Oliver fühlt sich ausgebrannt, aber nicht von der Arbeit oder Stress im Privatleben, sondern von der anstehenden Bundestagswahl. Bisher konnte sich der Krautreporter-Leser noch nicht entscheiden, welche Partei er diesmal wählen möchte. „Das belastet mich“, sagt er. Eine gute Entscheidung zu treffen fällt ihm schwer.
Oliver möchte mit seiner Stimme erreichen, dass die AfD möglichst kleingehalten wird. Um zu entscheiden, welchem Kandidaten er in seinem Wahlkreis Nürnberg-Süd seine Erststimme geben möchte, fehlen ihm aber die Informationen: „Ich weiß nicht, wie ich herausfinden kann, wer in meinem Wahlkreis aktuell wie viele Stimmen hat. Wenn ich etwas nicht wirklich greifen kann, dann überfordert mich das total.“
Mit seinen Entscheidungsproblemen ist Oliver vor dieser Bundestagswahl nicht allein. Vielen Menschen in Deutschland geht es ähnlich, Umfragen zufolge sind mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten noch unentschlossen. Aber warum gibt es gerade so viele Unentschlossene?
Um das zu verstehen, habe ich fast 3.000 Krautreporter-Leser:innen gefragt, ob sie schon wissen, wen sie wählen wollen und falls nicht, warum sie noch keine Entscheidung getroffen haben. Außerdem habe ich mit zwei Politikwissenschaftlern gesprochen, um zu erfahren, welche Gründe es für die derzeitige Unsicherheit gibt. Zu guter Letzt habe ich noch eine Entscheidungspsychologin gefragt, welche Strategien es gibt, um gute Entscheidungen zu treffen.
Nur im Jahr 2021 waren mehr Menschen unentschlossen als heute
Laut einer Umfrage des Instituts Wahlkreisprognose haben sich drei Wochen vor der Wahl 38 Prozent der Befragten noch nicht entschieden, welche Partei sie wählen wollen. Bei 59,2 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland sind das mehr als 22 Millionen unentschlossene Menschen. Das entspricht etwa sechsmal der Bevölkerung Berlins.
Bei der Bundestagswahl 2021 waren zwei Wochen vor dem Wahltermin einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge etwa 40 Prozent der Befragten noch unentschlossen. Die FAZ schrieb von „so vielen Unentschlossenen so kurz vor der Wahl“ wie noch nie. Damals sorgte Angela Merkels Abtritt als Bundeskanzlerin für eine Neusortierung der politischen Landschaft, was ein Grund für den hohen Grad an Unsicherheit gewesen sein könnte. In früheren Wahljahren lag der Anteil der Unentschlossenen wenige Wochen vor der Wahl bei etwa 25 bis 30 Prozent.
Normalerweise legen sich die Wähler:innen im Laufe des Wahlkampfs früher fest, welche Partei sie wählen werden. Doch diesmal sei dies nicht zu beobachten, sagt Nils Diederich, Wahlforscher und Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er saß außerdem 16 Jahre für die SPD im Bundestag. „Die Meinungs- und Stimmungslage ändert sich von Tag zu Tag“, sagt der Wahlforscher, „es gibt eine stetige Wanderung von entschlossenen Wählern zu unentschlossenen und umgekehrt.“ Die Zahl der unentschlossenen Wähler könnte bis kurz vor der Wahl also gleich bleiben oder sogar steigen und den Rekord von 2021 brechen.
Exakte Aussagen über diese Wähler:innengruppe sind für Forschende schwierig. „Das Potenzial von unentschlossenen Wählern ist ein brodelnder Topf, der sehr unklar ist“, sagt Nils Diederich. Und er erklärt mir, dass dieser Topf in vielen Umfragen falsch dargestellt werde. „Die Meinungsforschungsinstitute unterstellen den Unentschlossenen bei der Berechnung, dass sie im Endeffekt etwa so wählen werden, wie der Rest.“ Dabei könne man das nicht wissen. Das habe man laut Diederich bei der Bundestagswahl 2021 gemerkt. Bis zu zwei Monate vor der Wahl führte die Union die Umfragen an, doch am Wahltag entschieden sich viele Unentschlossene letztendlich für die SPD. Olaf Scholz wurde Kanzler.
Das sagen 3.000 KR-Leser:innen
Um den „brodelnden Topf“ der Unentschlossenen besser kennenzulernen, startete ich eine Umfrage unter den Krautreporter-Leser:innen, an der sich knapp 3.000 Menschen beteiligt haben. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, gibt aber trotzdem spannende Einblicke. Die erste Erkenntnis: Die KR-Community ist etwas entscheidungsfreudiger als der Rest Deutschlands. Knapp zwei Wochen vor der Wahl konnten sich knapp ein Viertel der befragten KR-Leser:innen noch nicht auf eine Partei festlegen.
Als größten Faktor für die Unsicherheit gaben die Teilnehmer:innen an, dass sie sich zwischen zwei oder mehr Parteien nicht entscheiden können, für rund 29 Prozent der Befragten war das der Hauptgrund für die Unentschlossenheit. Als zweithäufigsten Grund gaben die KR-Leser:innen an, von ihrer Stammpartei enttäuscht worden zu sein. Dicht gefolgt von den Aussagen: „Meine Standpunkte bei verschiedenen Themen passen zu jeweils anderen Parteien“, und: „Keine Partei spricht mich derzeit an.“
Knapp 20 Prozent gaben einen „anderen“ Grund an. Hier schrieben einige Teilnehmer:innen, sie befürchten, dass ihre bevorzugte Partei den Einzug in den Bundestag verpasst. Dazu schreibt zum Beispiel Vic: „Ich kann mich nicht entscheiden, welches ‚kleinere Übel‘ der größeren Parteien ich wählen soll.“ Simone geht es ähnlich, sie schreibt: „Die Partei, die ich gerne unterstützen würde, wird keine fünf Prozent erhalten, was unter den aktuellen Umständen und dem Rechtsruck eine verschenkte Stimme wäre.“
Für andere, wie KR-Leserin Marion, steht die Frage im Raum, „ob frau taktisch wählen sollte.“ Auch Leo möchte sich „noch ausführlicher damit auseinandersetzen, gerade auch was taktisches Wählen angeht.“
Der Wahlkampf verunsichert die Wähler:innen
Wahlforscher Nils Diederich spricht von einer „Situation erhöhter Unsicherheit“, welche die Wähler:innen desorientiere. „Im Grunde genommen versagt derzeit das deutsche Parteiensystem, weil es keine echten Alternativen anbietet“, sagt er. Die Folge: Viele Wähler:innen würden aus Protest zu Kleinparteien fliehen, ihre Stimmen seien dann im Bundestag nicht vertreten, sollte die gewählte Partei den Einzug verpassen. Jede:r fünfte Wähler:in könnte so unrepräsentiert bleiben, sollten es FDP, Linke und BSW allesamt nicht in den Bundestag schaffen.
Ein weiterer Grund für die Entscheidungsschwäche der deutschen Wähler:innenschaft liegt laut Wahlforscher Diederich darin, dass weder Olaf Scholz noch Friedrich Merz, die beiden aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten, sonderlich beliebt sind. Im Gegenteil, noch nie waren die Kanzlerkandidaten unbeliebter als bei dieser Wahl, zeigt eine Studie der Forschungsgruppe Wahlen. Diederich sagt dazu: „Der Wahlkampf verunsichert die Menschen derzeit, anstatt dass er Sicherheit schafft.“
Die vorgezogene Wahl mache es den Wähler:innen ebenfalls schwer, sagt der Politikwissenschaftler Thorsten Faas. Stabile Bindungen zwischen Wähler:innen und Parteien seien ins Rutschen geraten, das sei auch bei der vorgezogenen Wahl 2005 zu beobachten gewesen. „Ein frühzeitiges Ende einer Koalition und vorgezogene Wahlen verunsichern einfach viele Leute“, sagt Faas.
So triffst du deine Entscheidung
Anna Lang ist Psychologin an der Fernuniversität Hagen und spezialisiert auf Entscheidungsfindung. Ich habe sie gefragt, welche Strategien Unentschlossene nutzen können, um zu einer guten Entscheidung zu kommen. Eine „gute“ Wahlentscheidung, das ist im Kontext von Anna Langs Forschung eine Entscheidung, die den eigenen politischen Präferenzen entspricht. Das klingt zwar logisch, aber „wenn man guckt, wer tatsächlich die Partei wählt, die einem von den politischen Positionen her am nächsten ist, dann sind das in meinen Untersuchungen ungefähr ein Drittel der Wählenden“, sagt Anna Lang. Berücksichtigt man auch die zweit- und drittnächste Partei, dann steigt der Wert auf etwa zwei Drittel.
In unserem Gespräch betont die Entscheidungspsychologin mehrmals, dass keine der Strategien ein sicheres Rezept für eine gute Entscheidung ist. Trotzdem konnte sie mir von drei Strategien erzählen, die bei der Wahlentscheidung helfen können.
- Sammle Informationen!
Es klingt naheliegend: Wer Unsicherheiten reduzieren will, muss Informationen sammeln. Um eine gute Wahlentscheidung zu treffen, musst du zunächst wissen, was du politisch eigentlich willst. Im nächsten Schritt kannst du dich dann darüber informieren, welche Partei am besten zu dir passt. Dabei sei es aber wichtig zu bedenken, dass es bei Wahlen ein limitiertes Angebot gibt, sagt Lang, denn Parteien seien Sammelbecken für politische Interessen. „Es wird nie die perfekte Partei für jede Person geben!“
- Nutze die „Take the best“-Strategie!
Um deinen Entscheidungsprozess zu vereinfachen, kannst du dich auf ein Thema beschränken, das dir besonders wichtig ist. Dir liegt zum Beispiel Klima sehr am Herzen? Dann kannst du die verschiedenen Parteien auf dieses Thema hin abklopfen und die Partei wählen, die am ehesten deinen Wünschen beim Klimaschutz entspricht. Oder möchtest du eine Vermögenssteuer? Dann durchforste doch die Wahlprogramme der Parteien danach und entscheide dich für die Partei, die sich dafür einsetzt.
- Orientiere dich an deinem Umfeld!
Natürlich soll niemand andere:r als du selbst entscheiden, welche Partei du wählst. Trotzdem kann es sinnvoll sein, sich an seinem Umfeld zu orientieren. Innerhalb von Freundschaften, Familien oder Partnerschaften seien sich die Menschen politisch oft ähnlich, sagt Psychologin Lang. Menschen, die sich zum Beispiel vom ständigen Schwall an Nachrichten überfordert fühlen, können sich so der Last der Informationsbeschaffung etwas entledigen. Krautreporter-Leser Oliver sagte mir gegenüber: „Ich sollte mich mehr mit politischen Themen auseinandersetzen, aber ich habe Angst, dass es mir danach schlechter geht.“
Wenn es dir ähnlich geht, dann könnte diese Methode hilfreich für dich sein. Hast du zum Beispiel gute Freundinnen oder Freunde, die ähnliche Werte wie du vertreten? Dann könnte hier ein Gespräch sehr sinnvoll sein.
Der Wahl-O-Mat ist keine Entscheidungshilfe für Dummies
Es gibt mehrere Onlinetools, die bei der Wahlentscheidung helfen können. Der Wahl-O-Mat, der übrigens von Nils Diederich mitentwickelt wurde, vergleicht die Standpunkte aller 29 zur Wahl stehenden Parteien in unterschiedlichen Themenfeldern. Der Real-O-Mat hingegen vergleicht, wie die Bundestagsparteien in der vorangegangenen Legislaturperiode in verschiedenen Fragen abgestimmt haben. Und der Steuer-O-Mat kann dir zeigen, mit welchen Parteien du in Steuerfragen am ehesten übereinstimmst.
All diese Angebote stellen aber keine Wahlempfehlung dar, sondern sind ein Informationsangebot, die Wahlentscheidung kann dir niemand abnehmen. Krautreporter-Leser Oliver sagt: „Manchmal wünschte ich mir, es gäbe eine Wahlanleitung für Dummies. Aber die gibt es wohl aus einem guten Grund nicht.“
Eine gute Entscheidung zu treffen, ist schwierig. „Die Entscheidungsfindung ist ein sehr komplexer Prozess“, sagt die Psychologin Lang. Wie schwierig, das merkt Oliver im diesjährigen Wahlkampf besonders stark. Er wird noch mit einer Freundin sprechen, die gut informiert ist und politisch ähnliche Werte teilt wie er selbst. Vielleicht kann ihm dieses Gespräch etwas Klarheit verschaffen.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger