1. Die Situation nach dem 7. Oktober
2. Das sagen pro-palästinensische Stimmen in Deutschland
3. Das sagen pro-israelische Stimmen in Deutschland
4. Das sagt die deutsche Regierung
5. Das sagen israelische, palästinensische und libanesische Autor:innen
6. Das denke ich
1. Das ist die Situation nach dem 7. Oktober 2023
- Im Jahr 2008 erklärte die Bundeskanzlerin die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson.
- Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas Israel und ermordete etwa 1.200 Menschen, seither greift Israel Gaza und nun auch den Libanon an.
- In Deutschland wird derweil um den richtigen Umgang mit Israel gerungen.
Die Frage, wie Deutschland mit Israel umgehen sollte, bewegt Deutsche schon seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. 2008 erklärte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson. Seit dem 7. Oktober 2023 und dem darauf folgenden Krieg stellt Merkels Versprechen die deutsche Regierung – und die deutsche Öffentlichkeit – vor neue Fragen.
Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas Israel, ermordete etwa 1.200 Menschen und entführte 251 weitere Personen. Seitdem bombardiert Israel Gaza, laut Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza wurden etwa 42.000 Menschen getötet. Seit einigen Wochen spitzt sich auch die Lage im Libanon zu: Von dort aus attackiert die Terrormiliz Hisbollah immer wieder Israel mit Raketen. Israel wiederum griff in den vergangenen Wochen vermehrt Ziele im Libanon an, mehr als 2.200 Menschen wurden in dem Land seit dem 8. Oktober 2023 bereits getötet.
In Deutschland wird derweil demonstriert: gegen den „Genozid in Gaza“ auf der einen und für die Freilassung der Geiseln und die „Befreiung Gazas von der Hamas“ auf der anderen Seite. Die deutsche Regierung wird einerseits für ihre Waffenlieferungen und unkritischen Worte gegenüber der israelischen Regierung kritisiert und andererseits dafür, dass sie sich zu kritisch gegenüber dem israelischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Israel äußere.
Ich habe die besten Argumente der pro-palästinensischen und pro-israelischen Stimmen in Deutschland und vor Ort zusammengetragen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich Deutschland gegenüber Israel verhalten sollte. Am Ende erkläre ich, welchen Standpunkt ich nach der Recherche zu diesem Thema habe.
2. Das sagen pro-palästinensische Stimmen in Deutschland
- Pro-palästinensische Stimmen meinen, dass Deutschlands Medien zu unkritisch seien und die Aussagen der israelischen Regierung und des Militärs übernehmen würden.
- Sie fordern, dass Deutschland keine Waffen und Dual-Use-Güter, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können, an Israel liefert.
- Einige sind der Ansicht, israel-kritische Stimmen würden zu schnell als antisemitisch eingeordnet und ein vernünftiger Diskurs so erschwert werden.
Im Spiegel schrieb Christoph Reuter, dass der Angriff Israels auf die Beobachtermission der Vereinten Nationen „Unifil“ eine Kriegserklärung an die Weltordnung sei:
„Und Deutschland? Duckt sich weg, im Großen wie im Kleinen. Nachdem ein israelischer Panzer den Wachturm des Unifil-Hauptquartiers beschossen hatte, wurde den Bundestagsabgeordneten von der Bundeswehr mitgeteilt: ‚Bei Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hisbollah‘ sei der Wachturm getroffen worden.“
„Die deutsche Politik schätzt Naturkastastrophen. Da kann man helfen und vor allem wortreich bedauern, wie schrecklich das Unabänderliche zugeschlagen habe. Doch Israels zusehends schrankenlose Kriegsführung ist kein Erdbeben, keine Flutkatastrophe. Gelegentliche Erwähnungen des humanitären Völkerrechts verpuffen wirkungslos, solange Bundeskanzler Olaf Scholz die Fortsetzung von Waffenlieferungen an Israel bekräftigt (worunter auch Motoren für die Merkava-Panzer fallen, die auf Unifil schießen) und ausschließlich Iran vor ‚gefährlicher Eskalation‘ warnt.“
Hanno Hauenstein schrieb in in der israelischen Zeitung Haaretz, dass Deutschland Palästinenser:innen und linken Israelis mehr zuhören solle:
„In der Zwischenzeit hat Deutschland seine sogenannte ‚Staatsräson‘ (eine abstrakte Politik zum Schutz Israels, die auf der Idee beruht, dass die Sicherheit des jüdischen Staates aufgrund des nationalsozialistischen Völkermordes in der Verantwortung Deutschlands liegt) interpretiert, indem es seine Waffenexporte an die am weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte Israels trotz ihres katastrophalen Verhaltens in Gaza erhöht hat, während es der neofaschistischen AfD-Partei und anderen ebenso zweifelhaften Akteuren erlaubt, sich mit seiner ‚Staatsräson‘ zu verbinden** – ein bequemes Instrument, um offensichtlichen Antisemitismus unter dem Deckmantel der unerschütterlichen Unterstützung Israels zu verbergen.“
„Wenn Deutschland seinen Ruf als Land, das aus seiner dunklen Vergangenheit gelernt hat, nicht weiter schmälern will, muss es seine Voreingenommenheit gegenüber Palästinensern und linken Israelis aufgeben und sich intensiv mit der Frage auseinandersetzen, wie historische Verantwortung im Jahr 2024 aussehen könnte.“
3. Das sagen pro-israelische Stimmen in Deutschland
- Das pro-israelische Lager betont, dass Deutschland aus historischen Gründen in Israels Schuld stehe.
- Die Stimmen beziehen sich auf das Versprechen Merkels aus dem Jahr 2008, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson sei und sagen, dass dieses Versprechen eingehalten werden müsse.
- Manche denken, Israel werde global genügend kritisiert und Deutsche sollten an Israels Seite stehen.
Kurz nach dem 7. Oktober 2023 schrieb der FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel in einem Gastbeitrag in der Zeit, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen und dass Deutschland das uneingeschränkt unterstützen sollte:
„Wenn die Existenz Israels bedroht wird, müssen wir für Israels Existenz einstehen – uneingeschränkt. Denn es ist das Land, das für Jüdinnen und Juden nach einer im Holocaust gipfelnden, uralten Verfolgungshistorie, endlich zur sicheren Heimstatt werden sollte. Deswegen gibt es kein ‚ja, aber‘, mit dem die Gräuel der Hamas relativiert werden könnten. Und es darf auch kein ‚ja, aber‘ bei der Solidarität mit Israel geben. Umso wichtiger ist es, die Beschwörung unserer Staatsräson nicht zur Floskel verkommen zu lassen.“
„Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich zu verteidigen. Dazu zählt auch eine Bodenoffensive gegen die Hamas. Das heißt für uns: Israel muss von Deutschland bekommen, was immer das Land jetzt benötigt. Der israelische Botschafter in Deutschland hat in Interviews und bei persönlichen Treffen mit deutschen Politikerinnen und Politikern vor allem darum gebeten, Israel in internationalen Gremien nicht allein zu lassen und jeder Andeutung von Antisemitismus auch dort entschieden entgegenzutreten.“
In der NZZ schrieb Marc Felix Serrao, dass Merkels Versprechen nur so lange galt, „wie es nichts kostete“:
„Angela Merkel gab dieses Versprechen als Kanzlerin 2008 in der Knesset ab, ihr Nachfolger Olaf Scholz erneuerte es wenige Tage nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 im Deutschen Bundestag. ‚Unsere aus dem Holocaust erwachsende Verantwortung macht es uns zur immerwährenden Aufgabe, für die Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen‘, sagte er. Das klang edelmütig. Doch der Ernstfall des Krieges, der auf den Überfall der islamistischen Terrormiliz Hamas folgte, brachte die ausgeweitete Staatsräson rasch an ihre praktischen Grenzen.“
„Als die Vereinten Nationen Ende Oktober des vergangenen Jahres eine Resolution verabschiedeten, die Israel zu einer Feuerpause aufforderte, ohne das größte Massaker an Juden seit der Shoah auch nur zu erwähnen, sprach dessen Außenminister Eli Cohen zu Recht von einer ‚verabscheuungswürdigen‘ Forderung. Mit Israel stimmten 14 Nationen dagegen. Deutschland gehörte nicht dazu. Das Land, das sich selbst als Verteidiger des jüdischen Staates anpreist, schlüpfte stattdessen in die Rolle eines neutralen Beobachters und enthielt sich der Stimme.“
„Für diese und andere Kritikpunkte mag es Gründe geben. Aber braucht es angesichts der massiven ‚Israelkritik‘ rund um den Globus auch noch eine deutsche Ministerin, um das Land an den Pranger zu stellen – alle paar Wochen, öffentlich und auf israelischem Boden?“
In der FAZ schrieb Jochen Buchsteiner, dass sich Deutschland nicht von Israel entfernen dürfe:
„Zur Minimalpflicht deutscher Regierungen sollte es gehören, dem strukturell bedrängten Staat der Juden diplomatisch zur Seite zu stehen. Selbst darauf konnte der sich nicht immer verlassen, wie die deutsche Enthaltung bei der UN-Resolution zu Gaza im vergangenen Jahr illustrierte. Insgesamt verfolgte Berlin seit dem 7. Oktober eine angemessene Linie: Es zeigte mehr Verständnis als andere Länder für die sicherheitspolitischen Belange Israels, ohne dessen Kriegsführung in Gaza schönzureden.“
„Deutschland hat nach dem Massenmord an den europäischen Juden nicht nur eine besondere Verantwortung für deren einzigen nationalen Zufluchtsort – es setzte nach seinem verbrecherischen Angriffskrieg auch alle Hoffnung in die Verrechtlichung internationaler Politik. Diese beiden Konsequenzen aus dem Konsens des ‚Nie wieder‘ drohen nun in Konflikt zu geraten. Die Bundesregierung könnte, zugespitzt, schon bald vor der Frage stehen, ob sie lieber Abstriche am Ideal des Multilateralismus macht oder an der Solidarität mit Israel.“
4. Das sagt die deutsche Regierung
Die deutsche Regierung schrieb auf ihrer Website, dass sie an der Seite Israels stehe und sich für eine Deeskalation einsetze:
„Auch ein Jahr nach dem Angriff der Hamas auf Israel sind die Gedanken der Bundesregierung weiter bei den festgehaltenen Geiseln und ihren Angehörigen. Mit dem Angriff hat die Hamas zugleich aber auch eine Katastrophe für das palästinensische Volk ausgelöst. Die Bundesregierung setzt sich deshalb weiterhin beharrlich für einen Waffenstillstand ein.“
„In seiner Regierungserklärung am 12. Oktober 2023 machte der Bundeskanzler klar: ‚In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels.‘ Die Geschichte Deutschlands und die aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung mache es Deutschland zur immerwährenden Aufgabe, für die Existenz und die Sicherheit Israels einzustehen. Entsprechend dieser Maxime handelt die Bundesregierung. Der Deutsche Bundestag hat am selben Tag parteiübergreifend seine Solidarität mit Israel ausgesprochen.“
Die Grünen-Abgeordnete und Menschenrechtrechtsbeauftragte der Bundesregierung Luise Amtsberg erklärte in der Interviewsendung „Jung und Naiv“, warum sie nicht von Kriegsverbrechen Israels spricht:
Der Journalist Tilo Jung wirft Luise Amtsberg und der Bundesregierung vor, dass sie Kriegsverbrechen durch Russland oder durch die Hamas klar verurteilen würde, sich bei Israel jedoch zieren würde, Kriegsverbrechen klar zu benennen. Sie sagt: „Du willst von mir hier hören, da ist ein Kriegsverbrechen begangen worden und das kann ich als Politikerin ohne die internationale Gerichtsbarkeit eben nicht tun. Was mir wichtig ist, ist, dass man es untersucht und das ist doch, was wir die ganze Zeit sagen: Ihr könnt so nicht weitermachen. Niemand hat ein Interesse daran, dass mehr Menschen sterben. Das muss ein Ende haben, deswegen setzen wir uns für einen Waffenstillstand ein.“
Er fragt sie, ob die Staatsräson Israels wichtiger sei als Menschenrechte. Sie antwortet: „Erstmal möchte ich definieren, was Staatsräson ist: Staatsräson ist der bedingungslose Zuspruch nicht gegenüber der Regierung, sondern gegenüber der Menschen in Israel. Für mich ist das nicht eine Frage, die damit endet zu sagen, ob das israelische Staatsgebiet sicher oder nicht ist. Für mich schließt sich die Frage an: Was ist mit den Palästinensern und Palästinenserinnen? […] Staatsräson steht überhaupt nicht im Widerspruch zu Menschenrechten.“
5. Das sagen israelische, palästinensische und libanesische Autor:innen
Der deutsch-israelische Soziologe Moshe Zuckermann fragte im Deutschlandfunk, ob die deutsche Politik noch ganz bei Trost sei, weil sie Israel trotz wiederholter Menschenrechtsverbrechen weiter in Schutz nimmt:
„Gefragt sei: Was muss nach der über 50-jährigen Okkupations-Barbarei, nach der Etablierung eines israelischen Apartheidregimes im Westjordanland, nach der Legitimierung eines grassierenden Alltagsrassismus, der systematischen Unterprivilegierung des arabischen Bevölkerungsteils Israels und der schier unübersehbaren Anhäufung von Vergehen Israels gegen das Menschen- und Völkerrecht noch alles passieren, damit man selbst in Deutschland aufwacht und sich fragt, was man da eigentlich unterstütze? Mit wem man sich solidarisiere? Wen man gegen jedwede Kritik in Schutz nehme und wessen Sicherheit man zur deutschen Staatsräson erhoben habe?“
„Versucht man all dies aber im heutigen Deutschland zur Sprache zu bringen und öffentlich zu erörtern, wird man sofort bezichtigt, antisemitisch beziehungsweise von ‚jüdischem Selbsthass‘ angefressen zu sein. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung entblödete sich nicht, den Antisemitismus selbst einem kritischen jüdischen israelischen Bürger anzuhängen. Man kann sich zunehmend des Gefühls nicht erwehren, dass etwas mit der anfangs vielversprechenden Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit schiefgegangen ist.“
Der deutsch-palästinensische Autor Jules El-Khatib fordert in dem Magazin „Jacobin“, dass Deutschland nicht die Narrative Israels übernehmen und die Lieferung von Waffen und Dual-Use-Gütern einstellen solle:
„Deutschland, einer der engsten Verbündeten Israels, spielt im Gazakrieg wenn überhaupt nur eine negative Rolle. Bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand ist Deutschland nicht eingebunden. Dafür liefert Deutschland seit Kriegsbeginn umso mehr Waffen.“ Die Bundesregierung fordere zwar ein Ende der Gewalt, übernehme aber Israels Narrative. „Auf internationaler Ebene isoliert sich Deutschland mit seiner extrem unkritischen Haltung immer stärker. Auch in Deutschland teilen große Teile der Bevölkerung nicht die Sichtweise der Bundesregierung. Dies geht auch mit einer zunehmenden Kritik an der einseitigen Berichterstattung in den großen deutschen Medien einher.“
„Es ist aktuell unrealistisch, dass sich die offizielle deutsche Position dahingehend verändert, dass sie israelische Verbrechen nicht länger stillschweigend hinnimmt oder die deutsche Politik auf einmal Empathie für die Menschen in Gaza artikuliert. Für die Menschen in Gaza und im gesamten Nahen Osten wäre es ein wichtiger Schritt, wenn Deutschland zumindest die Lieferung aller Waffen und Dual-Use-Güter einstellt.“
Die libanesische Journalistin Lina Mounzer schrieb im Magazin „The Markaz“ über den Westen, der Menschen wie sie entmenschliche:
„In der Welt der Beobachter hat sich alles geändert, außer dass sich nichts ändert: die Erklärungen, die gleichen, die Entschuldigungen, die Rechtfertigungen, die gleichen, das Schweigen, die Zensur, die Razzien, die gleichen, die Gleichgültigkeit der führenden Politiker der Welt, das Beharren auf dem ‚Recht Israels, sich selbst zu verteidigen‘, die volle Kraft voraus in den dritten Weltkrieg, alles das Gleiche.“
„Der Krieg geht weiter. Und weiter. Das Morden, die Gräueltaten, das Abschlachten gehen weiter. Die Rechtfertigung dafür geht weiter. Israels Recht auf Selbstverteidigung bleibt endlos, immer weiter ausgedehnt, die Worte ‚Recht‘ und ‚Selbstverteidigung‘ sind plastisch und formbar genug, um jedes Vergehen gegen die Menschlichkeit zu verschlucken, das man sich vorstellen kann, und ein paar, die man sich nicht vorstellen kann, und um sie in verdaulichen kleinen Soundbites wieder auszuspucken, die für die Abendnachrichten oder für Schlagzeilen geeignet sind, aus denen jede Erwähnung des Mörders gestrichen wird. Die westliche Presse übersetzt uns in die Sprache, in der sie sich mit unserer Eliminierung am wohlsten fühlt.“
6. Das denke ich
- Die Einteilung in pro-palästinensisch und pro-israelisch ist problematisch, weil sie suggeriert, dass man automatisch gegen die andere Seite ist, wenn man auf das Leid der einen aufmerksam macht.
- Die deutsche Regierung sollte die israelische Regierung deutlich kritisieren, wenn diese Menschenrechtsverletzungen begeht oder internationale Regeln ignoriert und UN-Posten angreift, trotz oder gerade wegen der besonderen Beziehung zwischen den beiden Staaten.
- Deutsche Medien sind nicht so unkritisch, wie die pro-palästinensische Seite behauptet.
Die Einteilung in pro-palästinensisch und pro-israelisch kann nur behelfsmäßig sein. Sie ist es auch in diesem Text. Es ist der Versuch, einen Diskurs zu ordnen, in dem es um einen Krieg geht, in dem die zwei sich gegenüberstehenden Seiten klar zu sein scheinen. So ist es in jedem Krieg. Aber mindestens in diesem ist es komplizierter, weil weniger klar ist, wer der Aggressor ist und weil weniger klar ist, wann das Leid eigentlich angefangen hat. Am 7. Oktober 2023? Mit der Vertreibung der Palästinenser:innen ab 1948?
Die Kompliziertheit, den ursprünglichen Schuldigen zu benennen, macht es gleichzeitig einfacher. Es ist nicht wie bei dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Die Kompliziertheit macht es möglich und sogar nötig, das Leid beider Seiten zu sehen.
Wenn man das Wort „pro“ benutzt, schwingt die Annahme mit, dass die Menschen, die dieser Seite zugeordnet werden, automatisch „gegen“ die andere Seite sind. Aber das ist nicht immer der Fall. Ich kann das Leid der Israelis am 7. Oktober und das Bangen um die Geiseln in Gaza anerkennen und gleichzeitig die israelische Kriegsführung kritisieren. Ich kann das Existenzrecht Israels anerkennen und trotzdem fragen, wie in oder neben einem israelischen Staat Platz für Palästinenser:innen sein kann. Ich kann nachvollziehen, dass Israel sich verteidigen muss und es trotzdem falsch finden, dass Kinder, Frauen und Männer durch israelische Bomben sterben.
Die Frage ist, in welchem Maßstab Israel sich verteidigt. Es muss möglich sein, die Kriegsführung in Frage zu stellen. Ich muss fragen können, wie weit Selbstverteidigung geht und wann ein Angriffskrieg beginnt. Die Aussage, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson ist, sollte bedeuten, kritisch zu hinterfragen, was Sicherheit bedeutet. Wie viel Sicherheit kann Israel durch Tausende weitere Tote in Gaza und im Libanon erreichen? Es sollte auch bedeuten, an die Zukunft zu denken, darüber nachzudenken, wie dieser Krieg enden kann. Und es sollte auch bedeuten zu benennen, dass Israel auch ein Aggressor in diesem Krieg ist und nicht nur Opfer.
Die Kriegsführung Israels in Frage zu stellen, fällt der deutschen Bundesregierung schwer. Sie sieht sich, wie im Statement der Bundesregierung benannt, uneingeschränkt „an der Seite Israels“. Aber diese Haltung gerät immer mehr in Konflikt mit der Anerkennung der Vereinten Nationen und dem damit einhergehenden Verständnis einer multilateralen Weltordnung, für die sich die Bundesregierung als wichtiger Pfeiler sieht. Diese Weltordnung beruht darauf, dass sie von allen getragen wird und dass, wenn ein Staat Menschenrechte nicht achtet, er dafür kritisiert wird und die Verantwortlichen vor den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag gebracht werden.
Nachdem am 14. Oktober 2024 in Gaza ein Krankenhaus getroffen wurde und Bilder von brennenden Menschen um die Welt gingen, forderte Außenministerin Annalena Baerbock einen Tag später auf ihrem Instagram-Account, dass es eine „lückenlose Aufklärung“ geben müsse. Als die israelische Armee Anfang Oktober UN-Truppen angegriffen und am 13. Oktober das Tor eines UN-Stützpunktes durchbrochen hatte, verurteilte die Bundesregierung das und der Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte, das sei „nicht hinnehmbar“. Auf ihrer Website schreibt die Bundesregierung, dass der 7. Oktober eine „Katastrophe“ für die Menschen in Gaza ausgelöst habe. Das klingt nach einer Naturkatastrophe, nach etwas, das man nicht verhindern kann. Aber das stimmt so nicht: Die Katastrophe ist von Israel so geplant und gewollt.
Deutschland hat eine spezielle Beziehung zu Israel, aber noch darüber sollte die Weltordnung stehen, der man sich verpflichtet hat, um weitere Weltkriege zu verhindern. Wenn ich das schreibe, heißt das nicht, dass Israel nicht gleichzeitig Opfer sein kann. Israel wird bedroht, Israel wurde bedroht und Israel sollte weiter existieren. Das ist das Mindeste, auf das man sich im Gespräch mit Menschen verschiedener Meinungen einigen sollte.
Die Annahme der pro-palästinensischen Seite, dass die deutschen Medien unkritisch über Israels Politik berichten würden, ist weitestgehend falsch. Oben habe ich geschrieben, „es muss möglich sein, die Kriegsführung in Frage zu stellen.“ Es ist möglich, ich tue es in diesem Text und viele vor mir haben es auch schon getan. Es ist leichter, kritische Stimmen gegenüber dem Vorgehen der israelischen Regierung zu finden, als Stimmen, die sich bedingungslos solidarisch zeigen.
Schwierig ist es jedoch, palästinensische Stimmen im deutschen Diskurs zu finden. Jüdische und jüdisch-israelische Stimmen hingegen gibt es einige.
Was auch stimmt: Es gibt eine Kluft zwischen der Meinung auf der Straße, den Medien und der Spitzenpolitik auf der anderen Seite. Deutschland ist zerrissen, was den Umgang mit Israel angeht.
Es gibt Gründe, warum beispielsweise Annalena Baerbock andere Formulierungen wählt als eine Journalistin. Es wäre vermessen, von ihr oder dem Sprecher des Auswärtigen Amtes so deutliche Worte zu erwarten wie von einem Demonstranten auf einer Pro-Palästina-Demo. Aber die Politik sollte nicht wegen ihrer eigenen Zurückhaltung die Vielfältigkeit an Stimmen auf den Straßen oder an Unis verbieten. Denn die Frage nach dem Umgang mit Israel ist nicht nur eine außenpolitische Frage. Die Antwort auf die Frage spiegelt sich auch in Deutschland wider, sie spiegelt sich in Demo-Verboten und den Schließungen von Jugendzentren wider, weil Sozialarbeiterinnen auf propalästinensischen Demos anwesend waren. Durch Verbote werden die Stimmen nur radikaler. Viel sinnvoller wäre es, Gespräche zu ermöglichen: Räume zu schaffen, in denen pro-palästinensische und pro-israelische Stimmen miteinander sprechen können und die so merken können, dass pro nicht automatisch gegen bedeutet.
Redaktion: Isolde Ruhdorfer, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger