Im Jahr 1948 segelten kleine Fallschirme auf West-Berlin herunter. An ihnen hingen Päckchen, die mit Kaugummi, Schokolade und Rosinen gefüllt waren.
Die Sowjetunion hatte im Juni 1948 die West-Sektoren Berlins abgeriegelt. Schnell mangelte es an Lebensmitteln in den Gebieten der Stadt, die Großbritannien, Frankreich und die USA verwalteten. Die Westmächte versorgten die eingeschlossene Stadt daraufhin über eine Luftbrücke, die Flugzeuge landeten im Minutentakt. Einer der Piloten kam auf die Idee, Süßigkeiten mit selbstgebastelten Fallschirmen herabzuwerfen, um den Kindern eine Freude zu machen. Andere Piloten machten es ihm nach. So kamen die „Rosinenbomber“ zu ihrem Namen. Sie wurden zum Symbol für die Aussöhnung der USA mit Deutschland.
In der Geschichte gibt es immer wieder Ereignisse, die für den Beginn einer neuen Zeit stehen. Die Berlinblockade 1948/49 war so ein Ereignis, sie läutete den Kalten Krieg ein. Als Russland am 24. Februar 2022 die gesamte Ukraine überfiel, war ebenfalls klar: Hier beginnt eine neue Konfrontation. Bundeskanzler Olaf Scholz hielt seine Zeitenwende-Rede. Gerade findet wieder ein Umbruch statt: Die USA sind kein Freund mehr für Europa, Jahrzehnte der Zusammenarbeit zerbröseln. Sie wenden sich von Deutschland ab und Russland zu.
Aus der Perspektive eines einzelnen Menschen erscheint es oft abstrakt und weit weg, sich mit der Weltordnung und internationalen Beziehungen zu beschäftigen. Doch die Folgen dieser globalen Umbrüche rücken immer näher an das Leben einzelner Menschen, auch der Deutschen, heran.
Wie viel Deutschland für Verteidigung ausgeben muss, ob die Wehrpflicht wieder eingeführt wird, ob es in den kommenden Jahren mehr Kriege in Europa gibt – all das hängt auch davon ab, was US-Präsident Donald Trump entscheidet. Jahrzehntelang standen die USA an der Seite Deutschlands. Jahrzehntelang konnte sich die Bundesrepublik darauf verlassen, in Washington auf offene Ohren zu treffen. Das gilt nicht mehr.
Deutschland und Europa sind jetzt auf sich gestellt und das ist für Westeuropa ein größerer Bruch als es Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine im Jahr 2022 war. Die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik wird sich verändern müssen – mit Folgen für jeden Einzelnen von uns.
Das ist ein großer Satz, schon klar. Wieder alles sehr abstrakt. Aber in diesem Text will ich dir zeigen, dass dieser Satz berechtigt ist, dass wir wirklich an einem großen Wendepunkt stehen. Dazu müssen wir in die Geschichte schauen, in drei Kapiteln.
Kapitel 1: Die Anbindung
Am 2. Mai 1945 hisste ein sowjetischer Soldat die rote Fahne auf dem Reichstag. Das Foto davon ist ikonisch, ein Symbol für die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Danach wurde Deutschland in vier Besatzungszonen unterteilt. Im ostdeutschen Teil versuchte die Sowjetunion, ein sozialistisches Deutschland aufzubauen. Im westdeutschen Teil verfolgten die USA ihre eigenen Ziele.
Es sei ein zentrales Ziel amerikanischer Außenpolitik gewesen, Deutschland und Japan zu demokratisieren, schreibt Detlef Junker, Historiker für amerikanische Geschichte in seinem Buch „Deutschland und die USA“, in dem er 150 Jahre transatlantische Beziehungen zusammenfasst. „Weder vorher noch nachher haben die Amerikaner so viele Ressourcen aufgewendet, um zwei fremde und besetzte Nationen nach ihrem Vorbild politisch, gesellschaftlich und kulturell zu verwandeln“, schreibt Junker.
1947 präsentierte der US-Außenminister den Marshall-Plan, ein Wiederaufbauprogramm für Westeuropa. Die USA lieferten Lebensmittel und Rohstoffe und vergaben Kredite. Sie gründeten die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), bis heute einer der größten Förderbanken der Welt. Knapp eineinhalb Milliarden US-Dollar flossen in den Nachkriegsjahren aus den USA nach Westdeutschland.
Insgesamt ist umstritten, welche Wirkung der Marshall-Plan auf die deutsche Wirtschaft hatte. Es ist auch schwer zu bemessen. In jedem Fall war der Marshall-Plan ein PR-Erfolg, der dazu beitrug, die USA in Deutschland beliebt zu machen.
Die Rosinenbomber sind zum Symbol dafür geworden, wie sich das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA wandelte. Während des Krieges warfen amerikanische Flugzeuge Bomben über West-Berlin ab. Nur wenige Jahre danach waren es Kohlen zum Heizen, Mehl und Schokolade. Aus Feinden wurden Freunde – so wird die Geschichte der Luftbrücke heute erzählt.
Ein Gruppe von Kindern winkt einem der Flugzeuge zu, das ihnen lebenswichtige Waren liefert. Bettmann/Getty Images
Die Amerikaner:innen wollten die Deutschen entnazifizieren, umerziehen und Demokratie-fähig machen. „Diesen Prozess kontrollierten die Amerikaner in ihrer Zone sehr genau“, schreibt Junker. Die USA schickten deshalb nicht nur Soldaten und Geld, sondern auch rund 15 Millionen Bücher nach Westdeutschland. In den 1950ern entwickelten sie das damals größte je durchgeführte Austauschprogramm.
Das Ganze hatte für die USA einen konkreten Nutzen: die sogenannte „doppelte Eindämmung“. Die Sowjetunion sollte bekämpft und Deutschland gleichzeitig davon abgehalten werden, den nächsten Weltkrieg anzufangen. Als 1950 der Krieg zwischen dem kommunistischen Nordkorea und dem USA-unterstützten Südkorea ausbrach, erlaubten die USA sogar eine begrenzte Wiederbewaffnung Deutschlands. Das war, nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, fast undenkbar. Aber ab den 1950ern beherrschte der Kalte Krieg die Politik und das Leben vieler Menschen. Und die BRD, das östlichste Land des Westens in Europa, war direkt an der Front. 1955 trat Deutschland der Nato bei, im gleichen Jahr stationierten die USA in Deutschland die ersten Atomwaffen. Deutschland schlüpfte unter den nuklearen Schutzschirm der USA.
Genau deshalb gab es auch immer wieder Spannungen im transatlantischen Verhältnis, weil die Deutschen wussten: Wenn der Kalte Krieg heiß wird, dann leidet Deutschland am stärksten darunter. Und es gab immer wieder Zweifel, ob die USA wirklich bereit wären, für Deutschland einen Atomkrieg zu riskieren. Insgesamt führten diese Konflikte aber nie zu einem Bruch der Beziehungen. Der gemeinsame Feind in Moskau war wichtiger.
Es gibt ein berühmtes Zitat des ersten Nato-Generalsekretärs Hastings Ismay, das die Ziele der Nato zusammenfasst: „to keep the Soviets out, the Americans in, the Germans down, and the Europeans happy“.
Auf Deutsch: „um die Sowjets draußen, die Amerikaner drin, die Deutschen unten und die Europäer glücklich zu halten.“ Allerdings weiß niemand, ob er das wirklich so gesagt hat – wie so oft bei berühmten Zitaten. Aber es zeigt sehr anschaulich, was damals die Ziele der USA waren. Außerdem klingt es gut.
1989 fiel die Mauer, in den darauffolgenden Jahren zerfiel die Sowjetunion und Deutschland konnte sich – mit dem Segen der USA – wiedervereinigen. Der Kalte Krieg war vorbei und die Geschichte zu Ende – dachten manche zumindest. Der Ausdruck „das Ende der Geschichte“ geht zurück auf den Politologen Francis Fukuyama, der damals einen Aufsatz und ein Buch darüber schrieb, dass sich die Demokratie und die liberale Marktwirtschaft als überlegen erwiesen hätten. Der Kalte Krieg war zwar wirklich vorbei, die Geschichte ging aber weiter. Auch die zwischen den USA und Deutschland.
Kapitel 2: Der Knacks
Am 11. September 2001, um kurz nach neun Uhr morgens, lauschte der damalige US-Präsident George W. Bush einer Geschichte über eine Ziege. Er war zu Besuch in einer Grundschule in Florida und die Zweitklässler:innen lasen ihm vor. In diesem Moment flüsterte ein Mitarbeiter des Weißen Hauses Bush ins Ohr, dass Amerika gerade angegriffen werde. Terroristen von Al-Qaida entführten an diesem Tag insgesamt vier Passagierflugzeuge. Drei von ihnen flogen in das Pentagon und das World Trade Center, das vierte stürzte ab. Fast 3.000 Menschen starben. Später sagte Bush zu CBS News, er habe die Kinder angeschaut und ihm sei klar geworden, dass sich Amerika im Krieg befinde.
Es begann der „war on terror“, aus Bushs Sicht ein Krieg von Gut gegen Böse. Die Nato aktivierte Artikel 5, den Bündnisfall. Er besagt, dass ein Angriff auf ein Nato-Land als Angriff auf alle Nato-Länder gilt. Die USA führten Krieg in Afghanistan und völkerrechtswidrig im Irak. Hunderttausende kamen beim „Krieg gegen den Terror“ ums Leben.
Deutschland machte beim Irakkrieg nicht mit. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte der damalige Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen): „I am not convinced“. Das war ein Knacks in den amerikanisch-deutschen Beziehungen.
In den Jahren danach war das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA zwar gut, Angela Merkel und Barack Obama mochten sich. Gleichzeitig wurde klar: Die USA haben jetzt andere Prioritäten. 2011 rief die Obama-Administration den „Pivot to Asia“ aus, also einen außenpolitischen Fokus auf Asien, genauer gesagt: China. Auch Trump und Biden folgten dieser Richtung, die Rivalität zwischen China und den USA nahm immer weiter zu.
Und dann scheiterte auch noch das Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA. Es hätte der weltweit größte Wirtschaftsraum entstehen können, ein Gegengewicht zu China. In Deutschland war das Abkommen unbeliebt: es gab Kritik an mangelnder Transparenz der Verhandlungen, Kritiker:innen fürchteten sinkende Umweltstandards und eine Aushöhlung von Arbeitnehmer:innenrechten. Mehrere Jahre wurde verhandelt, mehrere Jahre gestritten. 2016 scheiterte das Abkommen, als Trump zum ersten Mal gewählt wurde. TTIP steht dafür, wie schon damals Europa und die USA auseinander drifteten.
Aus heutiger Sicht war das deutsch-amerikanische Verhältnis zu dieser Zeit immer noch eng. Als Russland 2014 die Krim annektierte und einen verdeckten Krieg in der Ostukraine begann, ließ das die Nato-Staaten enger zusammenrücken. Obama rief das Militärprogramm „European Deterrence Initiative“ ins Leben, die Nato schickte Soldat:innen und Waffen an die Nato-Ostflanke. Trump gab in seiner ersten Amtszeit sogar noch mehr Geld für dieses Programm aus. Und der russische Großangriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war sowieso ein Schock für Europa, Olaf Scholz rief die „Zeitenwende“ aus.
Trotzdem bahnte sich in dieser Zeit bereits an, dass Europa – und Deutschland – den USA nicht mehr so wichtig sind. Alle US-Präsidenten von Obama über Biden und Trump beschwerten sich darüber, dass viele europäische Nato-Staaten ihrer Ansicht nach zu wenig für Verteidigung ausgaben. Salopp gesagt wollten die USA, dass sich Europa selbst verteidigen kann – und sich die USA mit China beschäftigen können. Doch das Verhältnis war immer noch partnerschaftlich. Bis jetzt.
Kapitel 3: Der Bruch
Als Trump 2016 das erste Mal gewählt wurde, war das für die Deutschen ein Schock. Damit hatte niemand wirklich gerechnet. Trump polterte über die Weltbühne, auch wenn seine erste Amtszeit aus heutiger Perspektive fast schon zahm wirkt. Diesmal kam er vorbereitet – und noch rücksichtsloser.
Mein Kollege Benjamin Hinrichs hat hieraufgeschrieben, was Trump in seinem ersten Monat im Amt schon alles angerichtet hat.
Es gab nicht das eine große Ereignis, das in Zukunft dafür stehen wird, wie Trump das US-amerikanische Verhältnis zu Europa veränderte. Es waren mehrere Schritte, von denen jeder einzelne vorher als undenkbar galt.
Schritt 1: Mitte Februar kam US-Verteidigungsminister Pete Hegseth zu einem Nato-Treffen nach Brüssel. Er sagte Nein zu einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, Nein zu US-Friedenssoldaten oder einer Nato-Friedenstruppe in der Ukraine. Außerdem Nein zu einer Rückkehr zu den ukrainischen Grenzen vor 2014. Damit machte er schon im Vorhinein ohne Not Zugeständnisse an Russland.
Schritt 2: Trump postete in den Sozialen Medien einen Text, in dem er mitteilte, dass er mit Wladimir Putin telefoniert habe. Er sagte, dass die USA und Russland „große Vorteile“ von zukünftiger Zusammenarbeit hätten, dass er und Putin sich gegenseitig besuchen würden. Verhandlungen würden sofort beginnen, darüber würde er auch Wolodymyr Selenskyj informieren.
Schritt 3: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hielt der US-Vizepräsident JD Vance eine Rede, in der er deutsche Parteien aufforderte, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Außerdem sagte er, dass er sich um die europäische Sicherheit Sorgen mache, aber nicht wegen Russland oder China, sondern wegen des angeblichen Rückzugs Europas von Grundwerten, die es mit den USA teile.
Die ganze Rede kannst du dir übrigens hier auf Youtube anschauen. Sie dauert knapp 20 Minuten und zwischendurch sieht man die fassungslosen Mienen der Anwesenden.
Schritt 4: Ende Februar reiste Selenskyj in die USA, um mit Trump ein Rohstoff-Abkommen zu unterschreiben, damit die USA im Gegenzug beim Wiederaufbau der Ukraine helfen. Die Pressekonferenz wurde zum Eklat, weil Trump und Vance Selenskyj niedermachten. Der hielt dagegen, minutenlang redeten er und Trump gleichzeitig. Am Ende reiste Selenskyj ab, ohne das Abkommen unterschrieben zu haben. Wenige Tage später setzte Trump alle Militärhilfen für die Ukraine aus.
Auch die Pressekonferenz kannst du hier auf Youtube anschauen. Der offene Streit beginnt ungefähr ab Minute 40.
Es sehe momentan danach aus, als ob Trump mehr auf der Seite Putins stehe als auf der Seite des angegriffenen Landes Ukraine, sagt Aylin Matlé, Wissenschaftlerin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Das wäre ein krasser Bruch“, sagt sie.
Trotzdem ist Matlé vorsichtig damit, gleich eine generelle Abwendung der USA von der Nato zu befürchten. „Im Panikmodus werden wir auch nicht weiterkommen“, sagt sie. Es sei sinnvoll, dass die kommende Bundesregierung mehr Geld in Verteidigung investieren will und dass die EU die Haushaltsregeln der Mitgliedstaaten lockern will. „Das kann dazu führen, dass wir den Amerikanern mehr auf Augenhöhe begegnen können“, sagt Matlé.
Was sind die USA jetzt also für Deutschland? Noch ein Freund? Schon ein Feind? „Vielleicht kein Partner, aber ein Sicherheitsgarant“, sagt Matlé.
Die USA waren einmal Freund, Unterstützer und Erzieher von (West-)Deutschland. Später waren sie ein Partner, der Schwierigkeiten machte und Forderungen an Deutschland stellte. Aber immer noch ein Partner. Das hat sich verändert.
Ein paar Rosinenbomber stehen heute als Museumsstücke auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Sie zeugen von einer Zeit, die längst vorbei ist.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Lea Schönborn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert