Die Hälfte der Amerikaner und noch viel mehr Europäer leiden seit 2016 unter einem Trump-Trauma. Manche sprechen sogar von einer „Post-Trump traumatischen Belastungsstörung“, ausgelöst vom Überraschungssieg gegen Hillary Clinton und den chaotischen Regierungsjahren des Ex-Präsidenten.
Vielleicht wollen deshalb so viele Deutsche daran glauben, dass Kamala Harris die US-Präsidentschaftswahlen gegen Donald Trump gewinnt. Laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers gehen 72 Prozent der Befragten davon aus, dass Harris die Wahl gewinnt, nur 23 Prozent glauben, dass es Trump noch einmal schafft.
Dieser Optimismus geht zu weit, denn die Wahl ist völlig offen. Nahezu alle Umfrage-Analyst:innen und US-Medien gehen vom „Coin Toss“ aus. Sie glauben, das Ergebnis am 5. November ist so schwer vorherzusehen wie ein Münzwurf.
Für mich zeigt das vor allem eins: Viele Deutsche treffen oft vorschnelle Annahmen zu den Vereinigten Staaten, ihren Machtprozessen und den wichtigsten Menschen an ihrer Spitze. Natürlich wäre es ein historisches Zeichen, wenn das mächtigste Amt der Welt zum ersten Mal mit einer Schwarzen Frau und der ersten indisch-amerikanischen Person besetzt würde.
Aber Harris ist mehr als die strahlende Gegenfigur zu Trump. Sie hat sehr wohl eine eigene Agenda und sie verfolgt bestimmte politische Ziele. Und diese passen nicht immer zu dem Bild, das viele Deutsche von ihr haben.
„America first“ würde auch unter Harris gelten
Um es gleich vorwegzunehmen: „Extrem liberal“, „eine Marxistin“ und „zu lasch gegen Gewalt“, wie es die Republikaner behaupten, wäre Harris wohl kaum. Wer ihr Parteiprogramm liest oder wichtige Reden anschaut, bekommt einen anderen Eindruck.
Auch unter ihrer Präsidentschaft würden die Vereinigten Staaten nicht zu einem Kuschel-Partner, der Europa oder gar Deutschland als völlig gleichberechtigt betrachtet. Und im Inneren würden wohl auch kaum die großen Sozialreformen nach europäischem Vorbild angestoßen. Dafür fehlen in den USA schlicht die Stimmen. Befürworter:innen einer einheitlichen gesetzlichen Krankenversicherung oder eines gebührenfreien Studiums gelingt es weiter nicht, Mehrheiten im Parlament zu organisieren.
In den USA waren stattdessen viele Linke überrascht, wie klar sich Harris an ihrem Parteitag positioniert hat, als sie beispielsweise sagte: „Als Chefin der Streitkräfte werde ich dafür sorgen, dass Amerika die stärksten und tödlichsten Militärstreitkräfte der Welt hat.“ Sie signalisiert seit Wochen vor allem in Richtung unentschlossener Republikaner, dass sie nicht mehr die liberale Staatsanwältin aus Kalifornien ist, die im Wahlkampf 2019 illegale Grenzübertritte noch entkriminalisieren wollte.
Auch unter Harris würden die Vereinigten Staaten weiter beanspruchen, in der Nato und anderen internationalen Bündnissen das Sagen zu haben. Die USA würden weiter eine wichtige Rolle in der Unterstützung der Ukraine spielen und Geheimdienstinformationen und milliardenschwere Kriegshilfen in Form von in den USA hergestellten Waffen liefern. Sie würden weiter den Konflikt zwischen Taiwan und China im Auge behalten, um in einer wichtigen Weltregion auch ohne die EU eine eigene machtvolle Position zu vertreten.
„America First“ würde auch unter Harris gelten, wenn auch mit deutlich verlässlicheren Leitplanken als unter Donald Trump.
Harris’ Umfeld war überrascht, dass sie für den Staat arbeiten wollte
Harris erzählt gerne Anekdoten aus ihrer Kindheit, die ihren frühen Einsatz für Gerechtigkeit unterstreichen sollen. Schon als 13-Jährige organisierte sie den eigenen Erzählungen nach mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwestern einen Protest, damit die Grünflächen vor den Hochhäusern, in denen sie wohnten, zum Spielen freigegeben werden. Als Harris in die Highschool ging, nahm ihre Familie über Monate eine Mitschülerin bei sich zu Hause auf, weil diese von ihrem Vater missbraucht wurde. Harris sagt heute, dass diese Zeit ein wichtiger Grund für sie gewesen sei, um Juristin zu werden.
Nach der frühen Scheidung der Eltern erzog Mutter Shyamala Gopalan allein die damals fünfjährige Kamala und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Maya. Sie ging mit ihren Kindern in ein Schwarzes Gemeindezentrum. Dort hörten sie Nina Simone, eine Sängerin und Mitte der 1960er-Jahre eine Ikone für Schwarze Bürgerrechte. Oder sie gingen zu Lesungen des Autors James Baldwin, einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller, der häufig über Rassismus und Sexualität schrieb.
Es war für ihr Umfeld eine Überraschung, dass Harris nach ihrem Jurastudium nicht als Verteidigerin von Schwarzen Angeklagten oder bei einer Nichtregierungsorganisation arbeiten wollte, sondern stattdessen eine Stelle im Staatsdienst antrat. Sie arbeitete als Strafverfolgerin und Staatsanwältin – in der Wahrnehmung vieler war das die Gegenseite, die mächtigen Unterdrücker an den Hebeln der Macht.
Harris sieht das anders und schreibt dazu in ihrem Buch „Der Wahrheit verpflichtet“: „Aber ich wusste, dass es auch eine wichtige Rolle im Inneren solcher Organisationen gibt, indem man an dem Tisch sitzt, an dem Entscheidungen getroffen werden. Wenn Aktivisten kommen und an die Tür trommeln, wollte ich auf der anderen Seite sein, um sie hereinzulassen.“
In der Innenpolitik will Harris zurück zum Abtreibungsrecht und einer Politik für die Mittelschicht
Solche Motive ihrer Arbeit zitiert Harris noch heute. Als sie vor wenigen Tagen im „Unlocking Us“-Podcast von Autorin Brené Brown zu Gast war und nach den zwei wichtigsten Werten ihres Lebens gefragt wurde, antwortete Harris: „Fairness und Gerechtigkeit.“ Das klingt erst einmal nach Plattitüde, aber sie sagt eben nicht nur „Freiheit“, „Chancengleichheit“ oder „Sicherheit“, sondern wählt handlungsorientiertere Begriffe. Das Wort „justice“ umfasst im Englischen mehr als nur „Gerechtigkeit“ und beinhaltet noch den Aspekt von „Wiedergutmachung“.
Innenpolitisch entwickelt Harris aus diesen Werten vor allem Forderungen zur Unterstützung einer breiten Mittelschicht. Sie schlägt vor, dass Menschen, die erstmals eine Immobilie kaufen, 25.000 Dollar Zuschuss vom Staat bekommen. Wer ein Unternehmen gründet, soll 50.000 Dollar Steuerkredit als Anschubhilfe erhalten. Für Menschen mit Kindern soll es einen solchen Steuererlass von 6.000 Dollar als Geburtsprämie geben. Harris nennt das etwas unterkühlt „Opportunity Economy“, also eine „Wirtschaft der Möglichkeiten“. Zugegeben, das klingt nicht so griffig, wie Obamas „Hope“, aber es zeigt, wie Harris aus ihrer eigenen Biografie heraus handelt und als Realpolitikerin im Konkreten und Machbaren denkt.
In jedem Interview spürt man deutlich, dass Harris für die Freiheit kämpft, dass der Staat nicht über den Körper von Frauen entscheidet. Während sie beispielsweise bei Wirtschaftsfragen häufiger auf etwas leblose Standardformulierungen zurückgreift, merkt man ihr bei diesem Thema immer eine größere Emotionalität und Wut an. Vor zwei Jahren hatte der Oberste Gerichtshof der USA das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt. Seitdem ist Abtreibungsrecht Sache der Bundesstaaten und gerade im Süden nutzten viele republikanische Regierungen das Urteil, um ein Verbot durchzusetzen. Heute wohnt eine von drei US-Frauen im gebärfähigen Alter in einem Staat, in dem sie nicht legal eine Abtreibung vornehmen lassen kann.
Der Einsatz für ein landesweites Recht auf Abtreibung ist seit Jahren das stärkste Thema der Vizepräsidentschaft von Harris und ihr größtes Plus im Wahlkampf. Trump behauptet, er wolle weiterhin den Staaten diese Entscheidung überlassen, aber viele glauben, dass er auch ein landesweites Verbot durchsetzen würde.
Harris dagegen setzt sich für eine Rückkehr zu den früheren Regeln und für ein US-weites Recht ein. Abtreibung wird quer durch alle Bevölkerungsschichten bei dieser Wahl zu einer wichtigeren Frage, für Frauen unter 45 Jahren ist es laut einer Umfrage in der New York Times sogar das bedeutendste Thema bei ihrer Wahlentscheidung. Und genau diese Gruppe stimmt eher Harris zu.
Sie sagt: Ich entscheide Schritt für Schritt. Andere sagen: Sie ist ganz schön schwerfällig
Für die Parteilinken bei den Demokraten ist allerdings die Vergangenheit von Harris oft ein Problem. Sie kritisieren, dass sie als Generalstaatsanwältin von Kalifornien die Todesstrafe beibehalten oder auch harte Strafen zu kleineren Drogendelikten nicht widerrufen hat.
Aktuell zeigt sich das für progressive Kritiker:innen auch an ihrem schwerfälligen Umgang mit dem Nahost-Konflikt. Harris steht weiterhin zu Waffenlieferungen an Israel und kann sich nicht zu einer öffentlichen Kritik an Israels Premierminister Benjamin Netanjahu durchringen. Gerade zu diesem Thema gibt es in den USA unter jungen und arabischen Kreisen viel Kritik an den Demokraten.
Auch beim Klima – ein Thema, das sowohl Innen- als auch Außenpolitik betrifft – steht Harris eher für eine Politik, die als erstes darauf schaut, was machbar ist. Sie will einen Umbau der Wirtschaft in Richtung grüne Energien. Bis 2030 soll der Ausstoß von Klimagasen halbiert werden, 370 Milliarden Dollar kommen für diese Zwecke aus einem Gesetzespaket namens „Inflation Reduction Act“. Im US-Senat hatte es dazu in der Abstimmung einen Patt gegeben. Weil die Vizepräsidentin bei einem Gleichstand die entscheidende Stimme hat, konnte Harris das Gesetzespaket abnicken.
Solche Fortschritte gegen die Klimakrise stehen im Widerspruch zu anderen Forderungen im aktuellen Wahlkampf. Ein Symbol dafür ist der Streit um die Erdgasförderung durch Fracking in Pennsylvania. Einst hatte Harris zwar aus Umweltschutzgründen ein Verbot gefordert, doch der Bundesstaat ist für den Sieg bei der US-Wahl so wichtig, dass sie es sich nicht mit einer mächtigen Wähler:innengruppe, der Arbeiterschicht, verscherzen will. Deshalb ist Harris von ihrer Forderung abgerückt und will weiter Fracking zulassen.
Reicht ihr moderater Mitte-Ansatz, um das Land zusammenzubringen?
Wie viele andere frage ich mich, ob die Vereinigten Staaten offen sind für so viel Nuance und ein solches hin und her. Millionen Menschen haben schließlich Sympathien für Donald Trumps Ansatz, das System gegen die Wand fahren zu lassen, weil sie sich von den Demokraten verraten fühlen, sei es wegen hoher Lebensmittelpreise, der als chaotisch wahrgenommenen Lage an der Südgrenze oder der Lage in Gaza.
Hinzu kommt, dass Harris auch bei einem Sieg einem republikanischen Senat gegenübersitzen dürfte. Sie könnte dann ohnehin nicht entfesselt einige der liebsten Reformprojekte der Demokraten anstoßen, wie etwa schnellere Einbürgerungen oder Erlass von Studiengebühren.
Als sie im Mai in einer Gesprächsrunde zu Gesundheitsthemen vor jungen Menschen mit asiatisch-pazifischen Wurzeln saß, sagte sie zum Thema Repräsentation und Veränderung: „Manchmal öffnen dir Menschen die Tür und lassen sie offen stehen. In anderen Fällen tun sie das nicht – und dann musst du diese verfickte Tür eintreten.“
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Astrid Probst, Bildredaktion: Isolde Ruhdorfer und Lars Lindauer, Audioversion: Christian Melchert