Collage: Merz schaut betrübt während Weidel glücklich die Hand zum Gruß hebt. Im Hintergrund ist der Bundestag zu erkennen.

Richard Baker, Jens Schlueter, Sean Gallup/Getty Images

Politik und Macht

Drei Gründe, warum Merz das Ende der Union eingeleitet hat

Studien und der Blick in andere europäische Länder zeigen: Die Union hat sich verschätzt.

Profilbild von Benjamin Hindrichs
Reporter für Macht und Demokratie

Niederlagen sind fast immer tragisch. Siege manchmal aber auch.

Einen solch tragischen Sieg hat die Union unter Friedrich Merz am 29. Januar 2025 errungen. Der Tag wird in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen und die politische Landschaft in Deutschland auf Jahre verändern. Es ist der Tag, der den offiziellen Eintritt der AfD in die politische Mitte markiert.

Auf Initiative des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz hat erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine rechtsradikale Partei gemeinsam mit demokratischen Parteien eine Parlamentsmehrheit im Deutschen Bundestag errungen. Am Morgen gedachte der Plenarsaal dem 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Am Nachmittag stimmte die Union gemeinsam mit FDP und AfD dafür, sämtliche Menschen an den Grenzen zurückzuweisen und alle ausreisepflichtigen Asylbewerber:innen zu inhaftieren.

Um klar zu sein: Es gab dafür keine politische Notwendigkeit. Friedrich Merz hätte mit seinen Forderungen einen hervorragenden Wahlkampf machen können. Der jetzt beschlossene Antrag ist nicht bindend, er ist reine Symbolpolitik. Aber Symbolpolitik ist eben Politik. Und von einer solchen Symbolik hat vor zwei Wochen noch nicht einmal die AfD träumen können.

Ihre Abgeordneten lagen sich nach der Abstimmung in den Armen. Die Partei ist ihrer Normalisierung einen riesigen Schritt näher gekommen. Für sie ist die Abstimmung ein Sieg auf ganzer Linie. Er wird die AfD langfristig massiv stärken – und möglicherweise das Ende der Union einläuten.

Das hat drei Gründe:

1. Die Union kopiert AfD-Positionen und stärkt so das Original

Der Kern dessen, was die Union jetzt fordert, stand 2021 so im AfD-Wahlprogramm: Die Inhaftierung von ausreisepflichtigen Asylbewerber:innen. „Bett, Brot und Seife“ anstatt Geld. Dauerhafte Zurückweisungen an allen deutschen Grenzen. Der mögliche Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit bei „schweren Straftaten“ oder wenn Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft „eindeutig gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtete Handlungen begehen“. Die Zitate stammen aus dem Antrag, der mit Stimmen der CDU/CSU, AfD und FDP beschlossen wurde.

Die Union kann in der Migrationsdebatte noch so weit nach rechts rücken, die AfD bleibt das Original. Sie kann fortan bei jeder Migrationsdebatte sagen: Schaut her, die Union kopiert uns. Wir sagen schon seit Jahren, was Sache ist. Diese Strategie wird aufgehen. Denn wenn eine Partei früh ein Thema prägt und für sich vereinnahmt, profitiert sie davon, wenn darüber gesprochen wird. Besonders dann, wenn das in einer Notstandsrhetorik passiert.

Das liegt an einer Dynamik, die in der Politikwissenschaftt als Issue Ownership bezeichnet wird. Parteien sind sozusagen die Eigentümer bestimmter Themen. Wenn in Deutschland viel über die Klimakrise gesprochen wird, profitieren davon die Grünen. Ihnen „gehört“ das Thema, weil sie es von Anfang an zu ihrem Schwerpunkt gemacht haben. Ähnlich ist es, wenn in den Medien populistisch über Zuwanderung oder Terrorismus debattiert wird.

Die AfD hat diese Themen für sich gepachtet. Deshalb profitieren Rechtspopulist:innen davon, wenn sich andere Parteien positiv auf ihre Forderungen beziehen oder ihnen nacheifern. Die Übernahme ihrer Themen oder ihrer Rhetorik signalisiert der Wählerschaft: Wenn die anderen Parteien genauso sprechen, kann die AfD ja gar nicht so schlimm sein. Anstatt Wähler:innen zurückzugewinnen, stärkt die Übernahme rechter Positionen und Themen das Original.

Das zeigt auch eine Studie von Werner Krause, Denis Cohen und Tarik Abou-Chadi aus dem Jahr 2022. Es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass die Übernahme rechtsextremer Diskurse dazu führe, dass man Wähler:innen zurückgewinnen könne, schreiben die Politikwissenschaftler. „Unsere Ergebnisse deuten eher darauf hin, dass sie dazu führen, dass mehr Wähler zur radikalen Rechten überlaufen“. Und eine Untersuchung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung von 2024 zeigt, dass die AfD-Anhängerschaft die geringste Wechselbereitschaft hat. AfD-Anhänger:innen bleiben in der Regel bei der AfD.

Das Problem ist also: Je erfolgreicher die Rechtspopulist:innen werden, desto größer ist die Versuchung für andere Parteien, deren Positionen zu übernehmen. Aber dadurch machen sie die Rechtspopulist:innen nur größer. Eine Falle, in die besonders Konservative tappen. In anderen Ländern wie Italien oder Großbritannien haben wir in den vergangenen Jahren gesehen: Überall dort, wo Christdemokraten und Konservative die Positionen der radikalen Rechten kopiert, legitimiert oder nachgeeifert haben, verschwinden sie langfristig in der Bedeutungslosigkeit.

Die AfD wird sich deshalb über das Vorgehen von Merz doppelt freuen. Einerseits, weil die Union sie normalisiert und ihre Themen in die Debatte bringt. Andererseits, weil die Konservativen ihr erklärter Hauptfeind sind. „Rechte Parteien kommen in Europa dann in die Nähe der Regierung, wenn es keine klassische Christdemokratie mehr gibt“, sagte AfD-Spitzenpolitiker Maximilian Krah 2024 in einem Interview mit der Welt. Und zum Beginn des Wahlkampfes erklärte Bernd Baumann, der erste Parlamentarische Geschäftsführer der AfD: „Der Hauptgegner ist die CDU“. Die AfD will die Union politisch vernichten, daraus macht sie kein Geheimnis. Diesem Ziel ist sie einen Schritt näher gekommen.

2. Rechtsextreme wissen: Sie können Konservative vor sich her treiben

Der rechtsextreme Stratege Benedikt Kaiser sagte in einem Vortrag im Sommer 2024, die Neue Rechte solle sich nicht weiter selbst verharmlosen. „Man muss die Mitte nicht umschmeicheln, sondern vor sich her treiben“, forderte er. Die AfD sei der Macht so nah, sie müsse ihre eigene radikale Weltsicht nicht weiter verschleiern. Kaiser arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim AfD-Bundestagsabgeordneten Jürgen Pohl und hat ein eigenes Büro im Bundestag. Die Partei ist seinem Rat in den vergangenen Monaten zumindest indirekt gefolgt.

Aktuell schließt Friedrich Merz eine Koalition mit der AfD glaubhaft aus. Aber jedes Mal, wenn es in der kommenden Legislaturperiode eine Migrations-, oder Kulturkampfdebatte gibt, wird die AfD der Union ein gemeinsames Abstimmungsverhalten anbieten. Sie wird das medienwirksam in jeder Talkshow und auf jedem Insta-Reel inszenieren. Nach dem Motto: Wenn die SPD oder die Grünen nicht mitmachen, sind wir für euch da. Auf uns könnt ihr euch verlassen.

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Zu dieser Situation wird es zwangsweise kommen. Denn Merz beschwört jetzt wie die AfD einen Ausnahmezustand herauf, den es zu beenden gilt. Dabei tut er so, als könne er mit einer Law-and-Order-Politik irreguläre Migration komplett kontrollieren. Aber das ist eine Illusion. Klar, abschreckende Gesetze, Ablehnung und streng kontrollierte Grenzen werden dafür sorgen, dass einige Menschen sich nicht mehr auf den Weg nach Deutschland machen. Aber es gibt keine Politik, die unerlaubte Migration komplett beenden kann. Das habe ich in diesem Text ausgeführt.

Merz wird sein Versprechen also brechen – und alle frustrierten Bürger:innen in die Hände der AfD treiben, die noch extremere Maßnahmen fordert.

Er hat damit selbst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die AfD seine Kanzlerschaft sabotieren kann, während die Union nach und nach an Zustimmung verliert und Politiker wie Jens Spahn oder Markus Söder anfangen werden, eine Zusammenarbeit mit der AfD zu fordern um sich ihrerseits als Nachfolger von Merz in Stellung zu bringen.

Auch hier gilt: Indem sie der AfD diese Tür geöffnet hat, schwächt sich die Union selbst. Gleichzeitig versäumt sie es, an einer Migrationspolitik zu arbeiten, die tatsächlich etwas ändern würde.

3. Die AfD wird als nächstes an einer Landesregierung beteiligt

Früher oder später wird die AfD in Ostdeutschland regieren, schreibt mein Kollege Rico Grimm in diesem Text. In Thüringen ist sie bereits stärkste Kraft, im Erfurter Landtag und in Brandenburg verfügt sie über eine sogenannte Sperrminorität. Das heißt, sie hat mehr als ein Drittel aller Parlamentssitze und kann so wichtige Abstimmungen blockieren.

Bisher haben die ostdeutschen CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, Reiner Haseloff und Mario Voigt der Versuchung widerstanden, mit der AfD zu paktieren – trotz massiven Drucks aus ihren Landesverbänden. Das wird sich ändern. Wie sollen die Landeschefs der CDU eine Brandmauer noch rechtfertigen, wenn ihr Parteivorsitzender gemeinsam mit der AfD im Bundestag Gesetzesänderungen beschließen möchte?

Die Forderungen, gemeinsame Sache mit der AfD zu machen, werden ab sofort zunehmen. Stück für Stück. Erst in den Kommunen. Dann bei Richterwahlen im Landtag und bei Gesetzesvorhaben. Bis es zu einer Koalition auf Landesebene kommt. Das könnte bereits nächstes Jahr passieren, wenn in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern der Landtag neu gewählt wird. Als Teil einer Landesregierung könnte sich die AfD staatstragend inszenieren – und dennoch als Opposition im Bund Stimmung machen.

Es heißt, Merz wollte sich durch sein Vorgehen im Bundestag als Macher inszenieren. Als einer, der die Probleme anpackt. Ein bisschen so wie Donald Trump, der seit seinem Amtsantritt Exekutiv-Verordnungen unterschreibt und starke Bilder für seine Anhängerschaft produziert. Wenn es Merz wirklich um den Inhalt ginge, hätte er seinen Fünf-Punkte-Plan als Wahlkampfvorschlag in den kommenden Wochen im ganzen Land präsentieren können. Ohne Zustimmung der AfD. Aber er wollte Entschlossenheit zeigen. Er wollte Bilder aus dem deutschen Bundestag produzieren, die den Leuten zeigen: Hier wird nicht mehr geredet, sondern gehandelt. In anderen Worten: Merz wollte seine Autorität beweisen – und hat sie ausgerechnet so langfristig zerstört.

Die ganze Tragik seines Sieges ist heute noch nicht greifbar. Sie wird Schritt für Schritt ans Licht kommen. Erst in Parlamentsdebatten, Tischgesprächen und Talkshows. Dann in Wahlergebnissen, Regierungskoalitionen und Gesetzen. Der linke italienische Politiker und Journalist Claudio Treves schrieb vor rund 100 Jahren: „Die Revolution ist eine Epoche, nicht ein Tag“. Die Ironie der Geschichte: Im 21. Jahrhundert folgt der Siegeszug des autoritären Rechtspopulismus diesem Motto.


Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

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