Collage: Wagenknecht, Höcke, Kretschmer und Ramelow auf dem Platz vor dem historischen Rathaus in Erfurt.

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Politik und Macht

Die AfD wird regieren, ohne an der Regierung beteiligt zu sein

Das ist nur eine der Folgen aus den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Sieben Thesen, was diese Wahlen für Deutschland bedeuten.

Profilbild von Benjamin Hindrichs, Isolde Ruhdorfer, Rebecca Kelber und Rico Grimm

Diese Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen werden Deutschland verändern, darin sind sich viele einig. Aber wie genau? Dazu haben wir sieben Thesen aufgestellt. Es geht darum, wieso eine AfD ohne Björn Höcke noch erfolgreicher werden könnte, was Westdeutsche jetzt tun können, um die ostdeutsche Zivilgesellschaft zu stärken und wie sich die Demokratie gerade verändert.

👉 1. Die AfD wird in Thüringen regieren, ohne an der Regierung beteiligt zu sein
👉 2. Ohne Höcke kann die AfD mehr als 40 Prozent bekommen
👉 3. Endlich interessieren sich viele Ostdeutsche für Politik
👉 4. Auch Westdeutsche sollten die ostdeutsche Zivilgesellschaft unterstützen
👉 5. Das BSW hat die ersten Bewährungsproben bestanden. Das heißt: Im nächsten Bundestag werden zwei populistische Parteien sitzen
👉 6. Die CDU hat die Brandmauer gegen die AfD rhetorisch schon längst eingerissen
👉 7. Guck Westdeutschland, das ist deine Zukunft!

1. Die AfD wird in Thüringen regieren, ohne an der Regierung beteiligt zu sein

Von Benjamin Hindrichs

Die AfD wird in Thüringen nicht Teil einer Regierungskoalition sein, aber sie wird die Politik im Land über Jahre bestimmen. Denn sie hat es geschafft, im Erfurter Landtag mehr als ein Drittel aller Sitze zu bekommen, die sogenannte Sperrminorität. Das heißt: Alle Entscheidungen, die der Landtag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit treffen muss, kann die AfD blockieren oder die anderen Parteien zur Zusammenarbeit zwingen.

Ab sofort kann die AfD zum Beispiel mitbestimmen, wer in Thüringen in die Parlamentarische Kontrollkommission kommt. Das Gremium ist für die Kontrolle des Thüringer Verfassungsschutzes zuständig. Also für jene Behörde, die die AfD als „gesichert rechtsextrem“ einstuft und beobachtet.

Hinzu kommt: In Thüringen braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit, um die Landesverfassung zu ändern oder den Landtag aufzulösen. Auch Verfassungsrichter:innen werden mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt. Dasselbe Prinzip gilt für die Wahl von Mitgliedern des Richterwahlausschusses. Der ist für die Besetzung von Richterstellen im Land zuständig – und in Thüringen gehen in den nächsten Jahren 415 Richter:innen in Rente. Auch die Amtszeiten aller neun Mitglieder des Thüringer Verfassungsgerichts laufen in der kommenden Legislaturperiode ab. Für die Wahl ihrer Nachfolger:innen braucht es die Stimmen der AfD.

Die Partei wird das nutzen. Entweder, um das Verfassungsgericht zu blockieren und als arbeitsunfähig darzustellen. Oder, um ihre Zustimmung zu bestimmten Kandidierenden an Bedingungen zu knüpfen: An ein härteres Vorgehen gegen Geflüchtete oder weniger Geld für Demokratieförderung zum Beispiel. Dann kann sie sich selbst als kompromissbereit inszenieren und ihre eigenen Projekte verfolgen, ohne an der Regierung beteiligt zu sein.

2. Ohne Höcke kann die AfD mehr als 40 Prozent bekommen

Von Benjamin Hindrichs und Rico Grimm

Björn Höcke wäre gerne Volkstribun, ist es aber nicht. Denn er führt die stärkste Partei seines Landes an, hat Medienpräsenz wie kein Zweiter, aber schafft es zum dritten Mal hintereinander nicht, ein Direktmandat zu gewinnen.

Für Höcke könnte deswegen der Abend seines größten Triumphs zum Beginn seines politischen Niedergangs werden. Die AfD wird erkennen, dass der Mann eine Belastung ist, kein Zugpferd.

Schon beim TV-Duell mit Mario Voigt (CDU) im Mai 2024 verplapperte und verrannte sich Höcke. Kurz darauf verurteilten ihn zwei Gerichte wegen der Verwendung einer SA-Parole. Dann gab es Streit um die AfD-Landesliste in Thüringen.

Der AfD-Politiker Karlheinz Frosch trat aus der Partei aus, nachdem Höcke in seinem Wahlkreis eine alternative Kandidierenden-Liste präsentierte – und bei der Wahl gegen Froschs Liste verlor. Frosch sagte der Zeit: „Ohne Höcke wäre die AfD noch viel stärker.“

An den radikalen Positionen der AfD würde das nichts ändern – aber am Wählerpotenzial der Partei. Das hat drei Gründe.

  • Knapp 33 Prozent der Thüringer:innen haben die AfD gewählt. Aber Umfragen zeigen: Nur 16 Prozent wollen Björn Höcke als Ministerpräsidenten. Mit einem anderen Spitzenkandidaten wäre wahrscheinlich deutlich mehr drin.
  • Ohne Höcke kann die Partei sich anderen Wähler-Gruppen als bürgerlich-konservativ präsentieren: In Thüringen und Sachsen haben jeweils über 50 Prozent der CDU-Wähler:innen angegeben, sie hätten die Partei nur deshalb gewählt, damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekommt. Im Umkehrschluss bedeutet das: Folgt die AfD ihren Partei-Vorbildern in Frankreich oder Italien und präsentiert sich gemäßigter, birgt das auch im bürgerlichen Milieu viel Potenzial. Aber dafür muss die Partei Höcke loswerden.
  • Die einzige Partei, die der AfD Stimmen abjagen konnte, ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Doch das Bündnis steht vor einem Dilemma: Sie muss wahrscheinlich regieren – und gleichzeitig weiterhin als Erregungs-Unternehmen funktionieren, das mit radikaler Oppositionsrhetorik den Diskurs bestimmt. Denn der Erfolg des BSW beruht bislang auf einer Person: Sahra Wagenknecht. Sie sät Wut und Empörung. Ernten könnte in Zukunft die AfD. Besonders dann, wenn sie mit Höcke ihr mediales Schreckensgesicht verliert.

Ohne Höcke kann die AfD bei der nächsten Wahl auf mehr als 40 Prozent kommen.

3. Endlich interessieren sich viele Ostdeutsche für Politik

Von Rico Grimm

Es gibt wirklich viele Gründe, an den Ergebnissen dieser Landtagswahl zu verzweifeln. Ich möchte dir aber, als gebürtiger Thüringer, noch eine andere Sichtweise anbieten: Die Thüringer und Sachsen ringen gemeinsam um ihre politische Zukunft – endlich.

In Thüringen gingen 73,6 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl. 73,6 Prozent! So viele Menschen waren es seit 1994 nicht mehr. Und Sachsen stellte mit 74,4 Prozent einen neuen Rekord auf.

Seit dem Mauerfall gab es keine Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, die so umkämpft waren. Die Bürger dieser beiden Länder übernehmen Verantwortung für ihr Schicksal. Der Unterschied zu den Wahlen der späten 1990er Jahre ist eklatant. Damals gewannen mit Bernhard Vogel und Kurt Biedenkopf quasi im Autopilot West-Männer aus der CDU, die die kleine, keimende Zivilgesellschaft mit einem paternalistischen Mehltau erstickten. Und niemand interessierte sich wirklich für Politik.

Demokratie lässt sich nicht in Sonntagsreden leben, sondern nur in der politischen Auseinandersetzung. Und erst, wenn es etwas zu verlieren oder zu gewinnen gibt, machen die Menschen mit. Ein Beispiel: Dass es der Linken-Kandidat Nam Duy Nguyen mit seinem Haustürwahlkampf in Leipzig tatsächlich geschafft hat, in den Landtag zu kommen – was ist das anderes als der Beweis, dass diese Wahlen nicht nur das Ende von etwas sind, sondern vielleicht auch der Anfang von etwas?

4. Auch Westdeutsche sollten die ostdeutsche Zivilgesellschaft unterstützen

Von Rebecca Kelber

70 Prozent der Ostdeutschen haben nicht die AfD gewählt. Für diese Menschen wird die Stimmung vor Ort von Jahr zu Jahr bedrohlicher. Die Zahl der rechtsextremen Straftaten nimmt seit Jahren zu, Wahlhelfer:innen und Politiker:innen demokratischer Parteien müssen mit Faustschlägen oder angezündeten Wohnhäusern rechnen.

Wir müssen nicht denen zuhören, die eine in Teilen gesichert rechtsextreme Partei wählen. Sondern denen, die sich vor Ort für die Demokratie einsetzen. In einer solchen Situation sollte es eine gesamtdeutsche Aufgabe sein, die ostdeutsche Zivilgesellschaft zu unterstützen. Es ist zum Beispiel wichtig, dass es auf dem Land Frauenhäuser oder Jugendzentren ohne Nazis gibt. Dafür helfen etwa Spenden.

Noch besser wäre es, wenn westdeutsche Großstädter:innen den Leuten in sächsischen oder thüringischen Nazihochburgen zeigen, dass sie nicht allein sind. Der ostdeutsche Rechtsextremismus-Experte David Begrich rät dazu, zivilgesellschaftliche Projekte zu kontaktieren, die einen ansprechen. Er sagt: „Es ist jetzt wichtig, den Betroffenen zuzuhören.“ Ein Filmemacher aus Köln könnte zum Beispiel ein kleines Filmkollektiv aus Bautzen fragen, welche Art von Unterstützung sie sich wünschen – und ihnen dann geben, was sie brauchen.

5. Das BSW hat die ersten Bewährungsproben bestanden. Das heißt: Im nächsten Bundestag werden zwei populistische Parteien sitzen

Von Isolde Ruhdorfer

In beiden Landtagen ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) drittstärkste Partei geworden, weit vor der Linken, den Grünen oder der SPD. Die Bundestagswahlen sind in ziemlich genau einem Jahr und das BSW wird es voraussichtlich ins Parlament schaffen. Das zeigen diese Ergebnisse.

Zwar schneidet das BSW laut Wahlumfragen in anderen Bundesländern schlechter ab als jetzt in Thüringen und Sachsen. Allerdings stehen gerade auch keine Wahlen an und die Partei hat beispielsweise in Baden-Württemberg oder Hessen noch nicht zum Wahlkampf mobilisiert.

Bisher konnten alle anderen Parteien das BSW herunterspielen und von einer „Blackbox“ reden. Jetzt, wo das BSW solche Wahlerfolge feiert und vielleicht sogar in die Landesregierungen kommt, kann die Partei bald niemand mehr ignorieren. Wir werden ganz konkret sehen, wie das BSW Politik macht und sich in den Parlamenten verhält.

Eines ist jetzt schon klar: Mit dem BSW wird eine weitere populistische Partei in Deutschland relevant. Das sind die meisten nicht unbedingt gewöhnt, Populismus war in Deutschland bisher vor allem Rechtspopulismus. (Hier habe ich beschrieben, was das BSW ausmacht, und warum es so erfolgreich ist.)

Und das werden alle anderen im Rest von Deutschland im Wahlkampf für die Bundestagswahlen spüren. Populistische Rhetorik wird zunehmen, auch weil andere Politiker:innen auf das BSW reagieren werden. Die Themen des BSW – niedrige Renten oder Waffenlieferungen an die Ukraine – werden den Wahlkampf bestimmen. Und der beginnt jetzt.

6. Die CDU hat die Brandmauer gegen die AfD rhetorisch schon längst eingerissen

Von Rebecca Kelber

In einem Punkt schienen sich nach den Wahlen alle einig zu sein: Migration ist ein ernstzunehmendes Problem, die Terrorgefahr in Deutschland zu groß und deshalb muss mehr abgeschoben werden. Spitzenpolitiker:innen der CDU wie Parteichef Friedrich Merz haben schon vor dem Anschlag in Solingen die Rhetorik der AfD kopiert.

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Was für Folgen das hat, macht ein Blick nach Sachsen deutlich: Der aktuelle und wohl zukünftige sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) forderte im Frühjahr 2024 eine Obergrenze von 60.000 Geflüchteten pro Jahr und wollte das Grundgesetz ändern. Kretschmer schien mehr beschäftigt damit, die Grünen zu attackieren als sich an der rechtsextremen Partei abzuarbeiten, die nur knapp einen Prozentpunkt weniger Stimmen bekommen hat als seine CDU.

Auch wenn er jetzt betont, die Brandmauer werde halten: Mit seiner Strategie macht es Kretschmer der AfD leicht. Wenn führende CDU-Politiker:innen die Rhetorik der AfD kopieren, wird es langfristig schwer, zu erklären, warum man nicht gemeinsam mit ihr Politik machen will. Dabei haben knapp die Hälfte der CDU-Wähler:innen in Sachsen nur für Kretschmers Partei gestimmt, um den Einfluss der AfD zu verringern. Hier zeigt sich ein Wählerwille, an dem sich Kretschmer orientieren könnte.

7. Guck Westdeutschland, das ist deine Zukunft!

Von Rico Grimm

Vielleicht wird die AfD in Westdeutschland kein Drittel der Stimmen holen, wie in Thüringen. Gut möglich, dass auch das BSW im Westen nicht zweistellig wird. Aber was dazu geführt hat, dass diese beiden populistischen, anti-freiheitlichen Parteien so einen Erfolg hatten, das lässt sich auch heute schon im Westen beobachten.

Nach dem Mauerfall konnten die (West-)Parteien im Osten kaum Fuß fassen. Sie waren Scheinriesen; die Wahlergebnisse für CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen entsprachen nicht ihrer Präsenz vor Ort. Einzige Ausnahme: die SED-Nachfolgepartei PDS, die später die westdeutsche WASG übernahm und sich ab da Linkspartei nannte. Sie hatte das Vermögen und die Strukturen der DDR-Diktaturpartei geerbt und konnte sich als Kümmererpartei auch in der weniger dicht besiedelten Fläche präsentieren.

Ja, es gibt spezifisch ostdeutsche Gründe, warum die Populisten in Sachsen und Thüringen so stark geworden sind. Aber dass Parteien an Präsenz, Vertrauen und Integrationskraft verlieren – das geschieht auch in Westdeutschland. Alle großen demokratischen Parteien verlieren dort seit Jahrzehnten Mitglieder, einzige Ausnahme sind die Grünen. Die SPD hat heute 60 Prozent weniger Mitglieder als 1990, die Zahl der CDU-Mitglieder hat sich seitdem halbiert. Das Vertrauen in die alten Parteien sinkt. In den Kommunen treten immer öfter Wählerbündnisse oder parteilose Kandidaten an, die sich nicht den großen Parteien anschließen wollen.

Die deutsche Republik allerdings ist eine Parteiendemokratie.

Das Grundgesetz gewährt Parteien Privilegien. Denn sie sind in der Theorie die zentralen Orte politischer Willensbildung in Deutschland. Was passiert, wenn sie das in der Praxis nicht mehr sind, zeigen diese Landtagswahlen im Osten – und bald auch die Wahlen im Westen.

Die deutsche Parteiendemokratie wird sich neu erfinden müssen.


Schlussredaktion: Lars Lindauer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Die AfD wird regieren, ohne an der Regierung beteiligt zu sein

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