Ilko-Sascha Kowalczuk ist zurzeit eine der prominentesten ostdeutschen Stimmen. Der Historiker ist wütend darüber, wie weichgespült die Erinnerungen vieler an die DDR sind. In seinem neuesten Buch „Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands“ schreibt er: Die AfD-Erfolge liegen auch daran, dass viele Ostdeutsche ihre Diktaturerfahrung nicht richtig aufgearbeitet haben.
Ich habe mit ihm darüber gesprochen, wie die Diktatur das Leben in der DDR prägte und was es braucht, um sich angemessen mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Die Demokratie ist eine extrem unbequeme Lebensform. Das schreiben Sie Ihrem Buch. Erklären Sie das doch bitte für Menschen, die noch nie eine andere Gesellschaftsform erlebt haben.
Alle Ostdeutschen, die heute über 45 Jahre alt sind, haben zwei Gesellschaftssysteme erlebt: die Diktatur und die liberale Demokratie. Wenn du dich an die Spielregeln hältst, die das System dir vorgibt, wird in der Diktatur fast alles für dich geregelt. Dann kannst du eine ziemlich ruhige Kugel schieben, das haben damals viele gesagt.
Wer ist Ilko-Sascha Kowalczuk?
Ilko-Sascha Kowalczuk wurde 1967 in Ost-Berlin geboren. Mit 14 Jahren weigerte er sich, Berufsoffizier zu werden – und bekam daraufhin die Macht des DDR-Staats zu spüren. Er durfte kein Abitur mehr machen. Stattdessen machte er eine Ausbildung zum Baufacharbeiter, arbeitete als Pförtner. Nach dem Mauerfall studierte er Geschichte. Er hat zahlreiche Bücher über die DDR und ihr Ende geschrieben.
Und dann kam ab 1990 die Zumutung, die lautete, du musst jetzt dein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Eine Demokratie ist unbequem, weil das liberale westliche Staats- und Gesellschaftsmodell davon ausgeht, dass man sich einbringt, dass man seine eigenen Angelegenheiten in die Hand nimmt. Sich engagiert und protestiert. Das Leben in einer Demokratie ist also eine Zumutung.
In Ihrem Buch nennen Sie das einen Freiheitsschock.
Nach dem Mauerfall wollten die meisten Ostdeutschen weiter Trabi produzieren, aber Mercedes fahren. Sie wollten also die wirtschaftlichen Vorteile der Bundesrepublik Deutschland genießen, aber ohne politische Konsequenzen. Das zeigte sich deutlich bei den ersten freien Wahlen der DDR am 18. März 1990. Bei denen ging es ausschließlich um die Frage, wie schnell die deutsche Einheit und damit die D-Mark kommen würde.
Und als dann am 1. Juli 1990 die Währungsunion eingeführt worden ist, folgte der Schock. Viele hatten gewarnt, dass es zu einem totalen Crash kommen würde. Der kam dann auch. Über Nacht brach alles zusammen. Und zwar nicht nur die Wirtschaft, die war ohnehin am Ende, sondern auch das gesamte gesellschaftliche System.
Die DDR war eine Arbeitsgesellschaft, in der unglaublich viel an die meist staatlichen Betriebe gekoppelt war: sportliche und kulturelle Einrichtungen, Gesundheitsfürsorge, Kinderbetreuung. Als die Betriebe schließen mussten, fiel auch das alles weg. Das verursachte einen Phantomschmerz, der bis heute andauert.
Ist das der Grund, warum viele Menschen der DDR hinterhertrauern?
Viele Ostdeutsche sagen, in der DDR wäre es ja viel kuscheliger und freundlicher gewesen und die Menschen wären wärmer miteinander umgegangen. Diese Aussagen sind problematisch und unreflektiert, aber lassen sich auch mit dem Transformationsschock erklären.
Die Menschen in der DDR waren auf den Zusammenbruch ihrer Gesellschaft und Wirtschaft überhaupt nicht vorbereitet. Das war eine Zeit voller traumatischer Erlebnisse. Ein Großteil der wirtschaftlichen Transformation vollzog sich in zwei Jahren. Zum Vergleich: Für das Ende der Steinkohleförderung hat sich die reiche Bundesrepublik 40 Jahre Zeit gelassen.
Nach dem Ende der DDR wurden Millionen Menschen arbeitslos, oftmals in irgendwelche sinnlosen Umschulungen gesteckt. Die Betriebe schlossen. Viele mussten umziehen, ihren Arbeitsplatz wechseln. All das war in der DDR-Sozialisation nicht vorgesehen.
Sie bemängeln auch, dass zu wenig erklärt wurde, was eine repräsentative Demokratie ausmacht.
Mit der Währungsunion kamen über Nacht auch die repräsentative Demokratie, der Rechtsstaat und so die staatlich abgesicherte Freiheit nach Ostdeutschland. Man ging in Westdeutschland davon aus, das sei alles selbsterklärend. Das wüssten die Ostler schon, die hätten ja sowieso den ganzen Tag Westfernsehen geschaut. Ein Irrglaube, dass das ausgereicht hätte.
In den Schulen und Universitäten konnte man Demokratie erklären, weil man da die Curricula ändern konnte. Aber man kam nicht ran an die Millionen Menschen, die nicht mehr in solche Einrichtungen gingen. Aufgrund der Transformation gab es damals schon viel Wut, viel Hass, viel Ablehnung. Das baute sich über die Jahre hinweg auf und wurde am Abendbrottisch weitergegeben an die jungen Generationen.
Bis heute meinen Menschen aus Zittau unter Umständen etwas anderes, wenn sie über Demokratie und Freiheit sprechen, als Menschen aus Regensburg oder aus Flensburg.
Was sind die Unterschiede?
Zum einen: Im Osten werden ganz andere Erwartungen an den Staat gerichtet. Der Kernpunkt ist die Frage, was das Individuum selbst in diesem System macht. Ist mein Erfolg im Leben etwas, was der Staat verspricht und einzuhalten hat? Oder ist das etwas, was ich in einem Prozess der Selbstaneignung auch selbst gestalten muss? Es geht also darum, ob ich erwarte, dass der Staat alles für mich regelt oder ob ich selbst für mich verantwortlich bin.
Zum anderen: Beim Thema Frieden ist in der DDR jahrzehntelang gelehrt worden, die größte Friedensbedrohung seien die USA. Die DDR dagegen sei friedlich. Das gipfelte dann in einem Spruch, den in der DDR jeder kannte und der nicht wirklich aus den Köpfen verschwunden ist: Dein Beitrag bei der Apfelernte oder beim Säubern des Scheißhauses ist dein Beitrag zur Sicherung des Friedens. Alles hatte dem Frieden zu dienen – oder schadete ihm eben.
Das zeigt sich auch, wenn man heute Sahra Wagenknecht zuhört, wie sie über Frieden redet. Wagenknecht hat Lenin und Stalin Jahrzehnte ihres Lebens offen verehrt. Und in ihrem Friedensbegriff kommen Freiheit und Demokratie überhaupt nicht vor. Hauptsache, es schweigen die Waffen. Dabei ist Frieden eben mehr als nur die Abwesenheit von Krieg.
Deshalb betone ich auch immer wieder: Die DDR war eine extrem unfriedliche Gesellschaft. Die Militarisierung zeigte sich offen im Schulunterricht. Der Tag begann mit Fahnenappellen, der Sportunterricht hatte eine militärische Komponente, in dem alles ablief wie auf einem Kasernenhof. In den letzten Jahren der DDR war „Wehrkunde“ Pflichtfach in der Schule. In der DDR herrschte Tag für Tag Krieg gegen die eigene Gesellschaft.
Das müssen Sie erklären.
Mit der Mauer wurde eine ganze Gesellschaft präventiv in Haft genommen. Die Mauern und die Minenfelder davor haben sich ja nicht gegen Eindringlinge gerichtet, sondern gegen die DDR-Menschen.
Die DDR war ein großes Freiluftgefängnis. Und wie in jedem Arbeitslager gab es in der DDR unterschiedliche Arten von Bestrafung. Es gab Leute, die wurden erschossen und andere wurden belohnt für ihr Mitmachen, weil sie das System stabilisierten. Die wurden privilegiert.
Wie zeigte sich das?
Es gab keine Bibliothek, in der ich die Westliteratur, die ich haben wollte, lesen konnte. Aber es gab große extra Magazine, in denen die verbotene Literatur lag. An die kamen nur Leute, die dafür extra Ausweise hatten.
In der Schule gab es nur eine Grundhaltung, wie man das kommunistische Manifest zu interpretieren hat. Alles wurde nach Marxismus-Leninismus ausgerichtet, und zwar nicht nur in der Schule, sondern auch an der Universität, an allen Fachschulen, in der Armee, im Justizapparat, überall. Wer gegen diese Ausrichtung war und offen Stellung nahm, wurde sanktioniert und unter Umständen sogar eingesperrt.
Es ging darum, die Individualität der Menschen zu brechen, gerade der jungen Leute. Alle sollten sich ins große Kollektiv einfügen. Deswegen hatte das System auch immer ein großes Problem mit subkulturellen Erscheinungen, die aus dem Westen herüberschwappten.
Sie nennen die DDR eine Erziehungsdiktatur.
Da war zum einen die permanente Erziehung zum Hass. Hass bedeutete, dass die Welt in zwei Lager aufgeteilt war: in das gute und das schlechte. So hat man es den Kindern schon im Kindergarten beigebracht. Sobald sie ein bisschen älter wurden, wurde aus der guten die sozialistische und aus der schlechten die kapitalistische Welt.
Die kapitalistische Welt war eine stinkende, faulende, verelendende Welt. Das sind jetzt keine Erfindungen von mir, so wurde das definiert. Alle Menschen dort lebten angeblich in einem permanenten Verelendungsprozess. Im Sozialismus dagegen schien die Sonne unentwegt.
Aber sind diese Erzählungen wirklich noch in den Köpfen der Menschen, 30 Jahre nach dem Mauerfall?
Ja. Solche Dinge wirken nach, ob das kommunistische Propaganda ist oder imperiale Fantasien oder faschistische Ideologien. Die kann man nur bekämpfen, indem man sich aktiv damit auseinandersetzt und aktiv etwas dagegenstellt. Von allein funktioniert das nicht.
Zwar hat sich auf der staatlichen Ebene viel geändert und es gab auch auf der gesellschaftlichen Ebene viele Angebote. Aber die besten Museen und Gedenkeinrichtungen nützen nichts, wenn die Leute das nicht auch zum Anlass nehmen, sich individuell zu hinterfragen und ihr eigenes Denk- und Wertesystem auf den Prüfstand zu stellen.
Und das haben die allermeisten Menschen nicht gemacht.
Was hätte es denn Ihrer Meinung nach gebraucht?
Erziehungsmodelle wie in der DDR lassen sich nicht passiv überwinden. Man muss sich aktiv dagegenstellen und damit auseinandersetzen.
Um ein Bild zu verwenden: Nehmen wir mal an, ich hätte in der Schule gesagt bekommen, es gebe nur Birken. Und jetzt muss ich feststellen, dass es doch nicht nur Birken gibt. Ich will mir das aus dem Kopf schlagen. Ich muss mir aneignen, dass es auch Ahorn, Kastanien, Eichen und sogar Laub- und Kiefernbäume gibt. Und wenn ich meine Nase aus dem Fenster strecke, stelle ich fest, dass es noch ganz andere Bäume gibt. Dass es auch ganz andere Wälder gibt als die, die ich um mich herum habe. Die Welt ist also viel bunter, als ich es gelernt habe, dazu muss man aber bereit sein, das zur Kenntnis zu nehmen.
Und weil viele Ostdeutsche die Diktaturerfahrung nie aufgearbeitet haben, wählen sie jetzt AfD?
Nicht nur. Es gibt regionale und globale Gründe für das Erstarken von Rechtsextremisten. Denn das sehen wir ja nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Frankreich, den USA, Ungarn, Polen, Italien, Finnland, Schweden oder Brasilien. Viele Menschen sind durch die Globalisierung und die damit einhergehenden dramatischen Veränderungen der vergangenen Jahre verunsichert. Das bekommt mit der Digitalisierung nochmal einen Schub.
Aus diesen Veränderungen ergeben sich hochkomplexe Fragen und Populisten geben auf die eine einfache Antwort: Seht her, die Welt ist scheiße. Und Ausländer, Zugewanderte sind schuld. Das funktioniert in Ostdeutschland besonders gut, weil es dort erstens kaum People of Colour gibt und zweitens das eben beschriebene dualistische Weltbild aus der DDR in vielen Köpfen noch verbreitet ist.
Wenn man die Wahlergebnisse für die AfD und das BSW zusammenrechnet, streben heute 50 Prozent der Wähler im Osten staatsautoritäre Verhältnisse an. Und wer sich so an Putin anlehnt, der hat den Sinn der Freiheitsrevolution von 1989/90, freundlich ausgedrückt, nicht verstanden. Denn der wünscht sich Verhältnisse herbei, die mit Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar sind.
Redaktion: Lea Schönborn, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Florian Walter und Iris Hochberger