Ende Februar 2025. Es spricht viel dafür, dass sich die Grünen diesen Neuwahltermin nicht freiwillig ausgesucht hätten. Er kommt zu früh und zu schnell für die Partei, die sich gerade mitten im Umfrageloch befindet. Der eigentliche Termin im Herbst 2025 wäre für sie besser gewesen. Er hätte ihnen Zeit verschafft, sich zu sammeln und einen Plan zu entwickeln, wie sie wieder aus dem Loch herausklettern können.
Im Sommer 2022 stand die Partei noch bei gut 20 Prozent, heute sind es elf Prozent.
Vielleicht ist auch wegen dieses Einbruchs die Stimmung in der Partei so schlecht. Die Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang sind zurückgetreten. Auch der gesamte Vorstand der Grünen Jugend hat sich per offenem Brief verabschiedet. Die ehemalige Kanzlerkandidatin und Parteivorsitzende Annalena Baerbock spricht seltener öffentlich über die Partei.
Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck muss jetzt einen Blitzwahlkampf stemmen. Vom einmal früher ausgerufenen Ziel, eine Volkspartei der Mitte zu werden, ist die Partei weit entfernt. Es wäre für sie schon ein Erfolg, wenn sie das Ergebnis der letzten Bundestagswahl, 14,8 Prozent, hält oder nur knapp unterbietet.
Mehr als 3.500 Menschen, die bei der letzten Wahl die Grünen gewählt haben, haben mir in einer nicht-repräsentativen Umfrage erzählt, ob sie von der Partei enttäuscht sind, was sie sich erhofft hatten und ob sie der Partei treu bleiben werden. Mitglieder von Krautreporter erhalten Zugang zu allen anonymisierten Antworten aus der Umfrage nach der Paywall.
Besonders die Antworten zweier Wählergruppen sind sehr interessant: jene der Zweifler:innen und jene der Enttäuschten, die sich nicht vorstellen können, die Partei nochmal zu wählen.
Ein Argument sticht heraus – zum Glück für die Grünen
Als ich die Antworten aus der Umfrage gesichtet habe, ließen sich sechs Punkte erkennen, die die Grünen-Wähler:innen an der Partei kritisieren.
Noch zur Einordnung: Ich habe gefragt: „Bist du von den Grünen enttäuscht?“ Nur fünf Prozent der Teilnehmer:innen sahen ihre Hoffnungen voll erfüllt, zwei Drittel zum Teil und ein knappes Drittel überhaupt nicht. Knapp 80 Prozent würden die Partei trotzdem wieder wählen. Der Rest würde es nicht wieder tun.
Wichtig ist, dass ich mit meiner Umfrage vor allem die Menschen erreichen wollte, die enttäuscht sind. Das heißt, dass die Antworten hin zum Negativen verzerrt sind. (Hier findest du alle Antworten.)
Die mit Abstand meistgenannte Kritik:
1. Kompromisse in der Ampel-Koalition
Viele Wähler:innen sind enttäuscht, dass die Grünen in der Regierung zu viele Kompromisse eingegangen sind und ihre Kernthemen nicht konsequent genug vertreten haben. Zwar erkennen viele, dass Kompromisse zu einer Demokratie gehören, sie kritisieren aber das Ausmaß dieser Kompromisse, nicht etwa gegenüber der SPD, sondern vor allem gegenüber der FDP. Der Frust über die Liberalen klingt aus fast allen Antworten heraus.
„Die Grünen haben keine Standhaftigkeit gegenüber den Koalitionspartnern bewiesen, insbesondere gegenüber der FDP. [Sie geben] wichtige Positionen auf, um bei Unwichtigem kleine ‚Erfolge‘ vorweisen zu können.“
Ich hatte die Umfrage vor dem Auseinanderbrechen der Koalition durchgeführt. Dass ausgerechnet dieses Argument am häufigsten kam, ist für die Grünen eine gute Nachricht. Denn Kompromisse mit der FDP wird es kaum noch geben. Die rot-grüne Regierung führt bis Februar ohne die Liberalen die Geschäfte.
Nach der Wahl kann sich eine neue Koalition ergeben. Sollte das geschehen, das zeigen die Antworten in der Umfrage, sollten die Grünen Kompromisse machen, aber nicht so viele, die wie Kompromisse mit dem verhasstesten Koalitionspartner wirken.
2. Abkehr von Grundprinzipien
Die Abkehr von Grundprinzipien zeigt sich besonders deutlich in der Wahrnehmung ehemaliger Kernwähler. Während die Grünen ursprünglich als pazifistische und konsequent linke Partei mit klaren ökologischen und sozialen Zielen antraten, wird ihnen nun vorgeworfen, zentrale Überzeugungen aufgegeben zu haben.
Ein besonders markantes Zitat bringt dies auf den Punkt:
„Sie haben sämtliche ihrer Inhalte verraten, inklusive Klimagerechtigkeit, aber besonders, weil sie unsoziale und gegen Arme gerichtete Politik mittragen, Abschiebungen mittragen und wegen ihrer menschenrechtswidrigen Außenpolitik.“
Die Partei wird als zunehmend pragmatisch und kompromissbereit wahrgenommen – oft auf Kosten ihrer ursprünglichen Ideale. Das kritisieren viele, auch wenn sie verstehen, dass Kompromisse zum Regieren gehören. Für manche allerdings ist der Verrat an den Idealen ein Grund, die Grünen nie wieder zu wählen:
„Ich bin alt genug, ihre Geschichte zu kennen. Ihre Anpassung im politischen Alltag geht für mich überhaupt nicht.“
Die Kritik kristallisiert sich auf drei Themenfeldern: Klima, Krieg und Migration (in dieser Reihenfolge).
3. Unzureichende Klimapolitik
Die unzureichende Klimapolitik der Grünen enttäuscht viele Wähler:innen fundamental. Während die Partei ursprünglich als Vorreiterin des Klimaschutzes galt, sehen viele Befragte eine deutliche Verwässerung ihrer Kernkompetenzen. Beispielhaft:
„Das Klimaschutzgesetz wurde abgeschwächt, stellt also einen Rückschritt zur vorherigen Regierung dar.“
Die Kritik richtet sich dabei nicht nur gegen konkrete Gesetzesinitiativen, sondern gegen das gesamte Auftreten in der Koalition. Die Enttäuschung speist sich aus dem Gefühl, dass die Grünen ihre ursprüngliche Kompromisslosigkeit in Klimafragen aufgegeben haben.
„Jetzt will Habeck auch noch für Milde beim Verbrenner-Aus werben. Keine Ideale“, bringt ein Befragter seine Frustration zum Ausdruck.
„Klimaschutzziele werden nicht erreicht. Das Verkehrsministerium müsste unbedingt durch die Grünen besetzt sein. Themen des Klimaschutzes kommen in der derzeitigen Koalition zu kurz.“
Die ursprüngliche Hoffnung auf radikale Veränderungen weicht zunehmend der Ernüchterung über schrittweise und oft als unzureichend empfundene Fortschritte.
4. Enttäuschung über Asyl- und Migrationspolitik
Manche Grünen-Wähler:innen sind enttäuscht, weil sich die Partei in ihren Augen in der Asyl- und Migrationspolitik von ihren humanitären Prinzipien entfernt hat. Viele Wähler:innen kritisieren, dass die Partei, die einst für eine offene und menschenrechtsbasierte Migrationspolitik stand, nun Kompromisse eingeht, die als Verrat an den eigenen Werten empfunden werden. Ein Teilnehmer der Umfrage sagt:
„Vor allem wegen der Unterstützung der Asylverschärfungen. Außerdem zeigen die Aussagen von grünen Spitzenpolitiker:innen zu dem Weggang der Grünen Jugend, dass die Grünen nachhaltig den Rechtsruck mitgemacht haben und sich nicht mehr als linke Partei verstehen.“
Die Kritik richtet sich dabei nicht nur gegen konkrete politische Entscheidungen, sondern auch gegen eine wahrgenommene ideologische Verschiebung.
„Ich bin absolut enttäuscht, dass auch die Grünen bei der Diskursverschiebung nach immer weiter rechts mitmachen, Stichwort immer menschenfeindlichere Asylpolitik, verstärktes Abschieben, Rückweisungen von Asylsuchenden an den Grenzen.“
Diese Aussagen zeigen eine tiefe Ernüchterung darüber, dass die Grünen, einst Vorreiter einer progressiven Migrationspolitik, jetzt Positionen übernehmen, die sie früher kritisiert hätten.
5. Kritik an der Außen- und Sicherheitspolitik
Die Kritik an der Außen- und Sicherheitspolitik der Grünen entzündet sich vor allem an deren Abkehr von der ursprünglichen pazifistischen Tradition. Manche langjährigen Wähler:innen sehen die Partei als „Kriegstreiberpartei“ und werfen ihr vor, sich von ihren Grundprinzipien entfernt zu haben.
„Die Grünen sind zur Kriegstreiberpartei geworden. Sie reden einen immer weiter ausufernden Staat herbei. Sie waren mal Sponti-Partei, richten aber Meldestellen ein für Denunziantentum über eindeutig nicht strafbare Inhalte.“
Die Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine und eine als zu konfrontativ empfundene Haltung gegenüber Russland werden dabei besonders kritisch gesehen.
Aber hier sind sich auch die Grünen-Wähler:innen nicht einig:
„Beim Aufrüsten usw. in den letzten Jahren hatte ich immer noch Verständnis – ein Krieg in Europa ist eine Ausnahmesituation und Putin ist nicht durch Diplomatie erreichbar.“
Wobei der konkrete Konflikt wichtig ist. „Ihre kritische Position gegenüber Russland“ wird als positiv hervorgehoben, während gleichzeitig eine „Wischwaschi-Position im Nahostkonflikt“ kritisiert wird.
Was lässt sich aus den Antworten herauslesen? Dass hier eine Partei mit dem Regieren ringt.
Robert Habeck und Annalena Baerbock hatten die Partei ab Januar 2018 klar auf Regierungskurs getrimmt. Das verlief damals für die Grünen erstaunlich geräuschlos. Alle zogen mit oder hielten sich zumindest mit Kritik zurück. Nach drei Jahren zähem Regieren ist das vorüber, und es steht eine Richtungsentscheidung nach der nächsten Wahl an. Sollen die Grünen zu einer staatstragenden, stets kompromissbereiten Partei wie etwa die SPD oder die CDU werden? Oder wollen sie sich in der Opposition neu erfinden?
Viel hängt dabei von Robert Habeck ab, dem Kanzlerkandidaten und Gesicht der Partei. Sollte er ein respektables Ergebnis einfahren, wäre das Bestätigung für den pragmatischen Kurs. (Jedenfalls würden er und seine Leute das so lesen.)
Auf eine Sache kann sich aber die gesamte Partei verlassen, das zeigen auch viele der Antworten. Ihre Wähler:innen bleiben den Grünen treu, entweder weil sie unter den anderen großen Parteien keine Alternativen für Klima- und Umweltschutz sehen oder nicht riskieren wollen, mit einer Stimme für Mini-Parteien keinen Einfluss auf den zukünftigen Bundestag zu haben.
„Die Grünen sind die einzige Partei, die ernsthaft Veränderungen will und notwendige unbequeme Wahrheiten ausspricht.“
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos