Seit das neue Jahr begonnen hat, scheint sich die Welt schneller auf den Faschismus zuzudrehen. Das ist eine schlimme Formulierung, weil sie so klingt, als sei er nicht mehr aufzuhalten. Als sei der Faschismus nur eine Frage der Zeit.
Die Tabubrüche sind zahlreich, noch vor ein paar Jahren wäre jeder einzelne ein großer Skandal gewesen. Wenn sie weiter so häufig passieren, werden sie bald keine mehr sein. Es gab Elon Musks Hitlergruß, der sich länger her anfühlt, als nur zwei Wochen. Alice Weidel, die Remigration ins AfD-Wahlprogramm schreiben ließ. Die CDU-Politikerin Saskia Ludwig aus Brandenburg, die sagte, wenn AfD und CDU zusammen mehr als 50 Prozent hätten, würde es Sinn machen, wenn sie die Regierung stellen. Und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der erklärte, ihn störe das „Brandmauergerede“.
Dann kam es vergangene Woche zum sogenannten „Dammbruch“, dem Zusammenbruch der Brandmauer, als die Union gemeinsam mit Stimmen der AfD und der FDP einen Antrag zu Asyl- und Migrationspolitik im Bundestag durchbrachte. Im Vorhinein hatte Merz gesagt: „Wer diesen Anträgen zustimmen will, soll ihnen zustimmen – und wer sie ablehnen will, der soll sie ablehnen.“ Noch im November hatte er genau dieses Vorgehen im Bundestag ausgeschlossen.
Ein Novum in der Bundespolitik, das bei vielen Menschen Angst auslöste. Was könnte das für die politische Zukunft Deutschlands bedeuten? Viele fragen sich, wie sehr man Merz noch glauben kann.
Es steht die Frage im Raum, ob die AfD früher oder später Teil der Regierung wird. Vielleicht nicht nach dieser Bundestagswahl, aber nach der nächsten. Denn auf Merz’ Wort, dass das mit der Union nicht passieren würde, kann man sich nicht mehr verlassen.
In einem Podcast der Zeit sagte der Journalist Robert Pausch am Wochenende: Was wir gerade erleben, fühlt sich wie Zeitzeugenschaft an. Und er ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Viele, auch ich, teilen dieses Gefühl: Wir sind bei einem historischen Moment dabei, ob wir wollen oder nicht. Es könnte einer der Momente sein, die in die Geschichte eingehen. Vielleicht werden die Schüler:innen der Zukunft lernen, dass der Januar 2025 entscheidend war für den weiteren Verlauf. Dass man noch was hätte tun können, um eine AfD-Regierung zu verhindern.
Es ist einer dieser Momente, in denen sich jede:r entscheiden muss, wo er oder sie steht: Der antifaschistische Widerstand beginnt spätestens jetzt.
Antifaschismus hat ein Imageproblem
Bei dieser Aussage gehen längst nicht alle mit. Auch weil viele missverstehen, was Antifaschismus ist. Vor einem Jahr spielten wir bei der Weihnachtsfeier meiner ehemaligen Fußballmannschaft ein Spiel. Wir sollten unseren kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, wir waren vielleicht 20 Leute. Wir konnten uns darauf einigen, dass wir gerne nach Italien in den Urlaub fahren, nicht aber darauf, dass wir alle antifaschistisch sind.
Antifaschismus hat ein Imageproblem. Wer sich nicht damit auseinandergesetzt hat, der denkt, Antifa heißt schwarzer Block, Macker und Gewalt. Leute, die Nazis verprügeln und selbst krude Ansichten haben. Der denkt vielleicht auch: Das sind weltfremde Studis, die Bock auf Aktivismus und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit haben. Aber dass antifaschistisch eigentlich vor allem heißt, gegen den Faschismus und gegen Nazis zu sein, das ist nicht allen bewusst.
Der Verfassungsschutz schreibt auf seiner Webseite: „Der Begriff Antifaschismus ist umstritten, eine einheitliche Definition kaum möglich. Für die einen ist Antifaschismus ein demokratisches Grundprinzip, für die anderen ein linksextremistischer Kampfbegriff.“ Der Verfassungsschutz trifft dabei das Grundmissverständnis ungewollt auf den Punkt. Antifaschismus ist zuallererst ein demokratisches Grundprinzip und linke Gruppen benutzen es, weil sie dafür stehen.
Vielleicht würde das Spiel von vor einem Jahr mit meiner Mannschaft heute anders ausgehen. Ich hoffe es. Denn antifaschistisch zu sein klingt radikaler als es ist.
Tatsächlich hat Antifaschismus heute ein anderes Gesicht als in den 90er-Jahren. Im Kern geht es aber um dasselbe: Nazis bekämpfen. Die Nazis haben sich verändert und die Antifa gezwungenermaßen auch. Die Nazis tragen seltener Springerstiefel und häufiger Hemd. Sie sehen eher aus wie der nette Nachbar, als wie die Person, bei der man die Straßenseite wechselt, wenn man sie sieht (außer Björn Höcke, der aussieht, wie man sich einen Nazi vorstellt). Von außen sind sie wegen ihres bürgerlichen Antlitzes schwerer zu erkennen, aber das macht sie nicht weniger gefährlich.
Wenn ich heute mit damals vergleiche, fühlt es sich an, als hätte ich etwas Verbotenes gemacht
Alles ist mehr in die Mitte gerückt, das Rechtssein und das Antifa-sein auch. Auf einer Demonstration gegen die AfD in Berlin im Januar hielt ein Pfarrer eine Rede. Aus radikal linker Perspektive sind diese Kompliz:innen ungewohnt, vielleicht auch unbeliebt, aber darauf kommt es in diesen Zeiten nicht an. Es gibt eine Sache, für die es wichtig ist, gemeinsam einzustehen: menschenverachtende Politik als das benennen, was es ist, und sie verhindern, wo es nur möglich ist.
Antifa kann auch christlich sein: In den USA fand eine Bischöfin namens Mariann Edgar Budde bei der Amtseinführung von Donald Trump klare Worte. Sie sagte: „Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie, haben Sie Erbarmen mit den Menschen in unserem Land, die jetzt Angst haben.“ Sie bezog dabei vor allem auf Einwander:innen und queere Menschen und sagte: „Ich bitte Sie um Erbarmen, Herr Präsident, mit denjenigen in unseren Gemeinden, deren Kinder Angst haben, dass ihnen ihre Eltern weggenommen werden.“ Ein paar Tage danach forderte Trump eine Entschuldigung von ihr und nannte sie eine „linksradikale Trump-Hasserin“.
Als ich das Video der Andacht schaute, musste ich unwillkürlich an andere autoritäre Regime denken, in denen religiöse Vertreter:innen widerständige Rollen einnehmen. Jedes Mal, wenn ich an so etwas denke oder so etwas schreibe, zucke ich innerlich zusammen. Ein bisschen so, als hätte etwas Verbotenes gemacht und wäre dabei erwischt worden. Ich bin diesen Vergleich nicht gewohnt.
Sind wir wirklich so weit gekommen? Ich denke, ja. Der jüdische Publizist Michel Friedman sagte Anfang dieses Jahres in einem Interview: „Wenn ich heute höre ‚Wehret den Anfängen‘, kann ich nur antworten: Welche Anfänge? Wir sind längst mittendrin.“
Tiktok-Creator:innen, die sich normalerweise nicht politisch äußern, posten Videos, in denen sie sich gegen die AfD positionieren. Ein Hautpflege-Influencer sagt, dass ihm AfD-Sympathisant:innnen entfolgen sollen. Der schwule Comedy-Tiktoker Helge Mark erzählt, er habe plötzlich Angst, obwohl er sich in Deutschland immer wohl gefühlt habe. Dass seine Freunde und er darüber sprechen, im Ernstfall das Land zu verlassen. Auf Insta teilen Reality-Show-Stars und Beauty-Influencer:innen politische Texte. Sie äußern sich AfD-kritisch, obwohl sie dadurch Hass in den Kommentaren bekommen und tausende Follower verlieren.
Wenn preppen nicht mehr nur was für mittelalte Männer ist
Vor einem Jahr war ich im Januar bei einer Freundin in der WG zum Abendessen, ein paar Tage, nachdem die Correctiv-Recherche veröffentlicht wurde. Die Recherche, die bundesweit Proteste auslöste, weil sich AfD-Politiker:innen mit anderen rechten Akteur:innen getroffen haben sollen, um geheime „Remigrations“-Pläne für Andersdenkende zu planen.
Wir haben Lasagne gemacht, meine Freundin, ihr Mitbewohner, ein Freund von ihm und ich. Nennen wir den Freund Shawn. Wir redeten über die Correctiv-Recherche und Shawn sagte: Irgendwann müssen wir uns entscheiden, ob wir in den Untergrund gehen. Ich dachte: Shawn, jetzt komm mal runter, Shawn, die Vorstellung findest du doch auch ein bisschen geil, oder? Und sagte: „Meinst du das ernst?“
Ein Jahr später glaube ich immer noch, dass der „Untergrund“ weit weg ist. Aber es scheint nicht mehr ganz so absurd. 15.000 Menschen sind im Januar 2025 nach Riesa in Sachsen gefahren, um dort den Parteitag der AfD zu blockieren. Eine Freundin, die mitfuhr, sagte, dass der Protest in Riesa für sie auch eine Art Übung dafür wäre, was noch kommt. Dass man sich vorbereiten müsse.
Sie benutzte sogar das Wort „Prepping“. Ein Wort, das ich in diesem Kontext noch nie gehört hatte. Es steht für eine minutiös geplante Vorbereitung auf einen Katastrophenfall. Für mich waren Prepper bisher mittelalte Männer mit Schnauzbart, die in ihren Kellern Waffen und Essensbüchsen für den Ernstfall horten.
Meine Freundin meinte aber etwas anderes: Man müsse sich vorbereiten auf eine Zeit, in der Nazis regieren und in der Andersdenkende, Linke, Queere und Geflüchtete unterdrückt werden. Es ist ungewohnt, solche Gedanken auszubuchstabieren. Es ist unangenehm, darüber nachzudenken, was passiert, wenn die AfD regiert. Deswegen ist es viel angenehmer weiter zu hoffen, dass es schon nicht passieren wird. Oder dass es, wenn es passiert, nicht so richtig schlimm wird.
Wenn die Bevölkerung nicht mehr vom Staat geschützt wird, muss sie es selbst tun
Auch der Aktivist und Autor Arne Semsrott nutzt in seinem im Sommer 2024 erschienenen Buch „Machtübernahme“ das Wort Prepping. Er schreibt, dass in einer demokratischen Gesellschaft ein friedliches Zusammenleben möglich ist, weil der Staat das Gewaltmonopol hat. „Aber wenn große Teile der Bevölkerung im Angesicht von rechter Gewalt nicht sicher sind, wenn Verwaltungen, Gewerkschaften, Justiz, Unternehmen und Medien nicht für sie da sind, müssen sie dann nicht ihre eigene Verteidigung organisieren und sich auf Krisen vorbereiten – also … preppen?“
Für Semsrott bedeutet preppen, Veränderungen von der Politik zu fordern, aber nicht darauf zu warten, dass die Forderungen umgesetzt werden – und die Dinge mittel- oder sogar langfristig selbst in die Hand zu nehmen. Beispiele dafür sind die Seenotrettungsorganisation Seawatch, die Menschen im Mittelmeer rettet, weil es sonst niemand tut, oder der Verein Sanktionsfrei, der mit einem „Solidartopf“ Menschen unterstützt, die Repressionen vom Jobcenter erfahren.
Semsrott nennt das „prepping for future“, ich würde es „antifaschistisches Preppen“ nennen. Natürlich ist das anstrengend. Aber man bekommt auch etwas dadurch: das Gefühl, dass man nicht alleine ist. Und ganz konkret bedeutet es, dass man sich gegenseitig beschützt.
Manche Menschen scheinen noch darauf zu warten, dass sich die Geschichte eins zu eins wiederholt, um aktiv zu werden. Aber das wird sie nicht. Der Faschismus des 21. Jahrhunderts passiert anders als der des 20. Jahrhunderts, mit Techbros und Algorithmen, die rechte Inhalte pushen und Werbung für Abtreibungspillen verbieten, mit „sicheren“ Grenzen und Menschen, die im Mittelmeer sterben.
Es ist verständlich, dass man sich kein Deutschland vorstellen will, in dem Faschisten regieren. Aber ich würde sagen: Wer das gerade nicht tut, der macht es sich zu einfach. Der versucht, sich selbst zu beschwichtigen, um irgendwie klarzukommen.
Auch mir passiert das immer wieder. Wenn ich etwa in einem Post auf Instagram lese, dass der „Faschismus vor der Tür steht“, denke ich eine Sekunde: Das ist jetzt aber ganz schön dramatisch. Als hätte ich kurz vergessen, in welcher Welt wir leben. Vielleicht will ich es auch nicht wahrhaben, weil es dann unangenehm wird. Weil ich dann überlegen muss, ob der Journalismus, den ich betreibe, alles ist, was ich tun kann. Weil ich dann überlegen muss, wo ich den größten Einfluss haben könnte, um Faschismus zu verhindern.
Die AfD-Politikerin Lena Kotré aus Brandenburg rief im Oktober dazu auf, „linke Strukturen“ zu melden – damit sie „ausgetrocknet“ werden könnten. Bei der Landtagswahl in Brandenburg wenige Wochen zuvor hatte sie ihren Wahlkreis gewonnen. Im November 2024 setzte ein Mann eine queere Bar in Rostock in Brand. Und das ist kein Einzelfall: Generell nimmt die Gewalt gegenüber queeren Menschen zu, wie Zahlen des Bundeskriminalamts zeigen. Auch die Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen ist in allen Bereichen gestiegen, im Jahr 2023 gab es beinahe jeden Tag einen Femizid. Vergangenes Jahr, vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, erregten bundesweit Fälle Aufmerksamkeit, bei denen Lokalpolitiker beim Plakate aufhängen angegriffen wurden, wie etwa Matthias Ecke von der SPD. Seitdem schicken viele Parteien ihre Parteimitglieder nur noch zu zweit los.
Diese Zahlen schreien es einem entgegen: Die Zeiten sind ernst.
Täglich machen Menschen wichtige ehrenamtliche und politische Arbeit in ihren Bezirken, Dörfern und Städten. Tiktok-Creator:innen und eigentlich unpolitische Moderator:innen posten politischen Content, obwohl sie mit ihren Followern normalerweise Hauttipps oder sexy Fotos teilen. Die Tante einer Freundin stellt sich gerade jeden Samstag in die Fußgängerzone, um Wahlkampf für die Grünen zu machen. Und das, obwohl sie zwei kleine Kinder hat und die letzten Jahre nicht politisch aktiv war. Weil es gerade um alles geht. Sie alle sind Antifa. Natürlich kann nicht jede:r gleich viel leisten, aber es ist ein Moment, in dem es sich lohnt, darüber nachzudenken, was man beitragen könnte.
Es ist eine Zeit, in der unpolitisch sein auch heißt, Faschismus mitzutragen.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer und Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert