Friedrich Merz reitet auf einem Flugzeug, Olaf Scholz sitzt in einem Champagnerglas und Olaf Scholz trägt einen Zylinder.

Symbolfoto. Teilweise KI Generiert. EyeEm Mobile GmbH, Sean Gallup, Omer Messinger/Getty Images | Robert Anasch/Unsplash | Midjourney

Politik und Macht

„Die Politik folgt den Bessergestellten“

Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer hat herausgefunden: Manche Stimmen zählen mehr. Das trägt zum Erfolg der AfD bei – und die Politik muss aufhören, den Bürger:innen zu misstrauen.

Profilbild von Benjamin Hindrichs
Reporter für Macht und Demokratie

Herr Schäfer, in einer Demokratie sollten alle Stimmen gleich viel zählen. Ist das tatsächlich so?

Das ist die Erwartung an eine Demokratie. Aber die Realität weicht davon stark ab. Nicht alle Stimmen haben das gleiche Gewicht.

Welche Stimmen zählen mehr?

Menschen, die mehr verdienen und höhere Bildungsabschlüsse haben, haben auch mehr Einfluss. Das fängt beim Wählen an. Nicht alle Bevölkerungsgruppen wählen im selben Maß. Menschen, denen es besser geht, gehen mehr wählen als Menschen, denen es schlechter geht.

Wir haben dafür eine Faustregel in der Wissenschaft: Je niedriger die Wahlbeteiligung ist, desto weniger Menschen aus den unteren Einkommens- und Bildungsschichten haben gewählt. Und im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren haben wir heute deutlich niedrigere Wahlbeteiligungen.

Das ist ein Problem. Denn Wahlergebnisse sollen einer Regierung Hinweise geben, in welche Richtung die zukünftige Politik zu gehen hat. Wenn bestimmte Gruppen aber weniger als andere teilnehmen, dann ist die Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und politischen Entscheidern grundsätzlich verzerrt.

Wählen ist aber natürlich nicht die einzige Form, wie man Politik beeinflussen kann. Eigentlich sind fast alle Formen des politischen Engagements zugunsten derjenigen verzerrt, denen es besser geht. Das betrifft auch die Teilnahme an Demonstrationen, wer sich an Abgeordnete wendet, oder wer Petitionen unterschreibt. Es gibt so gut wie keine Ausnahme.

Wie spiegelt sich das im Bundestag wider?

Die Menschen, die im Parlament sitzen, weichen relativ stark von der Gesamtbevölkerung ab. Im Bundestag sitzen mehr Akademikerinnen und Akademiker als es im Verhältnis in der Bevölkerung gibt. Arbeiterinnen und Arbeiter tauchen im Parlament kaum noch auf.

War das schon immer so?

Die Arbeit meiner Kollegin Lea Elsässer weist darauf hin, dass es eine zunehmende Schließung von Karrierewegen ins Parlament gibt. Früher war es einfacher für Arbeiterinnen und Arbeiter, ins Parlament zu kommen. Damit meine ich nicht nur Industriearbeiter, sondern auch viele Menschen im Dienstleistungssektor.

Heute sehen wir im Bundestag viele Berufspolitiker. Also Menschen, die ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht haben, als politische Ämter zu übernehmen, und einen Karriereweg beschreiten, der ausschließlich über die Parteien in die Politik und dann irgendwann in die Parlamente geführt hat. Das führt dazu, dass bestimmte Themen gar nicht erst auf die Agenda kommen. Oder dass bestimmte Diskussionen im Bundestag vielleicht auch anders geführt werden.

Wir haben auch herausgefunden, dass der Bundestag Politikveränderungen eher umsetzt, wenn diese von Berufsgruppen mit höherem sozialen Status und höheren Bildungs- oder Einkommensgruppen unterstützt werden.

Wie haben Sie das herausgefunden?

Wir haben uns über 1.000 Sachfragen über den Zeitraum von 40 Jahren angeschaut, in denen die Bevölkerung gefragt wurde, ob sie für oder gegen eine konkrete Politikänderung ist, über die im Bundestag abgestimmt wird.

Im zweiten Schritt haben wir dann geprüft, ob der Anteil von Menschen bestimmter Einkommens-, Berufs-, oder Bildungsgruppen, die eine Reform unterstützen, Auswirkung darauf hat, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Reform im Bundestag auch wirklich umgesetzt wird. Das Ergebnis: Die Politik folgt zumeist den Bessergestellten.

Wo folgt sie konkret den Bessergestellten?

Es gibt zum Beispiel schon lange eine Mehrheit für eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Trotzdem geschieht seit 15 Jahren nichts. Und es ist stark abhängig vom eigenen persönlichen Einkommen, ob man eher dafür oder eher dagegen ist.

Gibt es auch Gegenbeispiele?

Die Einführung und Erhöhung des Mindestlohns. Aber das ist keine Politik, die gegen den Willen der Bessergestellten umgesetzt wurde. Denn als der Mindestlohn diskutiert wurde, waren 70 bis 80 Prozent der Gesamtbevölkerung dafür, dass er eingeführt wird. Und auch die Erhöhung stieß auf Zustimmung. Der Mindestlohn hat also bestimmten Menschen mehr als anderen geholfen. Aber es ist kein gutes Beispiel, um zu sagen, da wurde Politik gegen die Oberschicht gemacht – denn die hatte damit gar kein Problem.

In anderen Worten: Die Interessen der Arbeiterschaft setzen sich heute vor allem dann durch, wenn sie im Einklang mit den Interessen der Wohlhabenden sind?

Arm und Reich wollen nicht immer unterschiedliche Dinge. So polarisiert ist unsere Gesellschaft bei vielen Fragen nicht. Selbst wenn die Politik immer nur den Interessen der Bessergestellten folgt, werden also nicht ausschließlich Entscheidungen getroffen, die Schlechtergestellte ablehnen. Aber sobald die Meinungen stark auseinandergehen, folgt die Politik eher den Bessergestellten.

Das gilt auch für die Politik der Linken oder die SPD – Parteien, die sich traditionell auf die Fahne schreiben, die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten. Tun sie das heute noch?

Die Linkspartei war auf Bundesebene immer nur in der Opposition. Es ist also schwer zu sagen, welche Art von Politik sie in der Regierung gemacht hätte. Bei der SPD gab es spätestens nach der Agenda 2010 (der Sozialreform, mit der HartzIV eingeführt wurde, Anm. d. Red.) eine erkennbare und messbare Entfremdung zwischen Teilen ihrer Wählerschaft und der Partei.

Programmatisch steht die SPD noch dafür, sich mehr für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzusetzen. Aber demgegenüber steht eine Regierungsbilanz aus fast zwei Jahrzehnten, die das nur in Teilen einlösen konnte.

Treten wir einen Schritt zurück. Hat Oberschichten-Politik zum Erfolg des Rechtspopulismus beigetragen?

Meine Antwort ist eindeutig: Ja.

Das ist nicht das einzige Motiv, rechtspopulistische Parteien zu wählen. Es gibt auch Leute, die hinter dem Programm stehen und migrationsfeindliche oder rassistische Einstellungen haben. Aber es gibt eben auch einen Teil der Wählerschaft, die aus Unzufriedenheit mit der Art und Weise, wie die Demokratie funktioniert, rechtspopulistische Parteien wählt.

Das Gefühl, dass die eigenen Anliegen in der Demokratie nicht repräsentiert oder nicht gehört werden, ist ein Treiber für zwei Dinge: Einerseits dafür, am Wahltag gar nicht wählen zu gehen. Andererseits motiviert es einen Teil der Betroffenen, rechtspopulistische Parteien wie die AfD zu wählen.

Viele Menschen werden in unserer Demokratie also kaum repräsentiert. Aktuell machen Parteien wie die SPD oder die CDU aber Wahlkampf, indem sie die Bevölkerung zur Verteidigung der Demokratie gegen die AfD auffordern. Entfremdet man damit nicht all jene, für die unsere Demokratie schon jetzt schlecht funktioniert?

Es gibt zwei Dinge, die gleichzeitig wahr sind. Erstens: Rechtspopulistische Parteien wie die AfD verweisen auf ein reales Repräsentationsdefizit unserer Demokratie. Zweitens: Gleichzeitig sind die Lösungsangebote, die sie anbieten, oberflächlich. Sie lösen das Problem nicht. Wo Rechtspopulisten an die Macht kommen, bauen sie die Demokratie ab. Sie können das Problem also korrekt identifizieren, aber sie sind deswegen nicht die Lösung. Es ist wichtig, das auseinanderzuhalten.

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Für die anderen Parteien heißt das aber: Nur abstrakt auf die Prinzipien der liberalen Demokratie zu verweisen und zu sagen „wir haben das beste Grundgesetz und die beste Verfassung, die es in Deutschland je gab“ ist hilflos. Es sieht über die realen, empirisch messbaren Ungleichheiten hinweg.

Aus meiner Sicht wäre die beste Verteidigung der liberalen Demokratie, die Versprechen der Demokratie auf politische Gleichheit besser umzusetzen. Und ich habe manchmal die Sorge, dass wir vor lauter Angst vor der AfD nicht bereit sind, eine wichtige Debatte zu führen: Was muss die Demokratie eigentlich leisten?

Welche Parteien oder Politiker:innen könnten das anstoßen?

Meine Wahrnehmung ist: Je mehr der Streit um die Demokratie hochkocht, desto ausgeprägter ist das Misstrauen der Politik gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Viele Politikerinnen und Politiker trauen ihnen nicht viel zu und sind deshalb auch nur halb zu Reformen bereit. Und wenn die Politik Reformen umsetzt, dann sehr halbherzig.

Wir haben zum Beispiel eine Zeit lang ständig über Bürgerräte geredet. Also über ein politisches Instrument, in dem zufällig ausgeloste Menschen über bestimmte Fragen miteinander diskutieren, Expertinnen und Experten zuhören, und dann Vorschläge für die Politik machen. Das kann gut funktionieren. Im Ausland wurden damit wichtige Reformen auf den Weg gebracht.

Aber in Deutschland wurden solche Initiativen kaum ernst genommen, ihre Vorschläge verstauben im Regal. Aus dem Umgang der deutschen Politik mit Bürgerräten spricht eine ungeheure Angst davor, dass die eigenen Bürgerinnen und Bürger etwas Falsches wollen und dass man die eigene Macht abgibt. Also hat man es nur halbherzig umgesetzt. So kann man natürlich auf Dauer niemanden überzeugen, politisch mitzuarbeiten.

Wir sind jetzt in einer Situation, in der viele Bürgerinnen und Bürger mit Misstrauen auf die Politik schauen – und viele Politikerinnen und Politiker skeptisch auf die Bevölkerung. Das ist schlecht für die Demokratie.

Die Politik muss Vertrauen darauf haben, dass Menschen in der Lage sind, an der Demokratie wirklich mitzuwirken, anstatt sie aus Angst vor Populismus nur kontrolliert und dosiert teilhaben zu lassen. Denn Menschen, die miteinander intensiv über ein Thema reden und sich darüber intensiv informieren, kommen häufig zu vernünftigen Vorschlägen.


Redaktion: Rico Grimm, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Die Politik folgt den Bessergestellten“

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