Illustration: Eine Frau sitzt vor einem Computer, im Hintergrund ist die Weltkugel zu sehen.

KI-Generiert: Midjourney | NASA

Politik und Macht

Warum der sowjetische Computer scheiterte

Die Gründe zeigen, wie man in einem Wettstreit der Systeme als Sieger hervorgeht. Auch heute noch.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Vor 200 Jahren erfand ein russischer Statistiker ein Google für Globuli.

Semjon Korsakow entwickelte während einer Cholera-Epidemie die „Ideenmaschine“, mit deren Hilfe man systematisch nach dem passenden Präparat bei bestimmten Symptomen suchen konnte. Diese Erfindung war die frühe Version einer Suchmaschine. Zwar lässt sich Cholera nicht mit Globuli bekämpfen. Doch mit seiner Ideenmaschine baute Korsakow ein Gerät, das an einen ersten Computer erinnert.

Heute liegt ein Nachbau dieser Maschine in einem kleinen Raum im Zentrum Berlins. Treppenstufen führen hinab in den „medienarchäologischen Fundus“ der Humboldt-Universität. Die Regale an den Wänden sind voll mit alten Gegenständen: Scheinwerfer, Schreibmaschinen, Glühbirnen, Radios, Telefone, Metronome, Plattenspieler – und Computer.

Wolfgang Ernst zieht sich einen weißen Kittel über seinen weiten grauen Anzug. Ein bisschen, weil die alten Geräte tatsächlich manchmal auf die Klamotten schmieren, ein bisschen aber auch für die Show. Er ist Professor für Medientheorien und forschte schon zu Computern, als manche der Gegenstände hinter ihm in dem Regal noch als zeitgemäß galten. „Die Vergangenheit ist nicht interessant aus nostalgischen Gründen oder einfach aus Neugierde, sondern weil sie ständig Alternativen bereithält“, sagt Ernst.

Was wäre zum Beispiel, wenn die Sowjetunion den Kalten Krieg gewonnen hätte? Das ist nicht klar. Sicher ist aber, was das Land gebraucht hätte, um diesen Krieg zu gewinnen: moderne Chips und Computer. Die Voraussetzungen dafür waren gut. Denn knapp 120 Jahre nach Korsakows Ideenmaschine schickte die Sowjetunion den Satelliten „Sputnik 1“ ins All, eine Sensation. Das galt als Beweis, dass das kommunistische System dem kapitalistischen überlegen war. Doch schon in den 1970er Jahren kopierte die Sowjetunion lediglich amerikanische Computer. Ernst sagt dazu: „Das ist für mich das Ende der Sowjetunion.“

Wie konnte das passieren? Das ist nicht nur für Computernerds relevant. Die Geschichte des sowjetischen Computers zeigt, welche Fehler ein Land in einem technologischen Wettstreit machen kann. Und sie gibt Hinweise, wer als Gewinner aus dem heutigen Machtkampf zwischen den USA und China hervorgehen könnte.

Es hängt nicht von einzelnen Spitzen-Modellen ab, ob sich eine Technologie durchsetzt

Mehrere Personen sitzen an einem Computer, der einen ganzen Raum füllt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg experimentierte der Ingenieur Sergej Lebedew in Kyjiw am ersten Computer. Dieser war so groß wie ein Zimmer. Lebedew nannte ihn „Kleine elektronische Rechenmaschine“. Aus: Boris Malinovskij, Store Eternally, Kyjiw 2007, S. 38

Die 1950er und 1960er Jahre waren eine Zeit der Erfolge in der Raumfahrt, der Satellit Sputnik 1 war nur der Anfang. Der erste Hund im All, der erste Mann im All, die erste Frau im All, die erste unbemannte Mondlandung. Eine Reihe von Premieren, die alle nur dank extrem guter Bordcomputer möglich waren.

Wieso benutzen wir also heute nicht alle sowjetische Computermodelle?

Das hat sich auch Felix Herrmann gefragt, Historiker und Informatiker an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Für seine Doktorarbeit zu dem Thema wühlte er sich durch Archiv-Dokumente der Sowjetunion, der DDR und des US-Geheimdienstes CIA. „In einzelnen Projekten von nationaler Tragweite hat die Sowjetunion gute Computer gebaut, die dann aber nur in ganz kleinen Stückzahlen erschienen sind“, sagt Herrmann. „Sie scheiterte daran, das in die Massenproduktion zu bringen.“

Das zeigen zum Beispiel die Zahlen des Modells „Minsk-32“. Exakt 2.889 Stück dieses Computers wurden zwischen 1968 und 1975 in der Stadt Minsk, der heutigen Hauptstadt von Belarus, hergestellt. Zum Vergleich mit den USA: Das erfolgreichste IBM-Modell, also der erste „Persönliche Computer“, wurde in den 1960er Jahren mehr als 10.000-mal gebaut.

„Es ist das eine, Hightech zu bauen, mit der man einen Menschen ins All befördert und das andere, eine ganze Gesellschaft zu computerisieren“, sagt Herrmann. Doch es war genau das, die „Computerisierung“ der ganzen Gesellschaft, die dem Computer in den USA zum Durchbruch verhalf.

Die Sowjetunion betrachtete den Computer als eine Rechenmaschine, die ganz bestimmte Aufgaben lösen sollte. Die USA dagegen ließen früh zu, dass Computer im zivilen Bereich genutzt werden konnten. So wurde der Computer zu einer Universalmaschine, die Musik abspielen, Videos zeigen und die Formatierung von Word-Dokumenten durcheinander hauen konnte.

Die große Fehlentscheidung der Sowjetunion

Ende der 1960er Jahre trafen mehrere Expertenräte in der Sowjetunion eine Entscheidung, die letztendlich ihrer eigenen Computerindustrie den Todesstoß versetzte. Sie beschlossen, die amerikanischen Modelle nachzubauen. (Du erfährst noch mehr dazu, wenn du auf das Plus am Ende des Absatzes klickst.)

„Das hatte sogar ein paar Vorteile“, sagt Historiker und Informatiker Herrmann. Zum Beispiel Standardisierung, dass also unterschiedliche Computerhersteller untereinander Daten austauschen konnten. Wer Technologie klaut und nachbaut, spart natürlich auch Geld.

Demgegenüber stehen aber auch viele Nachteile. Die Taktik „Klauen und Nachbauen“ heißt neutraler ausgedrückt „Reverse Engineering“. Das ist zeitraubend, weil die sowjetischen Ingenieur:innen ja immer erst auf die amerikanischen Modelle warten mussten, um sie dann mit einigen Jahren Verzögerung auseinandernehmen und nachbauen zu können.

Die Entscheidungsträger:innen verzockten sich bei dieser Strategie. „Die Sowjetunion hat sich das letztendlich ein bisschen so gedacht wie bei Lada“, sagt Herrmann. Das war ein Industrieprojekt der 1960er Jahre, bei dem die Sowjetunion ein ganzes Automobilwerk aus dem Boden stampfte und unter anderem das Modell Lada herstellte, nach dem Vorbild des italienischen Fiat 124. „Das hat aber mit den Computern nicht so funktioniert, weil da die Entwicklung viel schneller voranschreitet“, sagt Herrmann.

Das Kopieren der amerikanischen Computer verdammte die Sowjetunion dazu, niemals Gewinnerin in diesem Kampf gegen die USA sein zu können.

Ein weiteres Beispiel für nachgebaute Computer ist übrigens die „Elektronika MS 1504“, der erste und einzige sowjetische Laptop und gleichzeitig Nachbau eines japanischen Modells. Alex, der Host des Youtube-Kanals „Chornobyl Family“ hat einen aufgetrieben und ein Video darüber gemacht. Am Anfang sagt er über den Laptop: „Meiner Ansicht nach sieht er ziemlich cool aus, gute Qualität, abgerundete Ecken aus Plastik. Er macht nicht den Eindruck eines sowjetischen Produkts.“ Dann schließt er mühsam den quietschenden, knarzenden Deckel, schaut in die Kamera und sagt: „Tut er doch.“

https://www.youtube.com/watch?v=QiDWrXhzDIU

Was das mit China zu tun hat

Der damalige Wettlauf der Computer erinnert stark an den heutigen Technologiewettstreit zwischen China und den USA. Die beiden Supermächte ringen um Macht und Einfluss, und eine der wichtigsten Waffen in diesem Kampf sind Mikrochips.

Das weiß China, das sich mit Investitionen in Milliardenhöhe darum bemüht, eine eigene Halbleiterindustrie aufzubauen. Das wissen auch die USA, die mit Technologiesanktionen genau das verhindern wollen.

China ist abhängig von ausländischen Chipfirmen, das Land gibt jedes Jahr mehr Geld für den Import von Chips aus als für Öl. Nach Angaben des US-Verbands Semiconductor Industry Association (SIA) investiert China jedes Jahr rund 17 Milliarden US-Dollar, um diese Abhängigkeit zu verringern. Das Land macht vor allem Fortschritte in der sogenannten Backendfertigung, also dem hinteren Teil der Halbleiterlieferkette, bei der die Chips zusammenmontiert werden. Wo China allerdings große Probleme hat, das ist bei der fortschrittlichen, „cutting-edge“ Halbleiter-Technologie. Und das liegt auch an den Sanktionen der USA.

Am 7. Oktober 2022 erließen die USA ein Sanktionspaket, wie es noch nie zuvor existiert hatte. Ziel: Chinas technologischen Stand einfrieren, vor allem im Bereich Künstliche Intelligenz. China soll keine hochwertigen Chips kaufen oder selbst herstellen können.

Seit Jahrzehnten hängt Computerpower damit zusammen, welche Macht ein Land auch wirtschaftlich oder militärisch hat. „Aus CIA-Analysen der 70er und 80er Jahre geht hervor, dass es in den USA ein sehr starkes Bewusstsein für den eigenen technologischen Vorsprung gab“, sagt Herrmann. Man habe alles dafür tun wollen, dass die Sowjetunion diesen Vorsprung niemals aufhole.

Ein Schlüsselinstrument waren Sanktionen – damals wie heute. Im Kalten Krieg verhinderte die „CoCom“, ein Ausschuss für Exportkontrollen, dass Länder des Ostblocks westliche Technologien bekamen. Heute wollen die USA mit Techsanktionen verhindern, dass China Zugang zu hochwertigen Halbleitern bekommt. ASML, eine niederländische Firma, die Hightechmaschinen für die Chipproduktion herstellt, darf ihre neueren Maschinen nicht nach China verkaufen.

Damals trugen Technologiesanktionen dazu bei, die Sowjetunion um Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückzuwerfen. In einem Spiegel-Artikel von 1986 heißt es, die Sowjets lägen bei Computern um zehn Jahre zurück. Die neue Generation von immer kleineren und leistungsfähigeren Chips sei dort noch nicht im Einsatz. „Wir bauen“, so witzelten die Sowjets angeblich, „die größten Häuser, die größten Flugzeuge und die größten Chips.“

Einen signifikanten Unterschied zu damals gibt es jedoch: Die Sowjetunion hatte grundlegende Probleme, etwa in der Bauindustrie. Eine Computerfabrik scheiterte dann nicht nur an westlichen Sanktionen, sondern auch daran, dass die eigenen Bauunternehmen sie einfach nicht fertigbauten. Es ging sogar so weit, dass es nicht genug Pappe für Lochkarten gab. „Diese Problematik sehe ich in China nicht, weil man dort industriell in der Breite unglaublich gut aufgestellt ist“, sagt Herrmann. „Da können wir noch gespannt sein, wo das hinführt.“

Was passiert, wenn der „westliche Technikimperialismus“ endet

Als Medienhistoriker versucht der Berliner Forscher Wolfgang Ernst nicht vorauszusagen, welches Land in zehn Jahren die besseren Mikrochips baut. Er denkt in viel größeren Zeiträumen und überlegt sich, welche bahnbrechende Technologie den Computer ablösen könnte. Klingt etwas hoch gegriffen? „Auch die Entdeckung elektromagnetischer Wellen war jahrtausendelang im Westen undenkbar“, sagt Ernst. Doch das habe dann das mechanische Denken ersetzt. „Medienhistorisch bin ich auf solche Ereignisse vorbereitet.“

Im Moment herrsche „westlicher Imperialismus in Bezug auf das technologische Denken“. Das bedeutet zum Beispiel, dass so gut wie alle Computer heutzutage mit der Von-Neumann-Architektur gebaut werden, benannt nach der Arbeit des österreich-ungarischen Mathematikers aus den 1940er Jahren. „Interessant wird es, wenn ein Computer entwickelt wird, der das asiatische kulturelle Denken und die Technologie in einer Weise miteinander verkoppelt, wie es der Westen bisher nicht kannte“, sagt Ernst. Das sei, ähnlich wie in der frühen Sowjetunion und vor dem Hintergrund der jahrtausendealten Technikkultur Asiens, gut möglich. „Das wird die eigentliche Herausforderung.“

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Konkretes Beispiel: Die klassischen Computer rechnen mit Null und Eins, ein Bit nach dem anderen. Sie kennen also nur „Ja“ oder „Nein“, aber kein „Vielleicht“. Computer sind damit um einiges verbindlicher als Großstadtsingles auf Datingplattformen. „Null und Eins“ ist eine technische Frage, aber auch eine philosophische, weil die Denkweise von den Menschen, die Computer konstruieren, die Bauweise beeinflusst. Während des Kalten Krieges befürchteten der amerikanische Geheimdienst und westeuropäische Denker:innen, die marxistische Denkweise könnte auf technischer Ebene der westlichen überlegen sein.

Heute ist das nur schwer vorstellbar. Aber die Geschichte des sowjetischen Computers, voller Abzweigungen, Sackgassen und verpasster Möglichkeiten, ist das beste Beispiel dafür, dass sich Erfindungen überraschend durchsetzen, aber auch überraschend scheitern können. In den 1950er Jahren wirkte es noch so, als hätten die Sowjetunion und ihre Technik gewonnen. Nur wenige Jahrzehnte später war klar, dass sich die sowjetischen Computer doch nicht durchsetzten.

Es reicht nicht, ein besonders ausgefeiltes technisches Gerät zu bauen. Mindestens genauso wichtig ist es, diese Geräte auch günstig und in Massen herzustellen. Das galt damals bei den ersten Computern und bis heute bei der Produktion von hochwertigen Halbleitern. Sanktionen waren und sind in diesem Wettstreit eine wichtige Waffe. Sie alleine entscheiden aber nicht darüber, wer aus einem technologischen Wettstreit als Sieger hervorgeht. Denn die Geschichte lehrt uns, dass technologische Veränderungen schnell und unerwartet kommen können. Und genauso schnell können sie wieder verschwinden.


Hinweis 9. Oktober 2024: In einer vorherigen Version hieß es, zwischen 1986 und 1975 seien 2.889 Computer des Modells „Minsk-32“ vom Band gelaufen. Dabei ist ein Zahlendreher passiert, richtig ist: zwischen 1968 und 1975.

Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Warum der sowjetische Computer scheiterte

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