Ein weltweit gesuchter Islamist stürzt nach über 50 Jahren die Assad-Diktatur und verspricht, Minderheiten zu schützen und einen geordneten Machtwechsel zu organisieren.
Es klingt zu schön, um wahr zu sein.
Seit dem Sturz des Assad-Regimes steht Rebellenführer Muhammad al-Dschaulani plötzlich im globalen Rampenlicht. Videos zeigen, wie der Militärchef der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die Zitadelle von Aleppo besucht, in Damaskus umjubelt wird, und im Fernsehen den Schutz von Christen, Kurden und Aleviten im Land verspricht.
Ob er seine Versprechen einlöst, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Skepsis ist angebracht. Aber schon jetzt ist klar: Der Sturz des Assad-Regimes durch al-Dschaulanis Truppen markiert einen noch viel größeren Umbruch.
Seit über 20 Jahren haben Terrorgruppen wie Al-Qaida und der Islamische Staat (IS) das Bild dschihadistischer Bewegungen geprägt. Als Osama bin Laden zum globalen Krieg gegen die USA aufrief, folgten ihm Zehntausende, um gegen die verhasste Supermacht zu kämpfen. Später versprach der IS seiner Anhängerschaft ein Scharia-Kalifat und herrschte zwischenzeitlich über ein großes Gebiet in Syrien und Irak, in dem er Tausende Menschen versklavte, in Käfige sperren oder öffentlich hinrichten ließ.
Beide Organisationen verfolgten ein ähnliches Ziel: Ihr Kalifat sollte Grenzen überschreiten und Ungläubige weltweit bekämpfen. Beide Organisationen haben durch ihre Gewalt weltweit unfassbares Leid verursacht. Und beide Organisationen verlieren seit Jahren im Nahen Osten an Einfluss.
Das liegt auch daran, dass Gruppen wie die HTS-Rebellen sich erst von ihnen abgewandt und distanziert haben und sie dann sogar bekämpften, obwohl sie ebenfalls ultrareligiöse Islamisten sind.
Aber die neuen konkurrierenden Gruppen verfolgen grundlegend andere Ziele und wenden deshalb auch andere Strategien an: Der Trend geht weg vom globalen Terrorismus hin zu lokal verankerter Politik mit erzkonservativ-islamistischem Anstrich.
Das heißt: Wenn wir den Dschihadismus der Zukunft verstehen wollen, müssen wir umdenken – ohne ihn zu verharmlosen.
Wie die HTS-Rebellen mit ihren Vorbildern brachen
Muhammad al-Dschaulani, der Militärchef der HTS, ist ein Sohn des modernen Dschihadismus. 2003 zog er als 21-Jähriger in den Irak, nachdem die USA das Land überfallen hatten. Dort kämpfte er gegen die „Ungläubigen“ aus dem Westen. Später wurde er von US-Truppen festgenommen und eingesperrt. Er verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis. Dort kam er auch mit der irakischen Vorläuferorganisation des Islamischen Staates (IS) in Kontakt.
Als er freigelassen wurde, begann in Syrien die Rebellion gegen das Assad-Regime. 2011 kehrte Al-Dschaulani deshalb im Auftrag des IS in seine Heimat zurück. Er sollte das Chaos nutzen und einen syrischen IS-Ableger gründen. So entstand die Gruppe Jabhat al-Nusra, die in Deutschland als Al-Nusra-Front bekannt wurde. Dank jeder Menge IS-Geld und ausländischen Kämpfern wurde sie sofort eine der wichtigsten Oppositionsgruppen in Syrien.
Doch schon bald kam es zum Bruch mit der Mutterorganisation: 2013 wollte der damalige IS-Chef die Al-Nusra-Front mit dem IS vereinen. Al-Dschaulani gefiel das nicht. Mit dem IS verband ihn zwar eine ultrareligiöse Weltanschauung. Doch er wollte nicht den brutalen und globalen Kampf des IS führen, sondern sich in Syrien weiter als Teil der Opposition etablieren und gegen Assad kämpfen. Also erklärte er die Abspaltung vom IS und schwor Al-Qaida die Treue. Vermutlich, um die Hardliner in den eigenen Reihen zu beschwichtigen und weiterhin den Schutz einer großen Organisation hinter sich zu haben.
Schon damals erklärte er in einem Interview mit Al Jazeera: „Wir streben weder danach, die Zukunft Syriens nach dem Sturz des Regimes im Alleingang zu gestalten, noch wollen wir die Gesellschaft einseitig führen, selbst wenn wir die Fähigkeit dazu erlangen.“
Niemand kaufte ihm das wirklich ab. Aber zum ersten Mal zeigte sich ein grundlegender Konflikt zwischen Dschihadisten, der im Westen lange Zeit völlig übersehen wurde: Die einen wollen für einen globalen Dschihad kämpfen, die anderen möchten sich auf ihre Heimatregion fokussieren und vor Ort politische Macht übernehmen. Aus diesen unterschiedlichen Zielen folgen auch unterschiedliche Strategien: Wer tatsächlich Politik machen will, braucht zumindest eine gewisse Verankerung in der Zivilbevölkerung.
In den Folgejahren kämpfte die Al-Nusra-Front also gegen Assad, die Hisbollah, Iran und den IS. 2016 verkündete Al-Dschaulani dann den Bruch mit Al-Qaida. Der Grund war da schon bekannt: Er wollte sich auf den Kampf in Syrien konzentrieren. Also benannte er seine Gruppe in „Front für die Eroberung der Levante“ um und schloss sich mit anderen Kampfbünden aus der Region zusammen, um gemeinsam in der Region Idlib zu regieren. So entstand Hayat Tahrir al-Sham (HTS).
Die Gruppe bekämpfte nicht nur den IS, sondern auch neue Al-Qaida-Splittergruppen in der Region. Ab 2020 organisierte sie sich neu und baute in der Region zunehmend staatliche Strukturen auf. Die Regierung verbesserte die Gesundheitsversorgung, baute die Strom- und Wasserversorgung auf, installierte ein lokales Mobiltelefonnetz und kurbelte die Wirtschaft an. Gleichzeitig hat Al-Dschaulani an seinem Image als Politiker gearbeitet: Seit Jahren zeigt er sich regelmäßig in der Öffentlichkeit in Idlib, macht Selfies mit Anhängern und serviert Mittagessen in lokalen Restaurants.
Man könnte sagen: Al-Dschaulani will beweisen, dass Syrien auch ohne Assad funktionieren kann. Er ist weiterhin ein nationalreligiöser Ideologe. Aber er hat der HTS einen pragmatischen Anstrich verpasst: Christen, Kurden und andere Minderheiten werden in Idlib nicht verfolgt, Frauen dürfen arbeiten und müssen sich nicht voll verschleiern. Das bedeutet natürlich nicht, dass es sich bei der HTS um Demokraten handelt. Aber die Gruppe hat verstanden: Um Assad zu stürzen, braucht es Vertrauen in sie und eine breite Allianz aller gesellschaftlichen Gruppen.
Folgerichtig verschonte die Miliz bei der Offensive, die zum Sturz des Assad-Regimes führte, die Zivilbevölkerung. Die Kämpfer verteilten Brot an die Bevölkerung und zuletzt erklärte die HTS, die kommunale Struktur der syrischen Gesellschaft mit ihren verschiedenen Konfessionen zur Grundlage einer Übergangsverwaltung machen zu wollen.
Zusammengefasst heißt das: Anstatt einen globalen Dschihad zu führen, entschied sich die HTS dazu, die Zukunft Syriens mitzugestalten. Sie gibt sich dabei zwar erzkonservativ islamistisch, aber pragmatisch. Schon 2021 verkündete Al-Dschaulani, die USA und die westliche Welt nicht mehr als Gegner zu betrachten und keine Anschläge außerhalb Syriens durchzuführen.
Das ist ein radikaler Bruch mit dem Dschihadismus der Vergangenheit.
Diese Lehren zogen sie aus dem Krieg gegen den Westen
Die Dschihadisten um Al-Dschaulani haben aus den Kämpfen der vergangenen 20 Jahre zwei zentrale Lektionen gezogen.
Erstens: Lokal können sie viel mehr erreichen als in einem globalen Kampf gegen militärische Supermächte wie die USA. Die sind zwar ein gutes Feindbild, aber der Kampf gegen sie ist wahnsinnig teuer und führt zu zahlreichen Verlusten.
Zweitens: Um erfolgreich politische Verantwortung zu übernehmen, müssen sie pragmatischer agieren und ihre Ideologie an die lokalen Gegebenheiten anpassen. Sie müssen in der lokalen Zivilgesellschaft verankert sein und nicht aus dem fernen Elfenbeinturm den Dschihad predigen, sondern auf der Straße die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Erst dann werden sie vor Ort respektiert.
Der Islamismus-Experte Aaron Zelin spricht von einem „politischem Dschihad“, für den Dschihadisten wie Al-Dschaulani sich sowohl vom IS als auch von Al-Qaida abgewandt haben – und für den sie den Westen von ihrer Feindesliste strichen. Sie wissen: Wenn sie gegen moderne Militärs aus den USA oder Israel kämpfen, verspielen sie ihren Einfluss, verlieren ihre Macht und müssen immer wieder von vorne anfangen. Das schadet ihrem Ziel, nach den Regeln einer erzkonservativen Auslegung des Islam zu regieren.
In einer neuen Weltordnung hilft Pragmatismus den Dschihadisten
20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ist der Dschihadismus also nicht zerschlagen oder vernichtet, im Gegenteil: Er erlebt aktuell einen großen Siegeszug. Aber er hat seine Denkweise grundlegend verändert.
Die Zukunft islamistischer Bewegungen liegt nicht im sozial-medial inszenierten Terror gegen Europa, sondern in lokalen politischen Projekten. Sie wird pragmatischer und verstaatlichter sein, als wir es vom IS oder Al-Qaida kennen.
HTS-Chef Al-Dschaulani hat das früh verstanden, und andere Gruppen werden von ihm lernen. Genau wie sie schon von den Taliban gelernt haben: Sie hatten vor ihrer Machtübernahme 2021 lange mit den USA über den Abzug der US-Truppen verhandelt. Sie inszenierten sich staatstragend und versicherten, kein Interesse an einem globalen Konflikt zu haben.
Damals lernten viele Dschihadisten: Wenn sie globalen Militärmächten glaubhaft verkaufen können, dass aus ihrer Region keine Gefahr für deren Gesellschaften ausgeht, werden sie zumindest geduldet. Das gilt vor allem in einer neuen Weltordnung, in der nicht nur Dschihadisten, sondern auch der Westen immer pragmatischer agieren und neue Bündnisse schmieden muss.
Wichtig ist aber: Das darf nicht dazu führen, die Dschihadisten zu verharmlosen. Die Taliban haben längst gezeigt, dass all ihre Versprechen über eine moderate Regierungsführung eine Täuschung waren. In Syrien wird sich zeigen, wie ernst die HTS es meint. In der nordsyrischen Provinz Idlib sollen Regimegegner:innen immer wieder inhaftiert und eingeschüchtert worden sein.
Also auch wenn der Dschihadismus der Zukunft keine Anschläge mehr in Europa verüben will: Sein Gesellschaftsbild ist erzkonservativ, islamistisch, seine Herrschaftsform autoritär. Der Trend geht vom Terrorismus zum Autoritarismus. Das mag für den Westen eine gute Nachricht sein. Für viele Menschen vor Ort ist es das nicht.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert