Yuval Abraham blinzelt heftig und sagt: „Die Geschichte klopft an Deutschlands Tür und ihr scheitert schon wieder!“ Mit jedem Wort wird er lauter. Obwohl sein Gesicht nur in Hochformat auf der Kinoleinwand zu sehen ist, spürte ich seine Wut. Nach seinem letzten Satz reibt er sich erst mit den Händen, dann mit einem Taschentuch über die Augen.
Der jüdisch-israelische Regisseur hat gemeinsam mit seinem palästinensischen Kollegen Basel Adra einen Dokumentarfilm produziert, der auf der Berlinale 2024 als bester Film ausgezeichnet wurde – und dem daraufhin Antisemitismus vorgeworfen wurde. Jetzt ist der Film in deutschen Kinos angelaufen. Bei einer der Filmvorführungen in Berlin sind Abraham und Adra per Video zugeschaltet.
Seit 79 Jahren hat Deutschland sich dem „Nie wieder“ verschrieben. Nie wieder sollte es Antisemitismus auf deutschen Straßen geben, nachdem Deutschland den größten Völkermord der Geschichte an Jüd:innen verübt hatte.
Aber der Antisemitismus war nie weg. 2019 versuchte ein rechtsextremer Täter in Halle in eine Synagoge einzudringen und Jüd:innen zu töten. Anfang November 2024 wurden jüdische Fußballfans in Amsterdam verfolgt und verprügelt, kurz darauf wurden jüdische Fußballspieler in Berlin beschimpft und bedroht. Die Hälfte aller Jüd:innen in Deutschland hat schon einmal darüber nachgedacht auszuwandern.
Die meisten Menschen in Deutschland stimmen den folgenden zwei Analysen zu. Erstens: Deutschland hat ein Problem mit Antisemitismus. Zweitens: Dagegen muss etwas getan werden. Uneinig sind sie sich aber darüber, wer hauptsächlich für Antisemitismus verantwortlich ist und wie genau er bekämpft werden soll.
Eine Antwort hat der Bundestag am 7. November gegeben. Alle Parteien, außer der Linken und der AfD, brachten eine Resolution in den Bundestag ein. Sie heißt: „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“.
Der Zentralrat der Juden und die deutsch-israelische Gesellschaft begrüßten die Resolution. Die Vorsitzende der jüdischen Studierendenunion, Hanna Veiler, äußerte sich auf X ähnlich. Sie schrieb, dass die Mehrheit der Juden in Deutschland die Resolution für notwendig halte, „um jüdisches Leben in Deutschland sicherer zu machen.“ Auch die AfD begrüßte die Resolution und bedankte sich dafür, dass in dem Papier Positionen ihrer Partei übernommen worden seien.
Viele Wissenschaftler:innen, Künstler:innen und Jurist:innen sind anderer Meinung. Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger sieht die Wissenschaftsfreiheit massiv bedroht. Der Jurist Wolfgang Kaleck findet die Resolution „verantwortungslos“. Der Journalist Philip Banse sagt, dass sich der Bundestag mit dieser Resolution auf eine Seite schlage, „nämlich auf die Seite von Team Netanjahu“. Sogar israelische Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass sie ihre Arbeit durch die Vorgaben der Resolution nicht mehr ausüben könnten.
Was haben Menschenrechtsorganisationen in Israel mit Antisemitismus in Deutschland zu tun? Und ist es etwa nicht richtig, dass deutsche Politiker:innen jüdisches Leben in Deutschland schützen wollen?
Wer auf diese Fragen vernünftig antworten will, muss in die Tiefe gehen. Denn anhand dieser Resolution ist ein alter Streit entbrannt. Der Streit um die Frage, was das beste Mittel gegen Antisemitismus in Deutschland ist. Es ist auch der Streit darum, was genau Antisemitismus eigentlich bedeutet und welche Kritik am Handeln Israels noch in Ordnung ist.
Um sich eine Meinung zu dieser Resolution bilden zu können, muss man zuerst verstehen, was Antisemitismus genau ausmacht. Nur so wird klar, warum es so schwer ist, einen Kompromiss zu finden und dass es am eigentlichen Problem vorbeigeht, nach der perfekten Definition zu suchen.
Antisemitismus ist mehr als „Judenhass“
Der klassische Antisemitismus ist häufig mit Verschwörungsmythen verbunden. Jüd:innen werden zum Beispiel als mächtige Akteur:innen dargestellt, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Genau deswegen unterscheidet sich Antisemitismus von Rassismus. Denn bei Antisemitismus werden die Betroffenen nicht nur abgewertet, sondern gleichzeitig für überlegen gehalten. Eine Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2015 bekräftigt, dass klassischer Antisemitismus in Deutschland „relativ konsistent, stabil und änderungsresistent“ sei.
Janis Detert, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bildungsstätte Anne Frank, erklärt, dass Antisemitismus, neben der Gefahr für die Betroffenen, besonders gefährdend für eine Demokratie sei. Wer antisemitischen Verschwörungsmythen Glauben schenkt, ist eher demokratiefeindlich eingestellt, bestätigt auch die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung seit vielen Jahren.
Der sekundäre Antisemitismus gilt als die Form der Judenfeindschaft, die im Zusammenhang mit der Relativierung oder Leugnung des Holocaust stattfindet. Laut der Mitte-Studie von 2024 stimmten 16 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass viele Jüd:innen heute versuchen würden, aus der Vergangenheit des Dritten Reichs einen Vorteil zu ziehen.
Als dritte Form gilt der israelbezogene Antisemitismus, etwa wenn Jüd:innen weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden. Vor allem der israelbezogene Antisemitismus führt seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder zu aufgeheizten Debatten, weil es keinen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, welche Form der Kritik am Handeln des Staates Israels noch legitim ist – und welche antisemitisch.
Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, welche Bevölkerungsgruppe am antisemitischsten ist und damit einhergehend, wo man beim Bekämpfen von Antisemitismus ansetzen muss. Verschiedene Studien zeigen, dass Antisemitismus von verschiedenen Gruppen ausgeht, Rechten wie Linken, Christ:innen wie Muslim:innen. 60 Prozent der antisemitischen Straftaten aus dem Jahr 2023 gehen jedoch auf das rechte Milieu zurück.
Diese Zahlen signalisieren vor allem eines: dass es falsch wäre, Antisemitismus als das Problem einer einzelnen Gruppe darzustellen. Damit würde das eigentliche Problem verkannt werden: Antisemitismus ist noch immer gesamtgesellschaftlich verbreitet.
Was genau steht in der Resolution?
Eine Resolution ist nicht rechtsbindend, sie gilt eher als „Meinungsäußerung“ der entsprechenden Parteien. Wegweisend kann sie trotzdem sein, weil sich Länder, Behörden und Kommunen an ihr orientieren werden.
Die Resolution, die am 7. November in den Bundestag eingebracht wurde, nennt verschiedene für Antisemitismus verantwortliche Milieus. Dazu gehören der Rechts- und Linksextremismus sowie der „israelbezogene und links-imperalistische“ Antisemitismus. Außerdem wird explizit Antisemitismus benannt, der „auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens“ zurückzuführen sei. Es wird außerdem das Selbstverteidigungsrechts Israels bestärkt und mehrmals betont, dass „repressive Möglichkeiten“ ausgeschöpft werden sollen, zum Beispiel im Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht.
Auch an diesen Punkten gibt es Kritik. Dass diese Resolution aber seit Monaten so vehement kritisiert wurde, liegt an einem anderen Abschnitt.
Organisationen und Projekte, die antisemitisch seien, sollen laut der Resolution nicht finanziell gefördert werden. Diese Vorgabe gilt neben der Zivilgesellschaft auch für den Bereich Kunst und Kultur. Länder, Bund und Kommunen sollen sich um die Umsetzung der Vorgaben kümmern, fordern die Parteien.
Nicht gefördert werden sollen also Projekte, die „Antisemitismus verbreiten, das Existenzrecht Israels in Frage stellen, die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen“. Als Basis für die Entscheidung, ob etwas antisemitisch ist oder nicht, soll die IHRA-Definition genutzt werden.
Die beiden Knackpunkte liegen hier: Antisemitismus soll vor allem von oben bekämpft werden, so sehen es Kritiker:innen. Und dem zugrunde liegen soll auch noch die IHRA-Definition, die schon seit Jahren in der Kritik steht.
Deswegen wird um die IHRA-Definition gestritten
Die IHRA, kurz für International Holocaust Remembrance Alliance, ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO), die für die Erinnerung an den Holocaust eintritt. 2015 erarbeitete die IHRA eine Definition für Antisemitismus, mit der inzwischen mehr als 40 Staaten weltweit arbeiten. Sie wird in Deutschland beispielsweise genutzt, um Richter:innen zu schulen und das EU-Parlament nutzt sie auch zur Strafverfolgung.
Antisemitismus ist der Arbeitsdefinition nach eine „bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann.“ In der Definition steht außerdem, dass Antisemtismus sich auch gegen den Staat Israel richten kann, wenn er als „jüdisches Kollektiv“ verstanden wird. Wenn die Kritik am Staat Israel mit der Kritik an anderen Staaten vergleichbar sei, dann sei die Kritik nicht antisemitisch.
An dieser Definition gibt es aber Kritik. Ursprünglich sollten mithilfe dieser Definition antisemitische Vorfälle gesammelt werden, berichtet einer der Urheber:innen in dem Magazin The New Yorker. Die IHRA-Definition als Regulierungsinstrument anzuwenden, sei aus verschiedenen Gründen problematisch, schreiben Jurist:innen im Verfassungsblog. Sie sei rechtlich „zu unpräzise“ und würde zu viel Spielraum offen lassen. In diesem Spielraum habe die entscheidende Person letztendlich die Macht, darüber zu entscheiden, ob etwas antisemitisch sei oder nicht. Kritik an Israel könne immer als antisemitisch ausgelegt werden, wenn die entscheidende Person es möchte.
Das wird dann besonders kompliziert, wenn Jüd:innen selbst das Handeln der israelischen Regierung kritisieren. 15 NGOs aus Israel veröffentlichten im Sommer ein Statement, in dem sie ihre Befürchtungen artikulieren. Sie haben Angst, dass die Resolution „instrumentalisiert“ werden könnte, um die deutsche Finanzierung ihrer Arbeit einzuschränken. Außerdem befürchten sie, dass die Resolution „Verleumdungskampagnen“ gegenüber ihrer Arbeit verstärken wird, weil die Akteur:innen hinter solchen Kampagnen mit der Resolution politischen Rückhalt aus Deutschland haben werden.
Deutschland ist ein wichtiger Geldgeber für NGOs in Israel, im Westjordanland und in Gaza. Elementarer Teil ihrer Arbeit ist es, auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Sie sprechen immer wieder von „Apartheid“ oder „Genozid“, wenn sie die Politik Israels beschreiben. Beides könnte der IHRA-Definition zufolge als antisemitisch gesehen werden.
Israel gilt als „Shrinking Space“, also als Ort, an dem es regierungskritische NGOs immer schwerer haben. Immer häufiger würde aber auch mit Besorgnis nach Deutschland geschaut werden, berichtet ein deutscher Mitarbeiter einer Organisation der Entwicklungszusammenarbeit in Israel und Palästina. Er sagt: „Wenn man hier mit Leuten spricht, sagen sie oft, dass es in Deutschland schlimmer sei als in Israel. Sie sagen: In Israel können zumindest jüdische Israelis mehr sagen als in Deutschland.“ Er selbst will anonym bleiben.
So empfindet es auch Yehudit Oppenheimer, Direktorin von Ir Amim, einer Menschenrechtsorganisation mit Fokus auf Jerusalem. Am Telefon sagt sie: „In dieser Resolution wird Kritik an Israel mit Antisemitismus verschmolzen und jüdische Menschen werden mit dem Staat Israel gleichgesetzt.“
Die Alternative: Die Jerusalemer Erklärung
Als Alternative zur IHRA-Arbeitsdefinition erarbeiteten Wissenschaftler:innen 2020 die sogenannte Jerusalemer Erklärung. Ihr Ziel war es, eine „präzisere Kerndefinition“ als die IHRA-Definition und ein „kohärentes Set von Leitlinien“ zu schaffen.
Die Wissenschaftler:innen betonen, dass sie mit ihrer Definition einerseits den Kampf gegen Antisemitismus stärken wollen. Sie wollen aber auch „Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas“ wahren. Man liest aus ihrer Definition die Vorsicht heraus. So schreiben sie zum Beispiel, dass es weder bedeute, dass sie eine Ansicht befürworteten oder ablehnten, wenn sie diese als nicht antisemitisch einordneten.
Kritik am Staat Israel oder die Unterstützung palästinensischer Forderungen sind laut der Jerusalemer Erklärung nicht per se antisemitisch. Das ist der größte Unterschied zur IHRA-Definition. Natürlich gibt es auch Kritik an der Jerusalemer Erklärung, zum Beispiel kritisiert der Politikwissenschaftler Lars Rensmann, dass die Jerusalemer Erklärung israelbezogene Formen des Antisemitismus bagatellisiere.
Deswegen ist die Suche nach der perfekten Definition die falsche Antwort
Eigentlich ist es also mit der Jerusalemer Erklärung wie mit der IHRA-Definition: Beide sollten in ihrer Entstehung nicht die einzig relevante Vorgabe sein, an die sich eine Zivilgesellschaft halten muss. Einige Wissenschaftler:innen befürworten die Jerusalemer Erklärung und fordern jetzt, sie statt der IHRA-Definition in Resolutionen oder Gesetzen anzuwenden. Aber egal, welche Definition genutzt werden würde: Es wäre immer die falsche Antwort auf ein richtiges Bestreben.
Denn sich politisch auf eine Definition festzulegen und mit dieser Definition die Arbeit von wissenschaftlichen Institutionen zu beurteilen, macht keinen Sinn. Definitionen müssten Teil der Debatte bleiben, sagt auch die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger. In der Wissenschaft müsse über Definitionen gestritten werden können, ohne Angst, deswegen Gelder entzogen zu bekommen. Stollberg-Rilinger und ihre Mitstreiter:innen fordern stattdessen Vertrauen in die wissenschaftlichen Institutionen, dass sie fähig sind, sich selbst kritisch zu überprüfen.
Politisch wird die Debatte auf einer Metaebene geführt, die davon ablenkt, worum es eigentlich geht: dass es für Jüd:innen gefährlich ist, in Deutschland zu leben. Antisemitismus lässt sich nicht wegdefinieren. Das hat Halle gezeigt oder die Angriffe auf jüdische Fußballspieler am zweiten Wochenende im November. 13-jährige Jungs wurden als „scheiß Juden“ bezeichnet und mit Messern und Stöcken verfolgt. In Deutschland gibt es Jüd:innen, die Benjamin Netanjahu kritisieren und Jüd:innen, die ihn gut finden. Wenn es antisemitische Angriffe gibt, machen die Angreifer:innen keinen Unterschied.
Die deutsche Regierung aber hat sich mit ihrer Resolution entschieden, nur diejenigen zu schützen, die pro Netanjahu sind. Für die anderen ist die Resolution sogar eine Gefahr. Sie wird den Druck noch verstärken, den linke Jüd:innen oder israelische NGOs in Deutschland bereits verspüren. Ganz zu schweigen von Palästinenser:innen, die sich kritisch gegenüber der israelischen Regierung äußern. Und auch, wenn die Mehrheit der Jüd:innen die israelische Politik unterstützt, müssen die anderen dennoch geschützt werden.
Das werden sie so nicht.
Es gibt viel wichtige Arbeit, die bereits passiert, um Antisemitismus zu verhindern, bevor er überhaupt verboten werden muss. In Jugendzentren, Bildungsstätten oder Fußballvereinen. Solche Arbeit ist überwiegend von Fördergeldern abhängig und entsprechend prekär. Die Nachfrage nach politischer Bildungsarbeit sei nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel, nochmal gestiegen, aber die Förderungen würden sinken, berichtet Janis Detert von der Bildungsstätte Anne Frank. In der Resolution werden die Förderung von Bildungsstätten, Gedenkstätten und Erinnerungsorten explizit gefordert. Das glaubt Detert aber erst, wenn dauerhaft und verlässlich Geld ankommt.
Nachdem deutsche Politiker:innen Anfang des Jahres den Film von Yuval Abraham und Basel Adra als antisemitisch bezeichnet hatten, hätte ein rechter Mob vor seinem Haus in Israel gewartet, erzählt Abraham im November 2024. Seine Mutter habe ein paar Tage zu seiner Schwester fliehen müssen.
Er erzählt, dass Mitglieder seiner Familie im Holocaust ermordet wurden und dass seine Großmutter in einem Konzentrationslager geboren wurde. Jetzt zu sehen, wie der Tod seiner Familie genutzt werden würde, um ihn als Antisemit zu bezeichnen, sei „so falsch und ungerecht“.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger