Vier junge Menschen von hinten sitzen auf einer Mauer. Die beiden linken sind hellblau eingefärbt, die beiden rechten in pink.

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Politik und Macht

Analyse: Hä? Sind die jungen Leute jetzt links-rechts-extrem?

Bei den jungen Wähler:innen stürzen die Parteien der Mitte radikal ab. Es profitieren nur die Parteien, die am weitesten rechts und am weitesten links stehen. Warum?

Profilbild von Bent Freiwald
Bildungsreporter

Seit Jahren streiten Politikwissenschaftler:innen darüber, wie gespalten die deutsche Gesellschaft ist – und vor allem: warum. Die Bundestagswahl liefert dieser Debatte neuen Stoff. Denn wer eine richtige Spaltung sehen will, muss sich nur die Ergebnisse unter den jungen Leuten anschauen.

Dass die 18- bis 24-Jährigen Parteien wählen, die scheinbar so gar nicht zusammenpassen, hat schon fast Tradition. Vor vier Jahren gewannen die Grünen und die FDP mit jeweils circa 23 Prozent unter den jungen Leuten und die Öffentlichkeit fragte sich, wie wichtig Klimaschutz den jungen Leuten wirklich ist. Nun, die Grünen und die FDP haben diesmal nicht abgeräumt.

Ergebnis unter den Erstwählenden: Linke bei 27 Prozent, AfD bei 19, Union 14, SPD 13, Grüne 12, FDP und BSW 6.

Krautreporter

Zu den Wahlberechtigten gehörten etwa 2,3 Millionen potenzielle Erstwähler:innen, das sind 3,9 Prozent aller Wahlberechtigten. Viel stärker als noch vor vier Jahren sind diesmal unter den jungen Leuten die AfD und, ziemlich überraschend, die Linke. Die landeten in dieser Altersgruppe 2021 noch bei acht Prozent.

Insgesamt hat die sogenannte Mitte unter jungen Leuten keine Mehrheit mehr. Bei der Bundestagswahl 2021 kamen die Parteien, die für sich beanspruchen, die Mitte zu repräsentieren (Union, SPD, Grüne und FDP) gemeinsam auf 71 Prozent der Stimmen. Dieses Mal erhielten diese Parteien zusammen nur 43 Prozent. Ausgerechnet die Linke und die AfD profitieren. Wie passt das zusammen? Und nein, Tiktok ist nicht die Antwort auf alles.

Es gibt Gründe für den Zuwachs, die für beide Parteien gleichermaßen zutreffen. Zum Beispiel: Diejenigen, die bei dieser Wahl zum ersten Mal wählen durften, haben die Pandemie als Jugendliche erlebt. Sie haben erlebt, wie sich die Politik wahlweise entweder nicht für sie interessierte oder sie direkt zu Schuldigen erklärte, deren Partys und Gruppentreffen das Infektionsgeschehen vorantrieben.

Junge Menschen waren auch enttäuscht von der Union und der SPD, weil diese den Klimaschutz nicht stark genug vorangetrieben hatten. Sie wählten 2021 zwei Parteien, die ihnen viel versprachen: die Grünen und die FDP, mit Fokus auf den Klimaschutz, Bildung und Digitalisierung. Beide Parteien wurden Teil der Ampel-Regierung, gemeinsam mit der SPD. Doch die Ampel enttäuschte. Kaum eine Erkenntnis zu jungen Menschen ist in den vergangenen Jahren so stabil wie diese: Sie haben nicht das Gefühl, dass die Politik sie ernst nimmt. Schon 2022 ergab eine Befragung der Vodafone-Stiftung, dass knapp drei Viertel der 14- bis 24-Jährigen die Anliegen und Interessen der jungen Generation von der Politik nicht ausreichend berücksichtigt sehen.

Sie wichen also auf Parteien aus, die sie bisher noch nicht enttäuscht hatten: die AfD und die Linke. Schon in den Jugendstudien der letzten Jahre war diese Spaltung zu erkennen. Einerseits gaben immer mehr junge Männer an, rechts oder eher rechts zu sein. Andererseits gaben immer mehr junge Frauen an, wie wichtig ihnen die Rechte von queeren Menschen und die Offenheit der Gesellschaft gegenüber Geflüchteten ist. Das zeigt sich auch bei der Wahl. Während 34 Prozent der 18- bis 24-Jährigen Frauen die Linke wählten, waren es bei den Männern nur 15 Prozent. Und während 25 Prozent der jungen Männer AfD wählten, waren es bei den Frauen nur 14 Prozent.

Die Linke punktet unter den jungen Wähler:innen am meisten

Wer nicht rechts von den Regierungsparteien wählen wollte, ist nach links ausgewichen, zur Linken. Das zeichnete sich kurz vor der Wahl ab, mit den Ergebnissen der U18-Wahl.

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Die Linke hatte bei den unter 18-Jährigen mit circa 21 Prozent gewonnen, dahinter kam die SPD mit knapp 18 Prozent und plötzlich postete zum Beispiel der Ökonom Maurice Höfgen Sätze wie: „Die Kids machen Hoffnung gegen den Rechtsruck.“

Die Ergebnisse der U18-Wahl sind zwar nicht repräsentativ, aber trotzdem interessant. Es gibt nur ein Problem: Unter 18-Jährige dürfen nicht wählen. Aber auch unter den 18- bis 24-Jährigen gewann die Linke bei der Wahl am stärksten dazu.

Die Linke hat unter jungen Leuten besonders zugelegt. Bei den 18-bis 24-Jährigen ein Zuwachs von 17 Prozentpunkten

In einer Umfrage haben uns viele junge Wähler:innen der Linken gesagt, dass sie die Partei seit dem Abgang von Sahra Wagenknecht wieder als wählbar empfinden. Und dass die Migrationspolitik für sie entscheidend war. Aus ihrer Sicht ist die Linke die einzige Partei, die sich nicht darauf eingelassen hat, Migrant:innen als Grund allen Übels zu sehen. Anna zum Beispiel schreibt: „Die Linke ist die einzige Partei, die sich so richtig klar gegen den Rechtsruck stellt.“ Andere geben an, sie wollen eine starke linke Opposition, wenn schon das Parlament und der Kanzler nach rechts rücken. Seit Anfang Januar sind mehr als 20.000 Menschen der Linken beigetreten. Die neuen Mitglieder sind durchschnittlich 28 Jahre alt.

Für viele Erstwähler:innen steht die Linke aber vor allem für eine starke Sozialpolitik. Philo schreibt: „Es ist die einzige Partei, die sich wirklich für soziale Gerechtigkeit einsetzt.“ Und Jonathan fasst seine Wahlentscheidung so zusammen: „Mietendeckel, soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit.“ Ginge es nach den 18- bis 24-Jährigen, würde Deutschland von Rot-Grün-Rot regiert werden. Diese Koalition hätte mit den Linken (27 Prozent), der SPD (13 Prozent) und den Grünen (12 Prozent) eine Mehrheit. Und die Linken-Spitzenkanditatin Heidi Reichinnek wäre Bundeskanzlerin.

Die AfD ist unter jungen Leuten so beliebt wie im Rest der Bevölkerung

Dass die AfD bei jungen Menschen erfolgreich ist, hat sich angekündigt. Im vergangenen Jahr wurde in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt. In Sachsen wählte jeder Dritte der 18- bis 24-Jährigen die AfD, in Thüringen waren es 38 Prozent. Damit lag das Ergebnis unter den jungen Wähler:innen sogar über dem der Gesamtbevölkerung.

Jetzt könnte man denken: Ja gut, das ist auch der Osten, da ist das halt so. Aber auch bei der Europawahl 2024 lag die AfD in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen nur einen Prozentpunkt hinter der Union und wurde zweitstärkste Kraft. Und im April 2024 ergab die Studie „Jugend in Deutschland“, dass 22 Prozent der 18- bis 29-Jährigen die AfD wählen würden. Mit den 19 Prozent unter den Jungwähler:innen kam es nun auch so.

Die AfD hat im Vergleich zu früheren Wahlen in dieser Altersgruppe zwar hinzugewonnen, wird aber nicht überproportional häufig gewählt, sondern ziemlich genau so oft wie in der Gesamtbevölkerung. Die AfD ist durchweg erfolgreich (außer bei den Menschen über 70), also auch bei Jungen. Die allgemeine Unzufriedenheit, 60 Prozent derjenigen, die die AfD zum ersten Mal gewählt haben, geben an, dass sie sie aus Frust gewählt haben, wird auch unter den Jüngeren eine Rolle gespielt haben.

Trotzdem scheinen erwachsene Demokrat:innen einen besonders hohen Anspruch an junge Wähler:innen zu haben. Wenn die Rechte unter ihnen erfolgreich ist, ist die Aufregung besonders groß. Die AfD aber könnte für viele junge Menschen eine ganz normale Partei sein. Für sie war die AfD schließlich schon immer da. Aussagen der Partei, die Erwachsene heute immer noch schockieren, haben Jugendliche ihr komplettes politisches Leben lang schon auf Tiktok gesehen.

Auf Social Media war die AfD lange Alleinunterhalterin

Bei beiden Parteien spielten die sozialen Medien, natürlich, wieder eine wichtige Rolle. In der Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“ gaben 62 Prozent der 18- bis 21-Jährigen an, dass Social Media zu den wichtigsten Informationskanälen für Nachrichten und Politik gehört. Dass die AfD und die Linke in dieser Altersgruppe nun so stark ist, hat auch damit zu tun, dass sie den Wahlkampf um die jungen Leute dort geführt haben, wo die jungen Leute nunmal sind: auf Instagram und Tiktok. Lange Zeit war die AfD auf Tiktok Alleinunterhalterin. Wer jung war und sich für Politik interessiert hat, sah Videos der AfD. Eine Studie der Universität Potsdam hat im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen im vergangenen Jahr insgesamt 75.000 Tiktok-Videos analysiert. Sie kam zum Ergebnis, dass die AfD bei Erstwähler:innen auf Tiktok eine Sichtbarkeit von 71 Prozent hatte. Damit war sie doppelt so erfolgreich wie alle anderen Parteien zusammen.

Der Journalist und Social-Media-Experte Andreas Rickmann hat die Aktivitäten der Parteien seit dem 1. Januar auf den sozialen Plattformen analysiert. Er schreibt in seinem Newsletter „Social Media Best Practice“: Die personalisierten Accounts von Alice Weidel, Robert Habeck, Christian Lindner und Sahra Wagenknecht erhalten teils deutlich mehr Interaktionen als die Parteiaccounts. Und hier hat Alice Weidel mit fast fünf Millionen Interaktionen seit dem 1. Januar den mit Abstand reichweitenstärksten Account.

Seit einigen Monaten ist die AfD aber auf Tiktok und Co. nicht mehr so allein. Eine Rede der Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek soll mittlerweile zwischen 30 und 45 Millionen Mal angeschaut worden sein, wie der Spiegel berichtet. In unserer Umfrage schreibt Kaja, die zum ersten Mal die Linke gewählt hat: „Ich kann nicht leugnen, dass unter anderem Heidi Reichinnek die Partei für mich nahbarer und greifbarer gemacht hat.“ Andere sind richtige Heidi-Ultra-Fans. Ein paar Ausschnitte: „Ich finde Heidi eine tolle Frau, die etwas bewirken kann.“ Oder „Außerdem: Heidi!“ oder „Heidi4Kanzlerin.“ Und: „Weil Heidi Reichinek so gute Argumente hat und sie so eine Kämpferin ist. Sie tritt Merz und Weidel hoffentlich richtig in den Hintern.“

Die Linke ist in den vergangenen Monaten auf Tiktok explodiert

Andreas Rickmann zeigt: „Die Linke hat ihren Parteiaccount seit dem 1. Januar mehr als verdoppelt und im Vergleich zu den anderen Parteien die mit Abstand meisten Interaktionen erzielt. Profitiert hat sie vor allem von dem gemeinsamen Abstimmen der Union mit der AfD zum Thema Migration. Sechs der zehn erfolgreichsten Beiträge der Linken seit Anfang des Jahres thematisieren die Abstimmung zu den Migrationsplänen der CDU im Bundestag. Bis zur Abstimmung über die Migrationspläne lag die Linke gemessen an Gesamtinteraktionen 2025 auf Instagram hinter den Grünen. Im Zuge der Abstimmung und der anschließenden Orchestrierung der Inhalte hat die Linke die Grünen deutlich überholt.“

Junge Menschen sind enttäuscht von den Parteien der Mitte und Social Media lebt von den Emotionen, die diese Enttäuschung auslöst: Deutschland ist ungerecht und unfair, niemand interessiert sich für dich! Unter den Parteien der Mitte gibt es mit den Grünen nur eine einzige Partei, die ansatzweise ähnliche Aufrufzahlen erzielt wie die AfD und die Linke. CDU, SPD und FDP sind in den Top-Listen gar nicht vertreten. Welche Rolle all das wirklich spielt, ist reine Spekulation. Es gibt keine Untersuchung dazu, wie sich die Präsenz auf Social Media auf das Wahlverhalten auswirkt.

„Die Jugend“ gibt es nicht, aber …

Social Media allein ist auch kein Erfolgsversprechen. Wer draußen Wahlplakate aufhängt, auf denen Forderungen stehen, die niemandem gefallen, wird nicht gewinnen. Wer jung ist, hat noch keine Bindung zu einer bestimmten Partei. Die Jungen wählen keine Parteien, weil sie sie schon immer gewählt haben. Sie wählen die, die ihre Themen aufgreifen – und sich überhaupt an sie wenden. Wenn man etwas aus dieser Wahl der jungen Menschen lernen kann, dann: Keine andere Altersgruppe ist so in zwei komplett unterschiedliche Lager gespalten wie sie.


Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Hä? Sind die jungen Leute jetzt links-rechts-extrem?

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