Es gibt jetzt nur noch zwei Führer auf der Welt: Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan.
Das sagt zumindest Erdoğan.
Am Tag, an dem der syrische Diktator Baschar al-Assad gestürzt wurde, sprach Erdoğan auf einem Jugendforum im südtürkischen Gaziantep. „Ich bin 22 Jahre im Amt“, erklärte Erdoğan am 8. Dezember 2024, „Herr Putin fast genauso lange“. Die anderen – damit meint er wahrscheinlich starke Männer in Machtpositionen – seien alle eliminiert worden.
Zwei Ereignisse haben in den vergangenen Jahren die Weltordnung grundlegend verändert. Russlands Überfall auf die Ukraine und der Angriff der Hamas gegen Israel mit den darauf folgenden Kriegen im Nahen Osten. Ohne diese beiden Ereignisse wäre das Regime in Syrien nicht gefallen.
Es ist natürlich schwer zu sagen, wer hier gerade gewinnt, sofern es bei Kriegen und Umstürzen überhaupt Gewinner geben kann. Verloren hat auf jeden Fall der Diktator Baschar al-Assad, der aus Syrien floh. Verloren haben auch seine Verbündeten Russland und Iran. Und auf der Gewinnerseite, so zeichnet es sich immer mehr ab, steht die Türkei.
Das liegt auch an der außenpolitischen Strategie des türkischen Präsidenten Erdoğan. Eine Strategie, die beinhaltet, dass er überall Einfluss nimmt, sei es in der Nato, in Russland oder im Nahen Osten. Schon jetzt dominieren verschiedene Player das Weltgeschehen. Alle kämpfen um einen Platz am Tisch – auch Erdoğan. Unter ihm soll die Türkei zu einem dieser mächtigen Akteure werden. Die Frage ist nur, ob sein Plan aufgeht.
Das will Erdoğan wirklich
Erdoğans Ziel ist leicht zu beschreiben: Die Türkei soll unter ihm eine Großmacht werden. Das sagte er selbst, zum Beispiel während einer Wahlkampfveranstaltung im Frühjahr 2024. Das bestätigte mir auch Henri Barkey, Experte für den Mittleren Osten von bei der Denkfabrik Council on Foreign Relations und Professor für internationale Beziehungen an der Lehigh University in den USA. „Er ist ein Narzisst und will, dass die Menschen ihn als einen der größten Anführer aller Zeiten betrachten“, sagt Barkey.
Viele bezeichnen Erdoğans Ideologie deshalb als „neo-osmanisch“, also als Fortführung des Osmanischen Reiches, das über Jahrhunderte Teile Nordafrikas, Südosteuropas und des Nahen Ostens beherrschte. „Regierungsnahe Medien feiern die Ausweitung der militärischen Präsenz der Türkei auf ehemals osmanische Gebiete wie den Irak, Libyen, Syrien und den Kaukasus als Wiedergeburt eines schlafenden Riesen“, schreibt die türkische Journalistin Aslı Aydıntaşbaş in der Zeitschrift Foreign Affairs.
Aydıntaşbaş stellt eine interessante These auf, um die Strategie der Türkei zu beschreiben. Sie sieht eine Parallele zum deutschen „Sonderweg“. Diese Vorstellung besagt, dass sich Deutschlands Entwicklung zu einer Demokratie im 19. und 20. Jahrhundert von anderen europäischen Ländern unterscheide, beispielsweise wegen der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Aydıntaşbaş beobachtet auch bei der Türkei einen „besonderen Weg“. Das Land sei eine Ausnahme in der Region, wegen seiner imperialen Vergangenheit und den wiederauflebenden Ambitionen, wieder Einfluss zu nehmen. Erdoğan verschmelze Islamismus und Nationalismus, versuche eine Führungsrolle in der muslimischen Welt einzunehmen und gleichzeitig Beziehungen zu Europa aufrechtzuerhalten.
Treffen sich drei Autokraten: So pflegt Erdoğan gute Beziehungen zu verschiedenen Machthabern
Treffen sich Erdoğan, Putin und Xi auf einen Plausch – das könnte der Beginn eines schlechten Witzes sein. Oder eine Nachricht aus der Politik-Berichterstattung. Vergangenen Juli kamen die drei Machthaber von der Türkei, Russland und China bei einem Treffen zusammen. Zu dem jährlichen Gipfel der „Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ kamen nicht nur die autokratischen Präsidenten von Russland, China und der Türkei, sondern auch die von Aserbaidschan, Belarus oder Kasachstan, um über Stabilität und Sicherheit zu reden.
Die Türkei hat ein recht gutes Verhältnis sowohl zu China als auch zu Russland. Während der Corona-Pandemie impfte die Türkei mit dem chinesischen Impfstoff. Und von keinem Land importiert die Türkei so viele Waren wie von China. Das hat sogar dazu geführt, dass Erdoğan nicht mehr kritisiert, dass China die Uiguren unterdrückt. 2009 bezeichnete er es noch als Völkermord, heute schweigt er dazu. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Uiguren eine muslimische und turksprachige Minderheit sind, also kulturell mit der Türkei verbunden sind.
Auch mit Russland arbeitet die Türkei zusammen, vor allem bei der Energieversorgung. 2020 eröffneten Erdoğan und Putin die Gas-Pipeline „TurkStream“, die russisches Gas von Russland in die Türkei befördert. Das erste Atomkraftwerk der Türkei gehört zu 100 Prozent dem russischen Staatskonzern Rosatom. Der erste von insgesamt vier Reaktoren wurde 2023 eröffnet. „Die größte Zusammenarbeit in der Geschichte der türkisch-russischen Beziehungen“, so verkündete es die türkische Regierung.
Die Journalistin Aydıntaşbaş schrieb schon 2021 darüber, dass sich die Türkei danach sehne, eine selbstbestimmte Macht zu sein. „Ihre neue Außenpolitik lässt sich am besten nicht als ein Abdriften in Richtung Russland oder China verstehen, sondern als Ausdruck des Wunsches, in jedem Lager einen Fuß zu haben und die Rivalität der Großmächte zu managen.“
Die Türkei ist nämlich seit 1952 Nato-Mitglied und hat nach Personalstärke die zweitgrößte Armee der Nato. Die Türkei verurteilte den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und verbot russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch das Schwarze Meer. Sie lieferte der Ukraine Bayraktar-Drohnen, die gerade zu Beginn des Krieges sehr wichtig für die Ukraine waren. Sie wurden in den ersten Kriegsmonaten zu einem Symbol für den ukrainischen Widerstand, in Litauen sammelten Bürger:innen mehrere Millionen Euro, um der Ukraine eine Bayraktar-Drohne zu kaufen, und in der Ukraine selbst ging ein Lied viral mit dem einfachen Refrain „Bayraktar“.
Erdoğan provoziert mit diesem Kurs zwischen den Mächten oft Konflikte. Es hat ihm aber auch schon genützt. Es ermöglichte der Türkei zum Beispiel, 2022 mit den Vereinten Nationen das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine zu verhandeln. Das Abkommen regelte, dass die Ukraine trotz des russischen Angriffs Getreide über das Schwarze Meer exportieren konnte. Das war in einer Zeit, als Russland und die Ukraine nicht mehr miteinander redeten und ein Verhandlungsfrieden vollkommen unrealistisch wirkte. Das Getreideabkommen gab vielen die Hoffnung, dass Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine doch möglich sein könnten.
Die Türkei will ein starkes Militär – und hat eigene Ziele in Syrien
Die Türkei baut ihr Militär aus und das seit Jahren. Für das Jahr 2024 gab die Türkei 40 Milliarden Dollar für Verteidigung aus. Das war eine Steigerung zum Vorjahr von 150 Prozent. Für das Jahr 2025 sollen die Ausgaben noch einmal steigen, auf eine Rekordsumme von 47 Milliarden Dollar. Die Türkei hat Truppen in Ländern wie Libyen, Irak oder Aserbaidschan. Bei der Nachrichtenagentur Bloomberg heißt es, dass die Türkei seit dem Ende des Osmanischen Reiches keine so große militärische Präsenz mehr gehabt habe wie heute. Das ist über 100 Jahre her.
Ein Land, in dem die Türkei seit Jahren viel Einfluss nimmt, ist sein Nachbarland Syrien. Hier hat Erdoğan vor allem ein Ziel: einen kurdischen Staat im Norden Syriens zu verhindern. Seit Jahren attackieren türkische Kräfte dort militärische und zivile Ziele. Auch jetzt, nach dem Sturz Assads, gehen die Angriffe weiter.
Für Erdoğan gibt es aber noch ein weiteres Thema, nämlich Geflüchtete. Kein Land hat so viele Menschen aus Syrien aufgenommen wie die Türkei, mehr als drei Millionen Menschen. Das wird innenpolitisch für ihn immer mehr zum Problem, denn die Ressentiments gegen Syrer:innen wachsen. Vergangenen Juli kam es in der Türkei zu Ausschreitungen, in mehreren türkischen Städten attackierten Menschenmengen syrische Läden und Autos. Fast 500 Personen wurden festgenommen, die Türkei schloss mehrere Grenzübergänge zwischen Syrien und der Türkei.
Wenn sich die Lage in Syrien stabilisiert und viele in der Türkei lebende Syrer:innen in ihre Heimat zurückkehren, dann wäre das ein Gewinn für Erdoğan. Und wenn Syrien wieder aufgebaut wird und Milliarden an Hilfsgeldern aus aller Welt in das Land fließen, dann profitieren wahrscheinlich auch türkische Firmen, die für den Wiederaufbau beauftragt werden.
Ist Erdoğans Strategie also erfolgreich, wird die Türkei mit ihm zu einer Supermacht? Experte Henri Barkey sagt: „Ich denke nicht.“ Beispielsweise werde normalerweise jeder türkische Präsident ins Weiße Haus eingeladen. Aber US-Präsident Biden habe Erdoğan mit voller Absicht kein einziges Mal eingeladen. „Er hat so viele Menschen verprellt“, sagt Barkey über Erdoğan. Auch in Europa hat sich Erdoğan immer unbeliebter gemacht, weil er gerne über den Westen und die EU schimpft.
Barkey sagt aber auch: „Die Sache mit der internationalen Politik ist die, dass es immer unbeabsichtigte Konsequenzen gibt.“ Nirgendwo wird das so deutlich wie in Syrien, wo seit vielen Jahren viele Gruppen gegeneinander kämpfen. Auch jetzt kann niemand wirklich sagen, wie es mit dem Land weitergeht. Die syrische Bevölkerung feiert gerade den Sturz von Assad. Doch am Ende könnte es Erdoğan sein, der zu den größten Gewinnern gehört.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger.