Es gibt Themen, über die wird es immer schwerer zu sprechen.
Der Nahostkonflikt gehört dazu. Wobei Konflikt kein geeignetes Wort mehr ist, schließlich geht es hier um den Terror der Hamas am 7. Oktober 2023, um den Krieg Israels in Gaza und im Libanon. Es geht um Geiseln, die immer noch nicht frei sind und Zehntausende Tote, davon viele Kinder.
Es ist schwer, das Leid der einen anzuerkennen, ohne das Leid der anderen zu relativieren. Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, in einem Diskurs, der von Empörung und Aufregung geprägt ist.
Diesen Buchauszug hat Isolde Ruhdorfer ausgewählt
Isolde schreibt über Außenpolitik und deshalb auch über den Nahostkonflikt. Hier begründet sie, warum du diesen Buchauszug lesen solltest.
Umso wichtiger sind Texte wie die von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel. Saba-Nur Cheema ist Politologin und Antirassismus-Trainerin und wuchs in Frankfurt am Main als Kind pakistanischer Flüchtlinge auf. Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und wuchs in einem Kibbuz in Israel auf. Die beiden sind ein Paar – doch in diese persönliche Beziehung mischt sich täglich Politik. Der Nahostkonflikt oder Identitätsdebatten spiegeln sich in ihrem Privatleben, bei ihnen zuhause am Abendbrottisch wider. Davon handelt ihr Buch „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“.
In diesem Buchauszug schreiben sie darüber, wie sie versuchen, ihrem Sohn beide Religionen gleichberechtigt nahezubringen. Ein Kind, das nicht nur jüdisch und muslimisch, sondern auch pakistanisch, israelisch und hessisch ist. All das erzählen Cheema und Mendel ohne Empörung, ohne Wut, sondern mit Witz und Ironie. Ihre Erzählungen sind persönlich und politisch – und dabei immer voller Zuversicht.
Oft haben wir uns über Freunde amüsiert, die Großziehen von Kindern zum Projekt permanenter Optimierung machen. Jeder Schritt ist minutiös und nach dem letzten Trend aus diversen Elternforen durchgeplant. Vom Ökotragetuch über die Einrichtung des Kinderzimmers nach Feng-Shui bis zur multilingualen Kita (am liebsten mit Erstsprache Mandarin) – alles, damit das Baby seine Chancen auf Nobelpreis oder Oscarnominierung nicht schon vor dem Abstillen verpasst.
Jetzt sind wir dran in Sachen Kinderoptimierung, denn neuerdings sind wir Eltern. Mit Feng-Shui können wir zwar nichts anfangen, aber in puncto hybride Identität haben wir einiges zu bieten: muslimisch, israelisch-jüdisch, pakistanisch und hessisch – all dies ist unserem Kind schon in die Wiege gelegt. Wenn es mit dem Nobelpreis nicht klappt, garantiert die Kombination der elterlichen Sprachen immerhin eine Karriere als Mossad-Agent.
Das „Projekt“ jüdisch-muslimisches Kind hat allerdings Anlaufschwierigkeiten. Gleich bei der Beantragung der Geburtsurkunde wurden wir auf dem Amt 35 freundlich darauf hingewiesen, dass eine doppelte Religionszugehörigkeit – jüdisch und muslimisch – nicht gestattet ist. Nach kurzer Beratung im Flur kamen wir mit einem neuen Vorschlag: Wie wäre es mit „divers“ als Religionszugehörigkeit? Mit neuerlichem Kopfschütteln wurde unser progressiver Entwurf niedergeschmettert. Letztlich mussten wir uns mit der Bezeichnung „konfessionslos“ zufriedengeben.
Unser Sohn ist weder jüdisch noch muslimisch – aus Sicht der Religionsgemeinschaften, die in Deutschland besonders streng sind
Die Konfessionslosigkeit unseres Sohns wird aber nicht nur durch den Staat, sondern auch von den Religionsgemeinden erzwungen. Aus Sicht beider Orthodoxien ist er weder jüdisch noch muslimisch. Das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, legt fest, dass das Jüdischsein über die Mutter, das islamische Gesetz regelt, dass das Muslimsein nur vom Vater weitergegeben wird. Eine umgekehrte Vater-Mutter-Konstellation wäre aus orthodoxer Sicht womöglich einfacher – lieber ein Doppelpass statt staatenlos, sozusagen.
Traurigerweise folgen beide Religionsgemeinschaften in Deutschland der orthodoxen Sicht der Dinge so streng, als würde jede andere Auslegung den Untergang der eigenen Gemeinschaft heraufbeschwören. Dabei würde sich ein Blick über den deutschen Tellerrand lohnen. Ein Argument für die Erweiterung der Religionsweitergabe für beide Elternteile wäre etwa die Geschlechtergerechtigkeit. Die Patrilinearität im Islam ist nicht ohne Gegenbeispiel: So gibt es auf der Insel Sumatra in Indonesien eine muslimische Community, in der ähnlich wie im Judentum das Prinzip der Matrilinearität gilt. Die Minangkabau-Community gilt als größte matriarchale Gesellschaft der Welt. Nicht nur die Religionszugehörigkeit, sondern auch das Eigentum und sogar der Thron in der Königsfamilie wird in der weiblichen Linie vererbt. Die Abweichung ist Fundamentalisten natürlich ein Dorn im Auge, und die Community wird auch von Salafisten auf der Insel häufig angefeindet.
Auch die Festlegung des Judentums auf die mütterliche Erbfolge kann infrage gestellt werden. Bis etwa 200 nach Christus galt das patrilineare Prinzip. In Amerika beschloss die Central Conference of American Rabbis als Reaktion auf die Verbreitung von „mixed marriages“ schon 1983, Kinder jüdischer Väter als vollwertige Juden anzuerkennen, sofern sie jüdisch erzogen werden. Seitdem sind fast alle jüdischen Gemeinden im Westen dem Vorbild gefolgt.
In Deutschland ticken die Uhren langsamer: Es ist nicht lange her, dass der Zentralrat der Juden den Lyriker Max Czollek zum Nichtjuden erklärte, weil er keine jüdische Mutter hat. In einer liberalen, pluralen Gesellschaft ist es ein außergewöhnlicher Vorgang, dass ein Religionsverband öffentlich einer Privatperson ihre Religionszugehörigkeit abspricht. Im Islam wird das als Takfir bezeichnet: ein Vorgang, der heutzutage eher in Iran oder in Saudi-Arabien praktiziert wird.
Was ist er denn nun: Jude oder Muslim? Dabei können religiöse Identitäten divers sein
Ob diese theologischen Fragen unseren Sohn in Zukunft tatsächlich beschäftigen werden, wissen wir nicht. Aber für unsere Familien ist es aktuell eine zentrale Frage: Was ist er denn nun: Jude oder Muslim? Hier wird schnellstens eine klare Antwort verlangt. Das fängt schon beim Namen an. Wir haben uns für einen arabischen Vornamen und einen jüdischen Nachnamen entschieden. Auf Spotify haben wir eine Playlist erstellt, in der Songs auf Hebräisch, Arabisch und Urdu abwechselnd laufen – von zionistischen Kinderliedern aus den Zwanzigern bis zu Koranversen, die Allah lobpreisen. Und dann ist da noch die Sache mit der Beschneidung.
In unserer Umgebung wird vor Identitätskrisen gewarnt, wenn dem Kind nicht von Anbeginn eine klare religiöse Identität vermittelt wird. Vielleicht sind wir naiv und werden bald auf die Nase fallen, doch die Vorstellung, die unseren Familien Angst macht, bereitet uns Freude. Wie falsch kann es sein, ein Kind in dem Wissen zu erziehen, dass es mehr als eine richtige Religion gibt?
Der Wunsch nach Eindeutigkeit ist verständlich. Sogar die liberalen und die Reformbewegungen in Islam und Judentum empfehlen interreligiösen Familien, sich für eine Religion in der Kindererziehung zu entscheiden – während die andere nur „respektiert“ werden soll. Nach welchen Kriterien sollten wir dies aber entscheiden? Schicken wir die Großeltern in einen Ring? Werfen wir eine Münze? Begeben wir uns in die endlose theologische Debatte, ob im Himmel ein Jehova oder Allah ist?
Uns ist auch der „Respekt“ der anderen Religion gegenüber zu wenig. Es geht uns um ein gleichberechtigtes Ausleben der beiden Traditionen und Kulturen. Und warum eigentlich nicht? Wieso kann in Zeiten, in denen der Staat neben männlich und weiblich diverse Geschlechtsidentitäten anerkennt, nicht auch die religiöse Identität divers sein?
Gäbe es mehr Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, wäre der Frieden in Nahost vielleicht ein Stück näher
Viele denken, dass Identitäten nach dem ODER-Prinzip funktionieren: schwarz oder weiß, Deutsch oder Migrant, Frau oder Mann. Warum kann Identität nicht nach einem UND-Prinzip funktionieren? Wir sind Migranten und Deutsche und gläubig und häretisch und Fahrradfahrer. Alles zugleich. Widersprüche gehören zum menschlichen Wesen, und in der postmigrantischen Gesellschaft werden sie eher häufiger. Dann gibt es halt Mazze zum Ramadan-Fastenbrechen, wenn Pessach und Ramadan auf dieselbe Zeit fallen, wie im kommenden Frühjahr. Und wenn wir Chanukka feiern, gibt es neben dem öligen Sufganiyot auch Baklava in Honig getunkt. Die große Gefahr ist hier nicht die interreligiöse Zusammensetzung, sondern der übermäßige Zuckergehalt.
Zugegeben, wir haben auch unsere Grenzen. Wir wollen kein Religions-Disneyland mit einem Adventskranz, tibetischer Gebetsfahne und Ojibwa-Traumfänger. Einmal fragte uns eine Freundin ernsthaft, ob wir einen Weihnachtsbaum mit Halbmond und Davidstern-Deko im Wohnzimmer aufstellen.
Saba-Nur Cheema und Meron Mendel: Muslimisch-jüdisches Abendbrot. Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung. © 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Ob es funktioniert, wissen wir nicht. Vielleicht haben diejenigen recht, die uns vor der programmierten Identitätskrise warnen. Zu unserer Verteidigung können wir andere muslimisch-jüdische Paare als Beispiel heranziehen. Bei ihnen scheint es bisher gut gegangen zu sein, wie unsere Internetrecherche zeigt. Einige sind mit einer viel härteren Realität konfrontiert, wie die Familie von Sary Bashy. Die amerikanische Jüdin lebt mit ihrem palästinensischen Mann und zwei Kindern im Westjordanland. Im Internet beschreibt sie, wie die aktuelle Situation in Israel, im Westjordanland und Gaza zu Familiendiskussionen führt, in der die Kinder zwei Sichtweisen kennenlernen. Gäbe es mehr Kinder, die in solchen Familienkonstellationen aufwachsen, wäre der Frieden in Nahost vielleicht ein Stück näher.
Auch wenn wir uns immer wieder dabei erwischen, die Erziehung durchzuplanen und dem Optimierungsdrang nach einer perfekten Kindheit nachzugeben, erinnern wir uns daran, dass Kinder nicht zu programmieren sind. Vielleicht wird sich unser Sohn weder für den Islam noch für das Judentum interessieren, sondern mehr für Fußball, Star Wars oder Kernphysik. Vielleicht sollten wir als Erwachsene den Wunsch aufgeben, dass Kinder unseren Weg gehen. So hat es unsere Generation nicht einmal geschafft, Partikularismus und Vorurteile zu überwinden. Immer noch wird die Zugehörigkeit zur eigenen ethnischen oder religiösen Gruppe über universelle Werte gestellt.
Wäre es nicht einen Versuch wert, Kindern die Chance zu lassen, ihren eigenen Weg zu finden? Vielleicht besteht Erziehung ja gerade darin: auf diesem Weg die gröbsten Steine wegzuräumen.
Und nebenbei die perfekte Spotify-Playlist zu erstellen!
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger