Soldaten in Uniform stehen vor Blumenkränzen die zum Gedenken aufgestellt wurden. Im Hintergrund sieht man einen Berg.

Andreas Rentz/Getty Images

Politik und Macht

In Armenien kreuzen sich globale Machtkämpfe

Israel und Iran, Indien und Pakistan, Russland und der Westen: In Armenien lässt sich im Kleinen beobachten, was die Weltpolitik im Großen bestimmt.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Es gibt eine Familie, die sogar ihre Geburten im Fernsehen übertragen lässt, aber kaum jemand weiß etwas über das Land ihrer Herkunft. Die Kardashians sind eine der berühmtesten Promi-Familien der USA und es ging in die Fernsehgeschichte ein, als Kourtney Kardashian die Geburt ihres Sohnes Mason filmen und veröffentlichen ließ.

Was die Öffentlichkeit aber viel weniger diskutierte, war Kourtneys Besuch in Armenien. Im Jahr 2019 reiste sie mit ihren Kindern und ihrer Schwester dorthin, das Land, aus dem ihre Ururgroßeltern stammen. „Wir erinnern uns an unsere Wurzeln in Armenien“, war die Überschrift des Textes dazu in ihrem Blog.

Ein Land, das auch in deutschen Nachrichten wenig vorkommt und das viele mit Albanien verwechseln. Nur um das gleich klarzustellen: Zwischen Albanien und Armenien liegen fast 3.000 Kilometer.

Eine Karte, auf der Albanien und Armenien hervorgehoben sind.

© Krautreporter

Dabei ist Armenien interessant für alle, die sich für internationale Politik interessieren. Das Land hat geografisch eine so besondere Lage, dass sich dort mehrere internationale Konfliktlinien kreuzen. Benyamin Poghosyan, Geopolitik-Experte und Wissenschaftler am „Applied Research Policy Institute of Armenia“, sagte mir: „Der Südkaukasus ist ein Mikrokosmos der multilateralen Weltordnung.“ Unter Multilateralismus versteht man eine vernetzte Weltpolitik.

Ich war eine Woche in Armenien, um herauszufinden, wieso sich das Land an den Fronten zwischen Israel und Iran, Indien und Pakistan, Russland und dem Westen befindet. Wie genau, das zeige ich dir in diesem Text anhand von vier Karten.

Nach meiner Reise habe ich verstanden: Wenn die Welt ein Dorf ist, dann ist Armenien die Kreuzung in der Mitte, an der sich alle, die irgendwo hinfahren, früher oder später treffen. Armenien ist deshalb auch ein Beispiel dafür, wie vernetzt das Weltgeschehen ist – und dass sich im Kleinen an Armenien beobachten lässt, was die Weltpolitik im Großen bestimmt.

Armenien und Aserbaidschan: Der Konflikt war nie wirklich eingefroren

Eine Karte, auf der Armenien und Aserbaidschan hervorgehoben sind.

© Krautreporter

Erst einmal die wichtigsten Fakten, falls du es gerade nicht auf dem Schirm hast: Armenien liegt in einer gebirgigen Region, dem Südkaukasus, und hat ungefähr drei Millionen Einwohner:innen, also weniger als Berlin. Rund fünf Millionen Armenier:innen aber leben in der Diaspora, in Ländern wie den USA, Frankreich, Georgien, Iran oder Deutschland. Die Diaspora ist so groß, weil Armenier:innen über Jahrhunderte immer wieder verfolgt wurden. Vor allem der Genozid durch das Osmanische Reich Anfang des 20. Jahrhunderts führte zu einer Massenmigration.

Die Hauptstadt heißt Jerewan und dort ist an klaren Tagen der Berg Ararat zu sehen, das Wahrzeichen von Armenien.

Auf dem Foto sind zwei Gebäude zu sehen, im Hintergrund ein schneebedeckter Berg.

Am Ararat soll sogar die Arche Noah gestrandet sein, so die Erzählung. © Isolde Ruhdorfer

Vielleicht hast du vor einem Jahr mitbekommen, dass die Bewohner:innen von Bergkarabach vertrieben wurden. Das war ein vorläufiger Höhepunkt des langjährigen Konflikts zwischen den beiden Ländern.

Bergkarabach ist eine Gebirgsregion, um die sich Armenien und Aserbaidschan schon seit Jahrhunderten streiten. Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, war jedoch mehrheitlich von Armenier:innen bewohnt und erklärte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion für unabhängig. Anfang der 1990er Jahre brach ein Krieg aus, bei dem mehrere zehntausend Menschen starben.

1994 handelten die Kriegsparteien einen Waffenstillstand aus und Bergkarabach reihte sich ein in die Liste „eingefrorener Konflikte“ auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Der Konflikt war aber nie wirklich eingefroren, sondern schwelte immer weiter.

2020 griff Aserbaidschan an und eroberte große Teile des Gebiets Bergkarabach. Das gilt als der erste Krieg, der mithilfe von Drohnen entschieden wurde. 2023 rückten aserbaidschanische Truppen erneut vor und nahmen das gesamte Gebiet ein. Die knapp 100.000 Bewohner:innen von Bergkarabach flohen nach Armenien, aus Angst vor den aserbaidschanischen Soldaten. Ob sie jemals zurückkehren können, ist noch immer unklar.

Warum sollte dich das interessieren? Zwei Dinge: Erstens ist es ziemlich wahrscheinlich, dass Aserbaidschan in den kommenden Monaten erneut Armenien angreift. Alle Expert:innen, mit denen ich gesprochen habe, rechnen mit einem Angriff. Und zweitens sind an diesem Konflikt mehrere andere Länder beteiligt, deren Konflikte auch mit Deutschland zu tun haben.

Iran und Israel: Sie haben Einfluss darauf, wer Kriege im Südkaukasus gewinnt

Eine Karte, auf der Armenien, Iran und Israel hervorgehoben sind.

© Krautreporter

Seit dem 7. Oktober 2023 ist der Nahe Osten Dauerthema in den Nachrichten, auch in Deutschland. „Gewaltspirale“ und „Flächenbrand“ sind Schlagworte, die fast schon zu Floskeln geworden sind. Was dabei aber oft untergeht: dass dieser „Flächenbrand“ nicht nur den Nahen Osten betrifft, sondern auch den Südkaukasus.

Wenn im Nahen Osten Bomben fallen, dann ist das für Armenien nicht nur eine Meldung in den Nachrichten. Eine Überschrift der armenischen Nachrichtenseite „Civilnet“ vom 7. Oktober 2024 lautete: „Erreichen die Flammen des Nahen Ostens den Kaukasus?“ Armenien befindet sich nicht nur geographisch nah am Nahen Osten. Was dort passiert, beeinflusst die Sicherheitslage im eigenen Land. Das hängt mit der Feindschaft zwischen Israel und Iran zusammen.

Nach der sogenannten Islamischen Revolution 1979 erklärte Iran Israel zum Erzfeind. Die Vernichtung Israels ist sogar Staatsdoktrin von Iran. Seitdem bekämpfen sich die beiden Länder, mal offen, oft im Verborgenen. In diesem Kampf unterstützt Iran viele andere Akteure in der Region, sogenannte Proxys, zum Beispiel die Hisbollah im Libanon.

Was hat das mit Armenien zu tun, mal abgesehen von der geografischen Nähe? Ganz einfach: Armenien hat gute Beziehungen zu Iran – und Israel ist Partner von Aserbaidschan.

Armenien hat vier Nachbarländer, aber nur zu zweien eine offene Grenze: zu Georgien und zu Iran. Armenien bekommt Gas von Iran. Im Jahr 2022 schlossen die beiden Länder ein Abkommen, die Gasimporte zu verdoppeln. Auf der anderen Seite haben Aserbaidschan und Israel gute Verbindungen. Aserbaidschan deckt rund 40 Prozent des Erdölbedarfs von Israel. Und Israel unterstützt Aserbaidschan mit Waffen: Nach Angaben des Friedensforschungsinstitut Sipri kamen 70 Prozent der aserbaidschanischen Waffenimporte zwischen 2016 und 2020 aus Israel. Ohne israelische Waffen hätte Aserbaidschan bei dem Krieg um Bergkarabach 2020 möglicherweise nicht gewonnen.

Warum sollte dich das interessieren? Weil es zeigt, dass es keinen Sinn hat, bestimmte Konflikte und Kriege isoliert zu betrachten. Wer die Ereignisse im Nahen Osten verfolgt, sollte sich auch für Armenien interessieren. Die Feindschaft zwischen Iran und Israel hatte direkten Einfluss darauf, wie der Krieg im Jahr 2020 ausging.

Indien und Pakistan: Sie haben genau verstanden, wie strategisch wichtig der Südkaukasus ist

Eine Karte, bei der Armenien, Indien, Pakistan und die Region Kaschmir hervorgehoben sind.

© Krautreporter

Vielleicht denkst du jetzt: Was zur Hölle haben Indien und Pakistan hier zu suchen? Wie du auf der Karte sehen kannst, ist Armenien gar nicht so weit von diesen beiden Ländern entfernt.

Die beiden Nachbarländer sind seit ihrer Unabhängigkeit verfeindet. Es geht dabei vor allem um die Region Kaschmir, die von beiden Ländern für sich beansprucht wird. Beide Länder führten deshalb mehrere Kriege gegeneinander. Und, du kannst es dir schon denken, auch dieser Konflikt spiegelt sich in Armenien wider.

Indien und Pakistan kämpfen nicht nur in Kaschmir gegeneinander, sondern auch im Südkaukasus. Armenien ist inzwischen der größte Importeur von Waffen aus Indien. Insgesamt kaufte Armenien in den vergangenen Jahren Waffen im Wert von 600 Millionen Dollar. Um es noch ein bisschen komplizierter zu machen: Armenien, Indien und Iran bilden ein Dreierbündnis. Vergangenes Jahr trafen sich die Außenminister der drei Länder in der armenischen Hauptstadt Jerewan zu „politischen Konsultationen“.

Auf der anderen Seite unterstützt Pakistan Aserbaidschan ebenfalls mit Waffen. Medienberichten zufolge soll Aserbaidschan für 1,6 Milliarden Dollar Kampfflugzeuge aus Pakistan gekauft haben. So wie es ein Armenien-Indien-Iran-Bündnis gibt, arbeiten auch Aserbaidschan, Pakistan und die Türkei zusammen. Dreierbündnis gegen Dreierbündnis sozusagen.

Warum sollte dich das interessieren? Dass Indien und Pakistan involviert sind, zeigt, was für eine wichtige strategische Lage Armenien hat. Es liegt an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, schon vor Jahrtausenden führte hier die Seidenstraße entlang und wichtige Handelsrouten kreuzten sich in Armenien. Länder wie Indien und Pakistan haben genau verstanden, wie strategisch wichtig der Südkaukasus ist und versuchen deshalb, jeweils ihre Interessen dort durchzusetzen.

Russland und der Westen: Armenien befindet sich zwischen den Fronten

Eine Karte, auf der Armenien und Russland hervorgehoben sind.

© Krautreporter

Russland galt lange als Schutzmacht von Armenien, zum Beispiel wurde der Waffenstillstand 2020 von Russland vermittelt. Außerdem waren in Bergkarabach russische „Friedenstruppen“ stationiert, die ein erneutes Aufflammen der Gewalt verhindern sollten. Darauf hatten sich die Präsidenten Russlands, Armeniens und Aserbaidschans geeinigt.

Es erscheint vielleicht ein bisschen absurd, dass Russland, ein Land, das Krieg gegen die Ukraine führt, an anderer Stelle für Frieden sorgen soll. Tatsächlich ist es so, dass Russland seit dem Überfall auf die Ukraine auch im Südkaukasus keine besonders friedliche Rolle mehr hat. Bei der Vertreibung der Bewohner:innen von Bergkarabach zum Beispiel sah Russland tatenlos zu. Viele Armenier:innen fühlen sich von Russland verraten. Und auch die armenische Regierung sucht ganz offensiv nach neuen Partnerländern und versucht, weniger abhängig von Russland zu werden.

Mehr zum Thema

Warum sollte dich das interessieren? Armenien ist mitten in die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen geraten und dabei spielen auch Deutschland und die EU eine Rolle. Seit Russland Krieg gegen die Ukraine führt, hat es ein geringeres Interesse, Armenien zu unterstützen. Und seitdem will auch die EU weniger russisches Gas kaufen und hat deshalb unter anderem ausgerechnet mit Aserbaidschan ein neues Gasabkommen geschlossen.

Armenien nennt sich selbst einen Gefangenen der Geographie

Als ich in Jerewan war, sagte mir der Geopolitik-Experte Benyamin Poghosyan: „In Armenien bezeichnen wir uns häufig als Gefangene der Geographie.“ Er sei sich zwar nicht sicher, ob „Gefangener“ wirklich das richtige Wort sei, „aber unsere Geographie spielt hier definitiv eine wichtige Rolle.“

Diese Geographie führte schon vor Generationen dazu, dass die Vorfahren der Kardashians ihr Land verlassen mussten. Sie führt auch dazu, dass die Kardashians heute auf das Land ihrer Herkunft aufmerksam machen. Kurz bevor die Bewohner:innen von Bergkarabach flohen, rief Kim Kardashian den US-Präsidenten Joe Biden auf, „einen weiteren armenischen Genozid“ zu stoppen.

Armenien ist ein Gebiet, in dem schon das Überleben einer hohen Kunst gleiche, schreibt die Armenologin Tessa Hofmann in ihrem Buch „Annäherung an Armenien“. Denn, so schreibt sie weiter, „es verging kaum ein Jahrhundert ohne Krieg und Gewalt.“

Das hat sich bis heute nicht geändert.


Transparenzhinweis: Dieser Text basiert auf einer Recherchereise nach Armenien, organisiert von der Deutschen Gesellschaft e.V.

Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

In Armenien kreuzen sich globale Machtkämpfe

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App