Menschen stehen auf der Mauer des Gefängnisses, auf der Spitze der Mauer ist Stacheldraht ausgelegt.

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Politik und Macht

Das sah ein Arzt in Syriens berüchtigtem Foltergefängnis

Als er von der Befreiung hörte, fuhr Mahmoud Mustafa sofort nach Sednaya. Was er dort sah, wird er sein Leben lang nicht vergessen.

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Reporter für Macht und Demokratie

Ausgemergelte Körper, eingefallene Wangen, ungläubige Blicke: Während des Sturzes des Assad-Regimes befreiten die islamistischen Rebellen auch die berüchtigten Gefängnisse des Landes, in denen in den vergangenen Jahren über 100.000 Menschen verschwunden sind.

Das Sednaya-Gefängnis in der Nähe von Damaskus ist das bekannteste. Amnesty International bezeichnet es als „menschliches Schlachthaus“. Überlebende berichten von Folter, Hinrichtungen und Hunger.

Mahmoud Mustafa ist Chef der Independent Doctors Association (IDA), einer Ärzteorganisation aus Nordsyrien. Wir haben uns im Juni 2024 kennengelernt, als ich vor Ort recherchiert habe. Er war direkt nach der Befreiung mit einem Team in Sednaya, um erste Hilfe zu leisten. Ich habe ihn angerufen, sobald die Internetverbindung es zugelassen hat. Am Telefon erzählt Mustafa von den Momenten der Befreiung, dem Chaos und seinen eigenen Eindrücken. Während des Gesprächs sucht er immer wieder nach Worten für das, was er dort gesehen hat.

Es ist nicht leicht, sich mit der Gewalt und dem Leid in Sednaya auseinanderzusetzen. Aber wichtig. Denn das Geheimdienst- und Gefängnissystem ist der Schlüssel, um die Grauen der Assad-Diktatur zu verstehen.


Nach dem Sturz des Assad-Regimes sind Sie mit einem Ärzteteam sofort in das befreite Sednaya-Gefängnis gefahren. Im Internet gab es viele Bilder und Videos davon zu sehen. Können Sie mir beschreiben, was wir online nicht gesehen haben?

Da fällt mir als Erstes der Weg dahin ein: Als Damaskus befreit wurde, haben wir von der Situation in Sednaya gehört und sind sofort mit einem Ärzteteam dorthin gefahren. Auf dem Weg sind uns unzählige Autos entgegengekommen. Die ganze Straße war voll mit Menschen, die aus der Stadt fliehen wollten. Wir sind an Trümmerwüsten vorbeigefahren. Auf dem Weg lagen Autowracks und einige Leichen.

Als wir in Sednaya angekommen sind, waren schon jede Menge Leute da. Menschen aus dem ganzen Land, die nach ihren Verwandten oder Freunden gesucht haben. Eine Frau, mit der ich gesprochen habe, hat nach ihren drei Söhnen gesucht. Sie alle wurden vom Assad-Regime entführt.

Man kann sich nicht vorstellen, wie groß die Verzweiflung war und wie viele Menschen dort waren. Am zweiten Tag nach der Befreiung waren es noch mehr. Wir mussten das Auto außerhalb stehen lassen und einige Kilometer zu Fuß bis zum Eingang gehen, weil es so voll war.

Das klingt sehr chaotisch. Nach Menschen, die plötzlich Hoffnung haben. Aber auch nach großer Verzweiflung.

Es war einfach nur traurig. Diese Menschenmassen … Es waren Tausende, die nach ihren Leuten gesucht haben. Ein großes Durcheinander. Manche glaubten, sie hätten Stimmen gehört von Menschen, die noch nicht gefunden wurden. Also suchten sie nach versteckten Verliesen oder geheimen Kerkern, bohrten Löcher in den Boden und schleppten Geröll beiseite. Aber da war nichts. Andere durchsuchten stundenlang sämtliche Papiere und Akten, die dort herumlagen. In der Hoffnung, Informationen über ihre Angehörigen zu finden. Wieder andere trugen Fotos der Verschwundenen mit sich herum.

Was haben Sie gefühlt, als Sie ins Gefängnis gegangen sind?

Ich kann meine Gefühle kaum in Worten beschreiben. Sednaya liegt in den Bergen vor Damaskus. Der Ort allein löste schon Angst in mir aus. Es ist ein sehr großes, graues Gebäude mit drei Flügeln, die jeweils drei Stockwerke haben. Dann gibt es noch einen unterirdischen Trakt. Es ist sehr groß. Ich dachte: Man braucht eine ganze Kleinstadt, um so ein Gefängnis zu verwalten.

Es gibt nur einen Eingang in das Gefängnis, das Gelände rechts und links ist vermint. Wer das betritt, sprengt sich in die Luft. Durch diesen Eingang haben sich alle gedrängt und geschrien. Als ich das Gebäude betreten habe, habe ich mir eigentlich nur eine Frage gestellt: Wie können Menschen anderen so etwas antun?

Das Sednaya-Gefängnis wurde 1987 eröffnet, unter der Herrschaft von Baschar al-Assads Vater Hafez al-Assad. Er hat Syrien zu einer brutalen Diktatur umgebaut, nachdem er sich 1971 an die Macht geputscht hatte. Der syrische Geheimdienstapparat Mukhabarat spielte dabei von Anfang an eine entscheidende Rolle. Er wurde auch von Deutschen mit aufgebaut.

Es gibt einen Witz, der das Wesen des Mukhabarat zusammenfasst. Das sagt die syrisch-amerikanische Journalistin und Anwältin Alia Malek. Er geht so:

Die Geheimdienste der Welt versammeln sich. Anwesend sind die CIA, der KGB, der israelische Mossad und der syrische Muchabarat. Sie werden an den Rand eines Waldes gebracht und aufgefordert, jeweils einen bestimmten Fuchs aufzuspüren und zurückzubringen. Sowohl die CIA als auch der KGB schaffen es in einer Stunde. Der Mossad erledigt die Aufgabe sogar noch schneller. Die letzten, die zurückkommen, sind die syrischen Mukhabarat. Sie verschwinden stundenlang in den Wäldern. Als sie zurückkommen, halten sie ein schwer misshandeltes Kaninchen in der Hand. Die anderen Agenten lachen sie aus oder sind irritiert. „Das ist kein Fuchs“, sagen sie. Die Syrer in ihren Lederjacken rauchen lässig; einer von ihnen hält das Kaninchen am Hals hoch. „Er hat gestanden“, sagt ihr Anführer. „Er hat zugegeben, dass er ein Fuchs ist.“

Diese Brutalität zeichnete Sednaya von Anfang an aus. Nach der Eröffnung wurde es das bekannteste Gefängnis des Landes für politische Gefangene und nach Beginn des Arabischen Frühlings 2011 der Ort, an dem das Regime Zehntausende foltern, hinrichten und verschwinden ließ. 2017 waren laut Schätzungen von Amnesty International rund 20.000 Menschen in dem Gefängnis inhaftiert. Zwischen 2011 und 2018 starben dort geschätzt 30.000 bis 35.000 Häftlinge. Hunderte Aufseher, Geheimdienstler und Soldaten sollen es bewacht haben.

Als das Gefängnis befreit wurde, zählte es laut der Nichtregierungsorganisation ADMSP noch rund 4.300 lebende Insassen.

Mahmoud Mustafa trägt ein braunes Poloshirt und eine beigefarbene Weste. Im Hintergrund sieht man einen Menschen auf einem Motorroller und ein Stück einer Mauer. Mahmoud trägt außerdem eine Sonnenbrille.

Mahmoud Mustafa im Sommer 2024 in einer Zeltstadt von Vertriebenen vor dem Krankenhaus in Bab al-Salam © Benjamin Hindrichs

Wie sieht es in Sednaya aus?

Im Zentrum des Gefängnisses befindet sich eine riesige Wendeltreppe. Es gibt drei Flügel. In jedem Gang liegen zwölf Räume. Das sind Zellen ohne Fenster, in absoluter Dunkelheit. Es gibt kein Sonnenlicht. Darin ist nur eine dreckige Toilette. Sonst ist da nichts. Nur Schmutz und Kleidungsstücke, die auf dem Boden herumliegen. Die Räume sind ungefähr fünf mal fünf Meter groß. In jeder Zelle waren bis zu 60 Menschen. Als Überlebende uns erzählt haben, wie sie dort gelebt haben, konnten wir das kaum glauben.

Was haben Überlebende Ihnen denn erzählt?

Ich habe mit einem Mann aus Daraa gesprochen. Er wurde 2018 dort eingesperrt und war sieben Jahre lang in Sednaya, bis letzten Sonntag. Zuvor hatte er in einem Feldkrankenhaus als Sicherheitsmann gearbeitet. In einer Stadt, die vom Assad-Regime eingenommen wurde.

Er sagte mir: Die Leute, die 2012 oder 2013 nach Sednaya gekommen sind, sind alle tot. Sie wurden alle umgebracht. Jeden Tag hätten die Aufseher die Namen von 15 bis 20 Personen bekannt gegeben. Diese Menschen wurden dann abgeführt. Erst dachten sie, sie werden freigelassen. Später hätten sie verstanden: Wenn dein Name ausgerufen wird, wirst du umgebracht.

Die Befreiung Sednayas hat das Grauen des syrischen Regimes offengelegt: Räume, in denen Stricke rumliegen, an denen die Häftlinge aufgehängt wurden. Eine Eisenpresse, mit der die toten Körper zusammengequetscht wurden, um sie anschließend zu entsorgen. Nachrichten, die Insassen an die Wände gekritzelt haben: Holt mich einfach nur hier raus.

Inzwischen sind Videos aufgetaucht, die mutmaßliche Folter von Insassen zeigen sollen.Verschiedene Recherchen zeigten schon vorher: Gefangene wurden sexuell missbraucht, ausgepeitscht und mit Elektroschocks traktiert. Ihnen wurde der Schlaf entzogen und sie mussten bei der Folter anderer Insassen zusehen. Ihre Genitalien wurden verstümmelt und sie wurden gezwungen, sich gegenseitig zu schlagen, zu vergewaltigen oder sogar zu töten.

In einem Bericht von Amnesty International heißt es: „Folter wird nicht angewandt, um Informationen zu erhalten, sondern dient augenscheinlich der Erniedrigung, Bestrafung und Demütigung. Die Gefangenen werden schonungslos ins Visier genommen und können nicht ‚gestehen‘, um sich vor weiteren Schlägen zu retten.“

Wie ging es den Überlebenden, mit denen Sie gesprochen haben?

Die Situation ist schlimm, den meisten Überlebenden geht es sehr schlecht. Manche haben den Verstand verloren. Sie können sich nicht einmal an ihren Namen erinnern, erkennen ihre Verwandten nicht oder wissen nicht, woher sie kommen.

Die meisten Menschen, die in Sednaya inhaftiert waren, sind unterernährt. Überlebende haben uns gesagt, dass es pro Zelle nur zwei Mal pro Woche Essen gab. Sehr kleine Rationen von verrottetem Essen.

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Ein anderes großes Problem ist Tuberkulose. Das haben wir bei unseren Untersuchungen festgestellt. Ein Überlebender wusste bereits von seiner Krankheit. Als ich ihn fragte, woher er das weiß, sagte er: Der Doktor hat mir das gesagt. Also habe ich ihn gefragt, ob er Medikamente bekam. Seine Antwort: Nein, nein, der Arzt in Sednaya ist gefährlich. Du kannst ihn nicht einfach nach Medikamenten fragen. Er kann dich umbringen. Wir nennen ihn den Killer.

Die Lebensbedingungen waren katastrophal. Viele Überlebende haben auch Hautkrankheiten. Und dann sind da die Folgen von Folter und Gewalt. Gebrochene Knochen, Verletzungen, aber auch psychische Erkrankungen.

Gibt es eine Situation, die Sie besonders bewegt hat?

Ein Überlebender, mit dem ich gesprochen habe, konnte kaum noch laufen und schaute die ganze Zeit auf den Boden. Sein Blick, sein Gang, seine Gesten: Er bewegte sich sehr unterwürfig. Als ich ihn darauf angesprochen habe, sagte er: Wir mussten die ganze Zeit auf den Boden schauen. Wer nach oben blickte, wurde umgebracht.

Sednaya war ein Kernstück des riesigen Unterdrückungsapparats des Assad-Regimes. Im ganzen Land gab es mehr als 100 Folterzentren und Gefängnisse. Manche lagen mitten im Stadtzentrum von Damaskus, sie waren allgemein bekannt. In diesen Gefängnissen sollen seit Beginn des Arabischen Frühlings 2011 insgesamt rund 1,2 Millionen Menschen gesessen haben. Das berichtete das „Syrian Network for Human Rights“ (SNHR) im März 2023. Mehr als 135.000 Menschen sollen in den Gefängnissen des Landes verschwunden sein. Ihre Angehörigen suchen jetzt überall im Land nach Spuren der Verschwundenen.

Ein zentrales Instrument der Einschüchterung des Assad-Regimes war die Willkür: Es konnte jeden treffen. Und das sollten alle wissen. Während der Anfangszeit des Arabischen Frühlings verhaftete und folterte das Regime Tausende Menschen, die willkürlich von der Straße aufgegriffen wurden. Anschließend wurden sie wieder freigelassen, um ihren Freund:innen und Verwandten davon zu erzählen. Denn das lähmt. Der Terror schreibt sich so in die ganze Gesellschaft ein und durchdringt alle Religionen, Berufe und sozialen Klassen.

Manche der Überlebenden saßen Jahre oder Jahrzehnte im Gefängnis. Wo sind die Menschen nach der Befreiung hingegangen?

Als wir ankamen, waren viele schon draußen. Manche sind direkt zu ihren Heimatorten aufgebrochen. Andere wurden in die Krankenhäuser der Umgebung gebracht. Wir haben auch Menschen zu Moscheen gefahren, damit sie sich dort erst einmal sammeln können.

Was war Ihre Rolle in dieser Situation?

Wir haben Kontrolluntersuchungen gemacht und geholfen, wo wir konnten. Das war nicht leicht. Viele Überlebende verstanden noch nicht, dass sie frei sind. Manche wollten sich nicht behandeln lassen oder mit uns sprechen. Sie hatten Angst, dass wir Teil des Assad-Regimes sind, dass der Terror zurückkommt. Sie hatten Angst, sich zu verraten. Sie haben noch nicht verstanden, dass sie jetzt frei sind. Ich werde mich mein Leben lang daran erinnern. Das kann man sich nicht ausmalen.

Einige der Menschen in Sednaya haben Jahre oder sogar Jahrzehnte ohne Sonnenlicht verbracht und schwere Folter erlebt. Was braucht es jetzt, damit die Gesellschaft sich richtig um sie kümmert?

Die Überlebenden brauchen ärztliche Versorgung. Sie brauchen psychologische Unterstützung. Deshalb besorgt es mich, wie chaotisch die Freilassung verlief. Das muss eigentlich besser organisiert werden. Aber auch die Leute, die gerade nach ihren Verwandten und Freunden suchen, brauchen Hilfe. Die Mütter und Väter, die noch nicht glauben können, dass ihre Söhne und Töchter doch nicht zurückkommen. Die gerade ihre Hoffnung verlieren.


Redaktion: Rebecca Kelber, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Das sah ein Arzt in Syriens berüchtigtem Foltergefängnis

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