugendliche in private Chatgruppen einzuladen. Dort gibt es dann nicht nur die extremeren Inhalte, sondern auch eine eigene Meme-Kultur, Witze, Sprachcodes und vor allem eines: Zugehörigkeitsgefühl und Rebellion. Gegen die eigene Familie, die Schule, Status quo oder den Westen.
Zuletzt wirkte es so, als würden minderjährige Jugendliche durch Tiktok von selbst zu Islamisten. Aber das ist zu kurz gedacht: „Man kann nicht sagen, dass eine Person sich einfach nur online radikalisiert hat“, sagt Lea Brost von der Universität London. „Es gibt meistens Faktoren im Offline-Leben, die eine Radikalisierung beeinflussen.“ Das können einerseits Erfahrungen von Diskriminierung oder fehlender Zugehörigkeit sein, die ich oben beschrieben habe. Andererseits gebe es selbst bei Fällen, in denen sich Täter vor allem im Netz radikalisieren, normalerweise Menschen in ihrem Umfeld, die Impulse liefern: Die meisten Attentäter tauschen sich mit anderen aus und bekommen Anweisungen zum Waffenbau oder Inspiration von anderen.
Immer aber gilt: Auch wenn Täter die Anschläge selbst vorbereiten, sich die Tatmittel selbst besorgen und allein handeln, sind sie genau genommen keine Einzeltäter. „Das würde bedeuten, die Person generiere Ideen, Pläne oder das Wissen vollkommen allein aus sich heraus“, sagt Herschinger von der Universität der Bundeswehr. „Das ist aber nicht der Fall, da sich die Täter weltweit verfügbarer Ideen anderer bedienen und so – auch persönliche – Bezüge zu Gleichgesinnten herstellen.“
Oft haben die Täter keine ausgefeilte islamistische Ideologie
In den vergangenen Monaten haben Medien und Politiker:innen nach jedem Attentat intensiv über Migration debattiert, weil die Attentäter als Asylsuchende nach Deutschland kamen. „Aber durch die Reduzierung auf Migration geschieht eine De-Politisierung der Motive hinter den Anschlägen“, sagt Jakob Guhl. Er fordert, nicht nur die Herkunft der Täter in den Blick zu nehmen, sondern auch deren Motiv.
Und das ist im Fall von islamistisch motivierten Taten in den vergangenen Jahren oft diffuser geworden. Im Gegensatz zum Rechtsterrorismus gibt es keine selbst geschriebenen Pamphlete oder Taterklärungen, sondern oft nur Posts oder Kurzvideos, die dem IS die Treue schwören oder die Tat rechtfertigen.
„Man muss nicht alle Schriften gelesen haben oder die Reden von al-Baghdadi kennen, um sich als islamistisch-extremistisch zu begreifen“, erklärt Jakob Guhl. Abu Bakr al-Baghdadi war bis zu seinem Tod 2019 Anführer des IS und hielt zahlreiche Reden, um seine Ideologie in aller Welt zu verbreiten. Viel wichtiger als die Theorie der Islamisten sei aber eine Ablehnung der deutschen und westlichen Gesellschaft.
Dem stimmt auch Martin Kahl vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg zu. Er sagt, manchen Tätern ginge es nicht direkt darum, dem IS zu helfen oder dessen Strategie voranzutreiben, sondern um ihr eigenes Seelenheil. Sie nutzten die islamistische Ideologie wie ein Salatbar-Buffet.
Die Täter picken sich heraus, was ihnen gefällt und was in die eigenen Lebensumstände passt. Manchmal motiviert erst die Ideologie zur Gewalt. In anderen Fällen ist sie eine Art „Tatveredelung“, um die eigene Gewalt aufzuwerten: Aus einem Mord wird dann ein Racheakt für die getöteten Palästinenser:innen in Gaza. Das verspricht Anerkennung in der Community.
Insgesamt gilt: Die Ideologie spielt bei islamistisch motivierten Attentaten immer eine Rolle, auch dann, wenn der Täter zum Tatzeitpunkt an einer psychischen Erkrankung litt. Laut Analysen ist das bei politisch radikalisierten Taten jeder fünfte Täter. „Ideologie und eine psychische Erkrankung schließen sich nicht aus, sondern können sich gegenseitig befeuern“, sagt Kaan Orhon von der Beratungsstelle Grüner Vogel.
Das hilft wirklich gegen islamistischen Terrorismus
Alle Expertinnen und Experten, mit denen ich gesprochen habe, sind sich einig: Die meisten als Asylsuchende eingereisten Attentäter radikalisieren sich in Deutschland und nicht in ihren Herkunftsländern. Es gibt also Sinnvolleres, was die Politik gegen den militanten Islamismus tun kann, als die Grenzen dichtzumachen oder das Asylrecht abzuschaffen.
Asylverfahren beschleunigen
Egal, ob man das Asylrecht verschärfen möchte oder nicht: Es braucht schnellere Verfahren, um Klarheit für Asylsuchende zu schaffen. Sämtliche Expertinnen und Experten sind sich einig, dass ein unklarer Aufenthaltsstatus und jahrelange Wartezeiten ohne Arbeitsmöglichkeiten ein Türöffner für Radikalisierung sind. Gefühle von Perspektivlosigkeit, Wut und Frustration kann die islamistische Szene hervorragend gebrauchen.
Therapieplätze für Geflüchtete schaffen
Wer in Deutschland einen Therapieplatz sucht, muss oft Monate warten. Für Geflüchtete oder Menschen in Asylverfahren ist es oft noch schwieriger, einen Platz zu finden. Dabei haben die meisten von ihnen in ihrer Heimat oder auf der Flucht Traumatisches erlebt. Schätzungen gehen davon aus, dass jede:r vierte eine Psychotherapie bräuchte. Der Staat könnte also mehr Therapieplätze für Geflüchtete schaffen und auch Angebote in Erstunterkünften ausweiten. Zudem braucht es mehr Therapeut:innen, die sich mit Kriegstraumata und Islamismus auskennen und entsprechende Sprachkenntnisse mitbringen, um Menschen auf Arabisch, Farsi oder Urdu zu unterstützen.
Ausstiegsarbeit fördern
Es braucht mehr Ausstiegsangebote und sie müssen besser finanziert werden. Aktuell arbeiten viele Organisationen wie der Grüne Vogel nur mit Menschen, die sich freiwillig bei ihnen melden. Einerseits, weil eine Motivation zum Ausstieg die Arbeit erleichtert. Andererseits, weil den Organisationen die Mittel fehlen, aktiv auf Menschen in der Szene zuzugehen und sie vom Ausstieg zu überzeugen. Mit mehr Angeboten wäre auch das möglich.
Ausgeruhter über Islamismus sprechen
„Einseitige, ausgrenzende Debatten bedienen islamistische Propaganda”, sagt Kaan Orhan vom Verein Grüner Vogel. Die Forderung, die doppelte Staatsbürgerschaft abzuschaffen, passe den Islamisten zum Beispiel hervorragend in den Kram. Denn das bestätigt ihre Erzählung, man könne offensichtlich nicht gleichzeitig Deutsch und Muslimisch sein. Wenn Politiker:innen gegen Migrant:innen hetzen, um Islamismus zu bekämpfen, tappen sie in die Falle der Extremisten und erleichtern deren Arbeit.
Eva Herschinger von der Universität der Bundeswehr warnt davor, die absolute Kontrolle über islamistischen Terror zu versprechen. „So wie in einer offenen Gesellschaft Kriminalität existiert, müssen wir bis zu einem gewissen Grad auch damit leben, dass es Terrorismus weiter geben wird“, sagt sie.
Die Frage sei vielmehr, was die Leute im islamistischen Extremismus suchen. „Was geben extremistische Ideologien oder terroristische Gruppierungen den Menschen, das unsere Demokratie ihnen nicht gibt?“, fragt sie. Die Forschung hat Antworten, sagt sie: „Ganz grundsätzlich geht es radikalisierten Menschen darum, dass sie dazugehören wollen, Anerkennung erfahren und einen Lebenssinn finden. Das scheinen sie manchmal leichter in extremistischen Gruppierungen zu finden, als in unserer Gesellschaft.“
Redaktion: Rebecca Kelber und Lea Schönborn, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger
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