Eine doppelläufige Waffe bei der der Lauf aufgeklappt ist. Rauch kommt aus den Rohren.

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Politik und Macht

Deutschland braucht keine schärferen Waffengesetze

Denn das Problem bei Waffen in Deutschland liegt ganz woanders. Das zeigt ausgerechnet der Vergleich mit Autos.

Profilbild von Tristan Oetker-Kast
Reporter

Am 11. März 2009 betrat ein ehemaliger Schüler die Albertville-Realschule in Winnenden und erschoss dort drei Lehrerinnen, zehn Schüler:innen und zwei weitere Menschen. Damals war ich keine neun Jahre alt. Auch wenn ich noch nicht wirklich begriff, was ein Amoklauf war, bekam ich die Folgen mit. Freunde meiner Eltern, die damals häufig auf mich aufpassten, verbannten alle Spielzeugwaffen. Einem Freund von mir nahmen die Eltern das Videospiel „Worms“ weg, bei dem Comic-Würmer einander abschießen. Es war zwar ab sechs Jahren freigegeben, aber eben ein „Ballerspiel“.

Auch jetzt noch, mehr als 15 Jahre später, ist Winnenden im Gedächtnis vieler Menschen präsent. Nach diesem Amoklauf war das deutsche Waffenrecht deutlich verschärft worden. Doch trotzdem kam es seither immer wieder zu Amokläufen, zuletzt 2023 in Hamburg.

Oft vollzieht sich nach Amokläufen und Attentaten das gleiche Ritual. Politiker:innen treten vor die Presse und verkünden, das ohnehin schon scharfe Waffenrecht noch weiter zu verschärfen. Das war nach dem Anschlag in Solingen so, nach dem vereitelten Putschversuch von Prinz Reuß 2022 und nach dem Amoklauf in Hamburg 2023. Teilweise sollen dann auch Waffen verboten werden, die bis dahin in Deutschland noch kein großes Problem waren.

Dabei gehen diese Debatten nicht nur am eigentlichen Problem vorbei, sie verschärfen es sogar. Auch wenn das viele nicht hören wollen: Das Waffengesetz ist nicht zu lasch. Stattdessen fällt es den Behörden schwer, diese Gesetze umzusetzen. Das wird deutlich, wenn man sie mit einem anderen potenziell tödlichen Gegenstand vergleicht: Autos. Denn würden wir Autos genauso verwalten wie Waffen, bräche der Verkehr zusammen.

Fehler beim Autofahren kosten dich schnell den Führerschein. Waffen verbleiben oft in den falschen Händen

Rote Ampel überfahren? Zack, Führerschein weg. Illegales Autorennen? Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre. Mit Todesfolge? Sogar bis zu zehn. Um diese Regeln durchzusetzen, sind eine Vielzahl von Polizeibeamt:innen rund um die Uhr im Einsatz. Sie führen regelmäßig Verkehrskontrollen durch, prüfen, ob Verkehrsteilnehmer:innen unter Drogen- oder Alkoholeinfluss fahren und ziehen illegal modifizierte Fahrzeuge sicher.

Das Waffenrecht ist nochmal strenger. Wer eine illegale Waffe besitzt, kann für mehrere Jahre im Gefängnis landen. Anders als beim Führerschein, den man nur einmal macht, müssen Behörden Waffenbesitzer:innen alle drei Jahre auf ihre Zuverlässigkeit überprüfen. Hat jemand in der Zwischenzeit eine Straftat begangen, darf er keine Waffe mehr besitzen. Aber die Kontrollen dafür funktionieren weniger gut.

So werden mit legalen Waffen immer wieder Verbrechen begangen. Auch in Fällen, in denen die Behörden vor der Tat hätten handeln können. Das war so beim rassistischen Anschlag in Hanau, beim Amoklauf bei den Zeugen Jehovas in Hamburg im vergangenen Jahr und bei einem Stellvertreterfemizid am 1. März 2024, bei dem ein Bundeswehrsoldat mehrere Menschen erschoss, die seiner Ex-Frau nahestanden, darunter ein dreijähriges Kind. Als Rache dafür, dass sie ihn verlassen hatte.

In allen drei Fällen hätten Behörden den Tätern die Waffen vorher entziehen dürfen. Doch sie nutzten die Mittel nicht, die das Gesetz zur Verfügung stellt. Im Fall von Hanau fanden die waffenrechtlichen Kontrollen des Täters laut der Frankfurter Rundschau offenbar nur auf dem Papier statt. Sonst wäre aufgefallen, dass er seine Waffen in München und nicht daheim in Hessen aufbewahrt hatte. Die Hamburger Waffenbehörde erhielt laut NDR im Vorfeld des Amoklaufes Warnungen vor den Ansichten des Täters. Und im Fall des Bundeswehrsoldaten aus Niedersachsen kamen Polizisten sogar zu ihm nach Hause und erklärten, dass sie den Soldaten beobachteten. Er war vorher wegen Bedrohung angezeigt worden.

Die lokalen Waffenbehörden sind bei Gefahr im Verzug dafür zuständig, Pistolen und Gewehre einzuziehen. Eigentlich. Wie häufig das vorkommt, ist nicht bekannt. Dazu erheben die Behörden keine Daten, wie mir das Nationale Waffenregister selbst mitteilte. Ein weiteres Problem ist, dass die Mitarbeiter:innen der Waffenbehörden der Landkreise sich oft nur schlecht mit dem Waffenrecht auskennen. Und das, obwohl sie diejenigen sind, die es umsetzen sollen. Das hat mehrere Gründe: Erstens brauchen sie für diese Arbeit keinen Sachkundenachweis. Im Gegensatz zu Waffenbesitzer:innen, die diesen für eine Genehmigung vorlegen müssen. Zweitens bearbeiten die Beamt:innen neben Waffen häufig auch noch andere Verwaltungsangelegenheiten. Wie zum Beispiel die Registrierung von Heilpraktiker:innen. Das verriet ein Sachbearbeiter einer Waffenbehörde den Journalist:innen der Uni-Leipzig.

Das ist zwar nicht überall so. In Berlin etwa ist die Waffenbehörde zum Beispiel direkt in die Polizei integriert. Und natürlich gibt es Beamt:innen, die sich im Laufe ihrer Karriere ein großes Hintergrundwissen angeeignet haben oder selbst Schütz:innen sind. Aber das ist eben keine Voraussetzung für diesen Job. Dadurch wird das Waffenrecht in der Praxis nicht überall in Deutschland gleich angewendet.

Wir wissen, wie viele Autos es in Deutschland gibt, aber die Zahl der registrierten Waffen ist unklar.

Ein Grund, dass die Debatten oft verkorkst verlaufen, wie man Waffen besser regulieren kann: Uns fehlen die Daten, selbst bei den einfachsten Fragen.

Wie viele Autos es in Deutschland gibt, kann jede:r mit ein paar Klicks herausfinden: 49,1 Millionen registrierte PKWs. Das steht auf der Internetseite des Kraftfahrt-Bundesamtes. Dort finden sich alle erdenklichen Informationen über den Fahrzeugbestand in Deutschland. Bei Waffen ist die Situation komplizierter. Zwar gibt es ein nationales Waffenregister, doch es gibt nicht ansatzweise dieselbe Menge an Daten wie bei Autos. Und online nachschauen kann man sie sowieso nicht. Auf meine Anfrage dazu, wie viele Schusswaffen in Deutschland registriert sind, antwortete das nationale Waffenregister: 5.011.353.

Leicht zu bekommen war diese Zahl nicht. Auf der Webseite des nationalen Waffenregisters steht keine Mailadresse für Presseanfragen. Am Ende musste ich über die Pressestelle des Bundesverwaltungsamtes gehen und zwei Versuche unternehmen.

Die Zahl von etwas über fünf Millionen Schusswaffen hat mich aufhorchen lassen, denn es ist nicht die einzige Zahl, die sich zu der Anzahl registrierter Schusswaffen findet.

Masterstudent:innen der Uni Leipzig haben 2021 für eine Podcastserie jede einzelne lokale Waffenbehörde in Deutschland angefragt. Das Ziel war, Zahlen zum Waffenbestand zu erhalten. Insgesamt kamen sie dabei auf 5,4 Millionen Stück.

Es gab also vor drei Jahren entweder 400.000 Schusswaffen mehr als heute. Oder das Nationale Waffenregister weiß von potenziell Hunderttausenden Schusswaffen nichts, die bei den lokalen Behörden registriert sind. Welche Antwort stimmt, weiß niemand.

Matthias Klotz ist der Vorsitzende beim Bundesverband Zivile Legalwaffen, einer Interessenvertretung unter anderem für Jäger, und Sportschützen. Laut ihm ist es deshalb wichtig, dass in den einzelnen Ämtern die Digitalisierung vorangetrieben werde. Denn wenn die Gesetze immer komplizierter werden, aber gleichzeitig noch viel über den Papierweg abläuft, lähmt das laut Klotz die Umsetzung der bestehenden Gesetze.

Eine illegale Waffe zu bekommen, ohne aufzufallen ist viel einfacher, als ohne Zulassung herumzufahren.

Eine nicht registrierte Pistole lässt sich gut verbergen. Auch Autos kann man mit gefälschten Nummernschildern oder illegalen Modifikationen ausstatten, wie einem zu lauten Auspuff. Aber sie fahren dann offen auf der Straße herum. Man kann sie nicht in einem Koffer oder der Jackentasche verstecken. Und so gibt es auch viel mehr nicht-registrierte Waffen als Autos.

Die Schätzungen für illegale Waffen in Deutschland schwanken zwischen zehn und 20 Millionen. Genau lässt sich das allerdings unmöglich sagen. Aber selbst wenn wir von der niedrigeren Zahl ausgehen, dann wären immer noch zwei von drei Waffen illegal. Ein Straßenverkehr in Deutschland, bei dem zwei von drei Autos ohne Zulassung herumfahren würden, ist dagegen undenkbar.

Die meisten heute illegalen Waffen waren bis 1976 in Deutschland frei verkäuflich. Manche kommen als Relikte der Jugoslawienkriege aus dem Balkan. Und wieder andere lassen sich in anderen EU-Ländern bis heute einfach kaufen, etwa Repetiergewehre in Österreich. Mit so einer Waffe verübte 2022 ein Student an der Uni Heidelberg einen Amoklauf. Dabei tötete er eine Studentin und verletzte drei weitere Student:innen leicht. Die Geschichte zeigt: Diese Art von Waffen sind zwar nicht ganz so gefährlich wie andere, da sie sperriger sind und vor allem ungeübte Schütz:innen sich mit der Bedienung schwertun, aber das macht sie nicht grundsätzlich weniger tödlich.

Der Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Benjamin Jendro sagt: Polizist:innen sind bei ihrer Arbeit weit überwiegend mit illegalen Waffen konfrontiert.

Um Straftaten mit Autos zu verhindern, wird regelmäßig nicht nur mit mehr Vorschriften, sondern auch mit mehr Personal und verstärkten Kontrollen reagiert. Die Bundesländer Hessen und Hamburg haben beispielsweise eigene Dienstgruppen, die spezifisch nach illegal getunten Autos suchen. Mit Erfolg. Laut Berichten der Hamburger Morgenpost stellte die Dienstgruppe Autoposer 2023 446 technisch manipulierte Fahrzeuge sicher. Fünfzig Prozent mehr als im Jahr zuvor, obwohl weniger Fahrzeuge kontrolliert wurden. In der Debatte um das Waffenrecht tauchen illegale Waffen nicht auf. Auf politischer Ebene gibt es kaum Initiativen, um etwas gegen illegalen Waffenbesitz zu unternehmen.

Auf dem Papier sind die Waffengesetze also scharf. Aber sie werden oft nicht durchgesetzt. Es gibt zwar mehr Gesetze, aber nicht mehr Geld und mehr Personal. Und beim eigentlichen Problem, den illegalen Waffen, passiert viel zu wenig.

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Deutschland hat definitiv ein Problem mit Waffen. Doch eine Lösung ist bisher nicht in greifbarer Nähe. Was muss sich also ändern? Die letzten geplanten Gesetzesänderungen kommen erst noch. Matthias Klotz stört, dass unter ihnen auch gesetzestreue Waffenbesitzer:innen leiden. Und er bezweifelt, dass sie das Land sicherer machen. Er fordert, dass sich die Bundesregierung auf einen Austausch zum Thema einlässt. Bei einem runden Tisch sollen Expert:innen und Politiker:innen fachkundig über die Probleme bei der Waffenkriminalität diskutieren und so zu sinnvollen Lösungen kommen. Bisher ist das Innenministerium auf diese Forderung nicht eingegangen.

Eine andere Möglichkeit wäre ein europäisches Waffenrecht. Bisher regelt das jeder Staat nämlich eigenständig. Dass es zu einer Einigung auf EU-Ebene kommt, ist aber unwahrscheinlich, denn die Waffengesetze unterscheiden sich stark und die Probleme sind nicht überall die gleichen.

Was aber trotzdem helfen könnte: Wenn nach dem nächsten Anschlag Politiker:innen mal tief durchatmen. Und sich dann darum kümmern, dass die Behörden genug Geld und Personal haben. Dann könnten sie nämlich das umsetzen, was beim letzten Anschlag beschlossen wurde.


Redaktion: Lea Schönborn und Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Deutschland braucht keine schärferen Waffengesetze

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